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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein kleiner Schatz für Liebhaber der Seefahrt und ihrer Geschichte

Erebus
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Erebus, auch Erebos, in der griechischen Mythologie der Gott der Unterwelt, die Personifikation der Finsternis. Ein Name, der Macht und Stärke vermitteln sollte, und kein schlechteres Omen, keine selbsterfüllendere ...

Erebus, auch Erebos, in der griechischen Mythologie der Gott der Unterwelt, die Personifikation der Finsternis. Ein Name, der Macht und Stärke vermitteln sollte, und kein schlechteres Omen, keine selbsterfüllendere Prophezeiung hätte bedeuten können. Die HMS Erebus verschwand im Jahre 1848 spurlos im ewigen Eis der kanadischen Arktis, 2014 wurde sie wiedergefunden, ein Fund, der eines der größten Traumata der Forschungsgeschichte wieder aufgerissen hat, dem größten Rätsel der Weltmeere elementare Puzzlestücke hinzufügen konnte. Sir Michael Palin, britischer Tausendsassa und einigen vielleicht aus der legendären Monty Python-Crew bekannt, erzählt in diesem Buch die bewegte Geschichte des Schiffes von ihrem Stapellauf 1826 als Bombarde nach den Napoleonischen und Britisch-Amerikanischen Kriegen über ihre Zeit als Patrouillenschiff während des relativen Friedens bis hin zu ihrer zentralen Rolle bei den großen Expeditionen des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach neuen, strategischen Seewegen und Errungenschaften im Bereich des Magnetismus. Mit großer Hingabe und Liebe zum erzählerischen Detail lässt Palin den Geist dieser Zeit auferstehen, beschwört die Fahrten der Erebus in den Polarmeeren herauf, erweckt die Menschen zum Leben, die ihren Weg gekreuzt und ihr eigenes Schicksal untrennbar mit dem Ihren verknüpft haben.

Großartig recherchiert, spannend, informativ und mit den kleinen Zeichnungen und Farbfotos ohne Frage ein kleiner Schatz für Liebhaber der Seefahrt und ihrer Geschichte. Als besonders gelungen empfand ich persönlich die Beschreibungen der zum Teil noch unberührten Natur, erstmals von menschlichem Auge erblickter Vulkane und zu einer unendlich scheinenden Mauer aufgetürmter Eismassen; eine tiefe Ehrfurcht überkam mich beim Lesen angesichts solcher Gewalten. Die detaillierten Beschreibungen der Gepflogenheiten und Lebensumstände damals gerieten mir an mancher Stelle etwas zu ausufernd, die vielen Namen etwas verwirrend, was meinem Lesevergnügen aber nur wenig Abbruch tat - hab dann einfach Abschnitte quergelesen.

Aus dem Englischen von Rudolf Mast.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine Geschichte, die unter die Haut geht, von Macht und Autorität und des Missbrauch beidens

Lächeln
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„Deinem Lächeln kann ich einfach nicht widerstehen, Victor Forde.“

Victor ist Mitte 50 und lebt seit kurzem allein in Dublin; der Sohn ist aus dem Haus, die Liebesbeziehung im Eimer. Die Trennung von ...

„Deinem Lächeln kann ich einfach nicht widerstehen, Victor Forde.“

Victor ist Mitte 50 und lebt seit kurzem allein in Dublin; der Sohn ist aus dem Haus, die Liebesbeziehung im Eimer. Die Trennung von seiner Lebenspartnerin bedrückt ihn sehr, gleichzeitig versucht er, sein Leben auf die Reihe zu bekommen, endlich wieder etwas Sinnvolles zu schreiben, Bekanntschaften im Pub nebenan zu schließen, in dem er bald Stammgast ist. Hier begegnet er eines Abends auch Edward Fitzpatrick, Eddie, einem unangenehmen, leicht aufdringlichen Mann, der behauptet ein ehemaliger Schulkamerad Victors zu sein und auch Details aus der gemeinsamen Zeit bei den Christian Brothers nennen kann - diesem jedoch gänzlich unbekannt vorkommt. Victor beginnt die zufälligen Treffen mit Eddie und dessen Gesellschaft gleichermaßen zu fürchten wie herbeizusehnen, sehr ambivalente Gefühle löst die stark physische Präsenz des Mannes in ihm aus und bringt ihn dazu, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, die Bilder von früher nach diesem Gesicht abzusuchen, Erinnerungen abzugleichen.

„Lächeln“ ist eine Geschichte, die unter die Haut geht, eine Geschichte von Macht und Autorität und des Missbrauch beidens, die nicht neu ist, und doch nicht oft genug erzählt werden kann. Roddy Doyle hat einen sehr eigenen, authentischen Erzählton, der auch in der starken Übersetzung von Sabine Längsfeld bestehen bleibt; etwas distanziert, fast lakonisch, ohne viel Aufhebens und Tamtam. Es ist kein lautes Buch, keine bildgewaltige Geschichte, wenn auch mit einem überraschenden Twist am Ende. Manches bleibt im Ungewissen und zwischen den Zeilen, verliert dadurch aber nicht an Eindringlichkeit, im Gegenteil. Er schwirrt mir auch nach Tagen noch im Kopf herum, dieser Mann, dessen Schmerz ein Kollektiver ist, dessen Geschichte stellvertretend für die Vieler steht.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Über einen diffusen Verlust und dessen Auswirkungen

Das andere Mädchen
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„Sie erzählt, dass sie und ihr Mann vor mir eine andere Tochter gehabt hätten, die vor dem Krieg in Lillebonne an Diphtherie gestorben sei. […] Am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als die ...

„Sie erzählt, dass sie und ihr Mann vor mir eine andere Tochter gehabt hätten, die vor dem Krieg in Lillebonne an Diphtherie gestorben sei. […] Am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als die da. Die da, das bin ich.“ S.15

Dieser Schlüsselmoment ereignet sich im Sommer 1950, Annie ist zehn Jahre alt und wird Zeugin eines beiläufigen Gespräches zwischen ihrer Mutter und einer Bekannten, in dem diese Aussage fällt, die alles verändern und doch in die Sprachlosigkeit entgleiten und damit jeden direkten Vergleich, eine Ikonisierung der Verstorbenen verhindern wird. Dieses Geheimnis wird bis zum Tod der Eltern nie offiziell gelüftet, erst danach gibt es vereinzelt Gespräche mit Verwandten, ein paar Fotos; den Ansatz eines verschwommenen Bildes in Annies Kopf. Sie hat ihre Schwester ersetzt und das nicht einmal besonders gut. Ernaux schreibt über die große Schwester, von der sie fast nichts weiß, lange gar nichts wissen wollte, diesen Mythos einer Schwester, den sie bewusst auf Distanz hielt, und schreibt doch nicht über sie. Sie schreibt über sich selbst als Nachrückende, eine unsichtbare Lücke Ausfüllende, das ewig andere Mädchen. Nicht die trauernden Eltern, die diese meistens gut zu verbergen wussten, nicht die verstorbene Schwester, nein, sie selbst, Annie, ist im Fokus, ist die Leidtragende der Geschichte, und dieses Selbstverständnis, möglicherweise gewachsen aus dem ungeheuerlichen Urteil der Mutter, „sie war viel lieber als die da“, mutet bisweilen seltsam verzerrt an, offenbart sich in dieser Folgerung:

„Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe, das ist ein großer Unterschied.“ S.33

„Das andere Mädchen“ thematisiert einen diffusen Verlust und dessen Auswirkungen, ist ein offener Brief und innerer Monolog, ein der Dringlichkeit am Erforschen der eigenen Wurzeln und Wunden entsprungener Essay, den ich gerne gelesen habe, wenngleich sich die große Begeisterung, die ich im Frühjahr bei der Lektüre von „Erinnerung eines Mädchens“ verspürt hatte, nicht gänzlich einzustellen vermochte. Aus dem Französischen von Sonja Finck.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Literatur zum Träumen

Ihr glücklichen Augen
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Mit Elke Heidenreichs Reisegeschichten klingt für mich gerade das Jahr aus und das fühlt sich sehr passend an. Es ist tatsächlich meine erste literarische Begegnung mit Frau Heidenreich und die Frau ist ...

Mit Elke Heidenreichs Reisegeschichten klingt für mich gerade das Jahr aus und das fühlt sich sehr passend an. Es ist tatsächlich meine erste literarische Begegnung mit Frau Heidenreich und die Frau ist mir auf Anhieb sympathisch, ihre saloppe Art gefällt mir, tut mir gut, einfach auch mal Fünfe gerade sein lassen. Gemeinsamkeiten zwischen uns beiden, unseren Lebensstilen und Reisen entdecke ich erstmal keine. Ich lebe ein sehr häusliches Leben, bin wenig gereist und noch seltener alleine, einfach durch Orte gestreift, ziellos und neugierig. Die Vorstellung gefällt mir und doch schreckt mich der Massentourismus enorm ab, die Vorstellung, mich durch Menschenmassen zu schieben, für die Einheimischen nicht von diesem unattraktiven Pulk an Schaulustigen zu unterscheiden zu sein. Heidenreichs ohne Frage sehr privilegierte Reiseerfahrungen lesen sich kurzweilig und unterhaltsam, manch eine Geschichte überblättere ich, weil ich mit Opern wirklich so gar nichts am Hut habe, andere sauge ich komplett auf und notiere mir direkt einen neuen Sehnsuchtsort. Ob ich diesen jemals wirklich sehen werde? Ich weiß es nicht, aber das macht mir gar nichts aus, solange es Literatur gibt, die mich zum Träumen bringen, weit fort und direkt in mein Innerstes reisen lassen kann.

„Was ist es, das mich Stadtkind auf solchen Reisen so glücklich macht? Ich erlebe ja im Grunde nichts - ich wandere, schaue, sitze im Pub, trinke, rede, ich bin Teil von irgendetwas, das so viel größer ist als ich. Geschichte, Leben, Tod, Jahrhunderte - alles ist eins, alles ist wichtig und zugleich völlig unbedeutend. Man spürt, was für eine grandiose Einheit Leben und Tod sind und dass der Tod nicht irgendwann kommt, sondern immer schon da ist, unserm Leben einen Sinn gibt und kein schauerliches Gerippe ist, sondern, wie in Hugo von Hofmannsthals Gedicht, » ein großer Gott der Seele«. Ich spüre auf solchen Reisen: meine Seele. Und wie schön es ist, dankbar alt zu werden.!“ S. 112

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Familie mit allem, was dazu gehört

Zur See
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First things first - ich bewundere Dörte Hansen, bin ihren Geschichten hoffnungslos verfallen. In ihren atmosphärischen Settings fühle ich mich sofort heimisch, mache es mir gemütlich und wappne mich innerlich ...

First things first - ich bewundere Dörte Hansen, bin ihren Geschichten hoffnungslos verfallen. In ihren atmosphärischen Settings fühle ich mich sofort heimisch, mache es mir gemütlich und wappne mich innerlich dagegen, mein Herz an schroffe, wortkarge Figuren zu verlieren, wieder einmal. Doch was ist es genau, das mich so einfängt? Ich habe den rauen Charakter des Nordens im Verdacht, der all ihre Romane prägt, und diese tief empfundene Sympathie für Menschen, die bleiben statt zu gehen, die den Veränderungen trotzen. In mir steckt nordisches Blut (der DNA-Test bescheinigt mir knapp 60% skandinavische Herkunft, jawoll, da haben wir’s), die See zieht mich an, doch besonders rührt mich diese in jedem von Hansens Romanen skizzierte im Wandel begriffene Welt, die ihren Tribut fordert, Menschen hervorbringt, die nicht schnell genug hinterherkommen, deren Geerbtes stärker an ihnen zerrt als der Fortschritt. Verlierer in einer Zeit, die stetes Wachstum fordert.

Hansens neuer Roman führt uns an die Nordseeküste, zu Familie Sander, die auf schlappe 300 Jahre Seefahrtsgeschichte zurückblicken kann; in Mutter Hannes bilderbuchschönes Inselhäuschen, zur einsam gelegenen Vogelwarte, dem neuen Domizil von Vater Jens, den keine zehn Pferde mehr zurück aufs Wasser kriegen, familiäres Erbe hin oder her, und zu den drei erwachsenen Kindern, die ihre eigenen Päckchen zu tragen haben. Ihrer aller Leben ist fest verbunden mit der See, wird von deren Gunst bestimmt, dem Spiel der Gezeiten ausgesetzt. Nein, es ist kein sehr fröhliches Buch, das kann man nicht sagen, aber es ist auch nicht leicht, das Leben, und das darf auch mal gesagt werden. Und irgendwie geht es ja doch weiter und die Hoffnung läuft leise nebenher, einmal einen Schritt voraus, einmal einen hinterher. Um alte Liebe geht es, um Schuld und Einsamkeit, um Familie, mit allem was dazu gehört. Ich hätte mir ein paar Seiten zusätzlich und den Figuren noch mehr Tiefe, Griffigkeit gewünscht, aber es ist schon ein feiner Roman, den Frau Hansen uns hier wieder geschenkt hat.

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