Hohes sprachliches Niveau!
ZitronenDie Drachs leben am Rande eines winzig kleinen Dorfes, in dem jeder jeden kennt und gleichzeitig keiner den anderen. August wächst hier umgeben von duftenden Apfelbäumen in scheinbarer Idylle auf, unter ...
Die Drachs leben am Rande eines winzig kleinen Dorfes, in dem jeder jeden kennt und gleichzeitig keiner den anderen. August wächst hier umgeben von duftenden Apfelbäumen in scheinbarer Idylle auf, unter der harten Hand des Vaters heran, die öfter ausrutscht als ermuntert, und mit einer vom Leben um die verdiente Aufmerksamkeit betrogenen Mutter, die lieber tröstet als beschützt. Liebe und Zuneigung sind hier untrennbar miteinander verbunden, das eine gibt es nicht ohne das andere, ja, beides bedingt sich sogar, und so drehen die drei sich in ihrem grausamen Mobile der Gewalt bis der Vater eines Tages einfach beschließt auszubrechen und verschwindet. Mutter und Sohn, ihres perfiden Puppenspielers beraubt, doch unfähig den ihnen zugeteilten Rollen zu entkommen, taumeln umeinander und steuern unaufhaltsam einer so ungeheuerlichen wie zwangsläufigen Tat entgegen.
Valerie Fritschs „Zitronen“ ist ein Buch, das ich Wort für Wort zitieren möchte und das ist paradoxerweise sowohl die Stärke des Textes, als auch seine Schwäche. Schmal ist der Roman und dabei extrem gehaltvoll, jedes Wort sitzt und jeder Satz lässt ein fertiges Bild in meinem Kopf entstehen. Das ist ohne Frage eine literarische Leistung, aber auch anstrengend. Ich mag es, mich in eine Geschichte hineinfallen zu lassen, ohne mich dabei konzentrieren zu müssen; die Sätze langsam in sich selbst, ihre Bedeutung hineinwachsen zu sehen. Die blumig-poetische Sprache scheint den bedrohlichen Inhalt hier fast zu erdrücken, sich über diesen zu erheben, statt ihn zu (unter)stützen. So blieben die Figuren für mich durchweg auf Distanz, nicht ganz greifbar. Nichtsdestotrotz eine große Empfehlung für alle, die sich auf das Thema „Münchhausen by proxy“ einlassen mögen und Lust auf gute Literatur hohen sprachlichen Niveaus haben!