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Veröffentlicht am 26.04.2024

Welch ein Glück!

Oh, William!
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Ich habe drei Kinder, die ich unfassbar toll finde und über die ich oft und gerne mit meinem Mann spreche. Versuche ich, mir eine Vorstellung vom Alleinerziehendsein zu machen, ist es das, was mir am Schlimmsten ...

Ich habe drei Kinder, die ich unfassbar toll finde und über die ich oft und gerne mit meinem Mann spreche. Versuche ich, mir eine Vorstellung vom Alleinerziehendsein zu machen, ist es das, was mir am Schlimmsten vorkommt, am Traurigsten - der Verlust ebendieser gemeinsamen Schwärmerei, des Alltags mit dem einzigen Menschen auf dieser Welt, der meine Kinder genauso sieht wie ich, subjektiv, durch den Schleier der Liebe. Elizabeth Strouts neuer Roman hat mir nun ein
bisschen den Kopf gewaschen und mich davon überzeugt, dass eine Verbundenheit über die Ehe hinaus möglich ist, Fürsorge für die Kinder und Achtung füreinander an der Distanz vielleicht sogar wachsen, eine neue Art von
Beziehung entstehen kann - weniger belastet, leichter, vertraut und doch unabhängig

„Oh, William!“ ist das Portrait einer gescheiterten Ehe und einer innnigen Freundschaft. Der im Titel schon ironisch mitschwingende, einmal zärtliche, einmal spöttische Blick auf einen Mann, der eine Ehefrau nach der anderen mit seiner Treulosigkeit vertrieben hat, und sich nun, im Alter von 70 Jahren und von seiner dritten Frau verlassen, endlich seinen Ängsten stellt, einen Roadtrip in die Vergangenheit wagt - mit seiner ersten Frau Lucy an seiner Seite. William ist der titelgebende Held und doch ist es Lucy Barton, bereits aus zwei anderen Romanen Strouts bekannt, deren innere Haltung und Stärke mir in Erinnerung bleiben wird, die nicht an einem Platz dieser Welt verortet ist, sondern einfach in sich selbst ruht.

Strouts mehrfach ausgezeichnetes Werk zeichnet sich durch diesen ganz besonderen, empathischen Blick auf die Menschen und ihr Leben aus, den tiefen Wunsch, sie zu verstehen und denen eine Stimme zu geben, die keine haben. Egal ob fest mit beiden Beinen im Leben stehend wie Olive Kitteridge, oder entwurzelt wie Lucy Barton - ihre Figuren sind real, so sehr aus dem Leben gegriffen, dass die Autorin selbst keine Kontrolle über sie hat. Sie erscheinen ihr nach Lust und Laune und lassen sich nicht abschütteln, wie die Autorin letzte Woche sehr charmant in Hamburg zum Besten gab, bis sie sie auf Papier gebannt hat. Welch ein Glück!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Bedrohung von innen und außen

Am Ende der Polarnacht
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Das Ehepaar Eivor und Finn verschlägt es 1957 mit seinen beiden kleinen Töchtern von Oslo nach Longyearbyen auf Spitzbergen, wo Finn die Arztpraxis übernimmt. Hier am Polarkreis, im nördlichsten Ort der ...

Das Ehepaar Eivor und Finn verschlägt es 1957 mit seinen beiden kleinen Töchtern von Oslo nach Longyearbyen auf Spitzbergen, wo Finn die Arztpraxis übernimmt. Hier am Polarkreis, im nördlichsten Ort der Welt, erfüllt sich damit ein lang gehegter Traum für Finn, seine Aufgabe erfüllt ihn, zu Hause ist er ein liebevoller Vater und Ehemann. Doch die junge Eivor kann sich nur schwer einleben und bleibt lieber für sich, die Tage liegen lang und untätig vor ihr, durchbrochen nur durch lange Spaziergänge mit Huskyhündin Jossa, die ihr Schutz in der Wildnis bieten soll und bald zur treuen Gefährtin wird. Denn im Winter ist Spitzbergen über Monate abgeschnitten vom Festland und sich selbst überlassen, der Fjord ist zugefroren und nicht passierbar, die Uhren Ticken langsamer. Diese fast greifbare Isolation sowie die anhaltende Dunkelheit bilden einen Ausnahmezustand, der an die Substanz geht, die Seele wird brüchiger, die Nerven liegen blank, der Bewegungsradius schrumpft. Heiberg, ein Bekannter des Paares, beginnt sich zunehmend merkwürdig zu verhalten, immer irrationalere Gedanken zu spinnen, Ängste bezüglich der politischen Lage zwischen Russland und Norwegen auf Spitzbergen brechen sich Bahn. Obwohl Finn sich die größte Mühe gibt, seinem Freund und Patienten zu helfen, spürt Eivor früh eine subtile Gefahr von diesem Menschen ausgehen und mit wachsender Psychose Heibergs wird es auch zwischen den Eheleuten immer schwieriger, die Fronten verhärten, Loyalitäten verschieben sich.

Ein starkes Debüt hat Heidi Sævareid hier vorgelegt, mit einer Sogwirkung, die sich kaum erklären lässt, passiert doch im Grunde die meiste Zeit kaum etwas. Doch eine leichte Bedrohung liegt von Anfang an in der Luft, die sich nicht greifen, nicht orten lässt, die von überall kommen kann in einer Natur von solcher Gewalt und Unberechenbarkeit wie dieser. Eivors Einsamkeit, ihr Ringen mit der Rolle als Mutter und angepasste Ehefrau, die angespannte Atmosphäre ist mit den Händen greifbar. Große Leseempfehlung! Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eines dieser seltenen Bücher, die in Erinnerung bleiben und Wurzeln in einem schlagen

An das Wilde glauben
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Eine Anthropologin wird auf einer Forschungsreise von einem Bären angefallen und schwer verwundet, nur knapp überlebt sie den Biss in den Kopf. Was folgt, ist eine Odyssee durch diverse Kliniken Frankreichs, ...

Eine Anthropologin wird auf einer Forschungsreise von einem Bären angefallen und schwer verwundet, nur knapp überlebt sie den Biss in den Kopf. Was folgt, ist eine Odyssee durch diverse Kliniken Frankreichs, ihres Heimatlandes, wo die Ärzte sich nicht nur die Klinke in die Hand geben, sondern auch vehement gegenseitig widersprechen, arrogant die eigenen Methoden als beste Lösung anpreisen. Auf diese Art kann sie nicht heilen, das spürt Nastassja Martin, ihr Körper wehrt sich, sperrt sich, alles fühlt sich falsch an. Was in der Wildnis von Kamtschatka verletzt wurde, kann in der westlichen Zivilisation nicht gesunden, das Wilde, das in sie eingedrungen ist, kann sich nur von innen heraus erholen, aus eigener Kraft. Verwundung und Heilung sind untrennbar miteinander und mit der Natur verbunden, alles ist im Einklang, im Fluss. Was die Autorin erlebt hat, das weiß sie, war keine zufällige Begegnung, sondern vielmehr ein intuitives Aufeinanderzubewegen von Mensch und Tier, ein gegenseitiges Erkennen, eine Verbindung der Existenzen, wobei ein Teil des Einen unwiderruflich im Anderen zurückgeblieben ist. Und so kehrt sie zurück an den Ort der Metamorphose und beginnt zu erkunden, erspüren, was sie braucht, welcher Weg innere und äußere Heilung für sie bedeutet.

„Mein Körper nach dem Bären, nach seinen Krallen, mein Körper im Blut und ohne den Tod, mein Körper voller Leben, voller Fäden und Hände, mein Körper in Gestalt einer offenen Welt, in der sich vielfältige Wesen begegnen, mein Körper, der sich mit ihnen, ohne sie wiederherstellt; mein Körper ist eine Revolution.“ S. 68

Ich habe diesen starken, autobiographischen Essay bereits vor Monaten gelesen und musste ihn erst einmal sacken lassen. Heute stehen die Worte mir immer noch erstaunlich klar vor Augen, „An das Wilde glauben“ ist eines dieser seltenen Bücher, die in Erinnerung bleiben und Wurzeln in einem schlagen. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine anspruchsvolle Lektüre, die die Zerrissenheit der Protagonistin auch sprachlich exzellent widerspiegelt

Euphorie
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Die ist die Geschichte von Sylvia Plaths letztem Lebensjahr. Dies ist die fiktive Geschichte von Sylvia Plaths letztem Lebensjahr. Dies ist die Geschichte einer Frau, einer Ausnahmekünstlerin, einer Verzweiflung. ...

Die ist die Geschichte von Sylvia Plaths letztem Lebensjahr. Dies ist die fiktive Geschichte von Sylvia Plaths letztem Lebensjahr. Dies ist die Geschichte einer Frau, einer Ausnahmekünstlerin, einer Verzweiflung. 1960 zieht das Ehepaar Plath/Hughes von London ins ländliche Devon, kauft ein altes Pfarrhaus mit großem Garten und bekommt sein zweites Kind, träumt von einer Familienidylle, die sich einfach nicht einstellen will. Ted genießt den Rückzug mit seiner kleinen Familie, flieht aber immer öfter zurück nach London, stürzt sich zurück ins gesellschaftliche Leben, in intellektuelle Gespräche und Anregungen, während seine Ehefrau haltlos zwischen Euphorie und Einsamkeit, zwischen Schreiben und häuslichen Pflichten taumelt. Sylvia möchte dieses Leben unbedingt wollen, ganz ihrem Mann den Rücken stärken, zufrieden sein mit ihrer Rolle als Mutter und Geliebte, oh ja, sie versucht es, doch sie scheitert, kann nur scheitern. Zu stark ist der Wunsch, einen bleibenden Abdruck in der Welt zu hinterlassen, gesehen, endlich gesehen und gehört, erkannt zu werden.

Ich kann sie nicht im Mindesten erahnen, diese Zerrissenheit in Sylvia Plath, dieses Gefühl größten Verrats durch ihren Mann und eigentlich die ganze Welt, die sie geringschätzt. Dank Elin Cullhed gelingt es mir jedoch, einen Eindruck zu erhaschen, einen Blick auf ihr Leben und Wirken, ihre inneren Dämonen, ihr Schuldgefühl nach dem frühen Tod ihres Vaters, die fast krankhafte Gefallsucht - ihren Schrei nach Liebe, noch der Liebe eines Mannes.

„Er liebte meine Unvollkommenheit, und mitten darin stand ich und versuchte vollkommen zu werden. In dieser Kluft konnte keiner von uns lieben. Jetzt wusste ich es.“ S. 321

Es ist eine anspruchsvolle Lektüre, die die Zerrissenheit der Protagonistin auch sprachlich exzellent widerspiegelt, und in die ich nur intensiv einzutauchen empfehlen kann, nehmt euch Zeit dafür. Einmal leicht und humorvoll, dann trostlos und düster, panisch und verzweifelt. Elin Cullhed hat das letzte Jahr der Autorin in eine Form gebracht, die passt, so erscheint es mir. Es war sicher nicht leicht, Sylvia Plath zu lieben, und noch schwieriger, Sylvia Plath zu sein. Unmöglich. Am 11. Februar 1963 nahm sie sich das Leben, heute wäre Sylvia Plath 90 Jahre alt geworden.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein wunderbarer historischer Roman

Die Schlange von Essex
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Die allgemeine Rezensiermüdigkeit hat mich auch befallen, deshalb hier eine (noch) etwas knappere, aber nicht weniger von Herzen kommende Empfehlung für die in meinen Augen perfekte Herbstlektüre. „Die ...

Die allgemeine Rezensiermüdigkeit hat mich auch befallen, deshalb hier eine (noch) etwas knappere, aber nicht weniger von Herzen kommende Empfehlung für die in meinen Augen perfekte Herbstlektüre. „Die Schlange von Essex“ von Sarah Perry, ausgezeichnet mit dem Britischen Buchpreis 2017 (und das absolut zu Recht!), vereint alles, was ich gerade brauchte und mir von dem Buch erhoffte, ich hab’s inhaliert und bin furchtbar traurig, dass es nun vorbei ist (was nach 500 Seiten etwas heißen will).

Lust auf die herrlich atmosphärische Stimmung der nebligen Salzmarsch am Blackwater, eine überaus gelungene Mischung aus Zeitgeschichte und durch und durch liebenswerten, leicht schrulligen Charakteren, feinem Humor und mystischen Elementen, und das alles in einer jedes Wort durchdringenden, bildgewaltigen Sprache, die der Geschichte Leben einhaucht? Voilà!

Perry feiert Freundschaft und Toleranz, die Liebe in all ihren unergründlichen Facetten, lässt Religion und Wissenschaft sich gnädig (wenn auch nicht ohne Argwohn) die Hand reichen und offenbart das Wesen der Menschen mit so viel Leidenschaft und Esprit, dass mir sprichwörtlich das Herz aufging. Das Setting und die Stimmung erinnerte mich stark an eines meiner absoluten Herzensbücher dieses Jahres, „Judith und Hamnet“ von Maggie O’Farrell, für dessen Fans ich hier eine besondere Empfehlung aussprechen möchte. Ihr werdet Cora und William ebenso lieben wie Agnes und William - hoch und heilig versprochen.

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