Profilbild von readiculousme

readiculousme

Lesejury Profi
offline

readiculousme ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit readiculousme über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.04.2024

Bedrohung von innen und außen

Am Ende der Polarnacht
0

Das Ehepaar Eivor und Finn verschlägt es 1957 mit seinen beiden kleinen Töchtern von Oslo nach Longyearbyen auf Spitzbergen, wo Finn die Arztpraxis übernimmt. Hier am Polarkreis, im nördlichsten Ort der ...

Das Ehepaar Eivor und Finn verschlägt es 1957 mit seinen beiden kleinen Töchtern von Oslo nach Longyearbyen auf Spitzbergen, wo Finn die Arztpraxis übernimmt. Hier am Polarkreis, im nördlichsten Ort der Welt, erfüllt sich damit ein lang gehegter Traum für Finn, seine Aufgabe erfüllt ihn, zu Hause ist er ein liebevoller Vater und Ehemann. Doch die junge Eivor kann sich nur schwer einleben und bleibt lieber für sich, die Tage liegen lang und untätig vor ihr, durchbrochen nur durch lange Spaziergänge mit Huskyhündin Jossa, die ihr Schutz in der Wildnis bieten soll und bald zur treuen Gefährtin wird. Denn im Winter ist Spitzbergen über Monate abgeschnitten vom Festland und sich selbst überlassen, der Fjord ist zugefroren und nicht passierbar, die Uhren Ticken langsamer. Diese fast greifbare Isolation sowie die anhaltende Dunkelheit bilden einen Ausnahmezustand, der an die Substanz geht, die Seele wird brüchiger, die Nerven liegen blank, der Bewegungsradius schrumpft. Heiberg, ein Bekannter des Paares, beginnt sich zunehmend merkwürdig zu verhalten, immer irrationalere Gedanken zu spinnen, Ängste bezüglich der politischen Lage zwischen Russland und Norwegen auf Spitzbergen brechen sich Bahn. Obwohl Finn sich die größte Mühe gibt, seinem Freund und Patienten zu helfen, spürt Eivor früh eine subtile Gefahr von diesem Menschen ausgehen und mit wachsender Psychose Heibergs wird es auch zwischen den Eheleuten immer schwieriger, die Fronten verhärten, Loyalitäten verschieben sich.

Ein starkes Debüt hat Heidi Sævareid hier vorgelegt, mit einer Sogwirkung, die sich kaum erklären lässt, passiert doch im Grunde die meiste Zeit kaum etwas. Doch eine leichte Bedrohung liegt von Anfang an in der Luft, die sich nicht greifen, nicht orten lässt, die von überall kommen kann in einer Natur von solcher Gewalt und Unberechenbarkeit wie dieser. Eivors Einsamkeit, ihr Ringen mit der Rolle als Mutter und angepasste Ehefrau, die angespannte Atmosphäre ist mit den Händen greifbar. Große Leseempfehlung! Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Eines dieser seltenen Bücher, die in Erinnerung bleiben und Wurzeln in einem schlagen

An das Wilde glauben
0

Eine Anthropologin wird auf einer Forschungsreise von einem Bären angefallen und schwer verwundet, nur knapp überlebt sie den Biss in den Kopf. Was folgt, ist eine Odyssee durch diverse Kliniken Frankreichs, ...

Eine Anthropologin wird auf einer Forschungsreise von einem Bären angefallen und schwer verwundet, nur knapp überlebt sie den Biss in den Kopf. Was folgt, ist eine Odyssee durch diverse Kliniken Frankreichs, ihres Heimatlandes, wo die Ärzte sich nicht nur die Klinke in die Hand geben, sondern auch vehement gegenseitig widersprechen, arrogant die eigenen Methoden als beste Lösung anpreisen. Auf diese Art kann sie nicht heilen, das spürt Nastassja Martin, ihr Körper wehrt sich, sperrt sich, alles fühlt sich falsch an. Was in der Wildnis von Kamtschatka verletzt wurde, kann in der westlichen Zivilisation nicht gesunden, das Wilde, das in sie eingedrungen ist, kann sich nur von innen heraus erholen, aus eigener Kraft. Verwundung und Heilung sind untrennbar miteinander und mit der Natur verbunden, alles ist im Einklang, im Fluss. Was die Autorin erlebt hat, das weiß sie, war keine zufällige Begegnung, sondern vielmehr ein intuitives Aufeinanderzubewegen von Mensch und Tier, ein gegenseitiges Erkennen, eine Verbindung der Existenzen, wobei ein Teil des Einen unwiderruflich im Anderen zurückgeblieben ist. Und so kehrt sie zurück an den Ort der Metamorphose und beginnt zu erkunden, erspüren, was sie braucht, welcher Weg innere und äußere Heilung für sie bedeutet.

„Mein Körper nach dem Bären, nach seinen Krallen, mein Körper im Blut und ohne den Tod, mein Körper voller Leben, voller Fäden und Hände, mein Körper in Gestalt einer offenen Welt, in der sich vielfältige Wesen begegnen, mein Körper, der sich mit ihnen, ohne sie wiederherstellt; mein Körper ist eine Revolution.“ S. 68

Ich habe diesen starken, autobiographischen Essay bereits vor Monaten gelesen und musste ihn erst einmal sacken lassen. Heute stehen die Worte mir immer noch erstaunlich klar vor Augen, „An das Wilde glauben“ ist eines dieser seltenen Bücher, die in Erinnerung bleiben und Wurzeln in einem schlagen. Aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine anspruchsvolle Lektüre, die die Zerrissenheit der Protagonistin auch sprachlich exzellent widerspiegelt

Euphorie
0

Die ist die Geschichte von Sylvia Plaths letztem Lebensjahr. Dies ist die fiktive Geschichte von Sylvia Plaths letztem Lebensjahr. Dies ist die Geschichte einer Frau, einer Ausnahmekünstlerin, einer Verzweiflung. ...

Die ist die Geschichte von Sylvia Plaths letztem Lebensjahr. Dies ist die fiktive Geschichte von Sylvia Plaths letztem Lebensjahr. Dies ist die Geschichte einer Frau, einer Ausnahmekünstlerin, einer Verzweiflung. 1960 zieht das Ehepaar Plath/Hughes von London ins ländliche Devon, kauft ein altes Pfarrhaus mit großem Garten und bekommt sein zweites Kind, träumt von einer Familienidylle, die sich einfach nicht einstellen will. Ted genießt den Rückzug mit seiner kleinen Familie, flieht aber immer öfter zurück nach London, stürzt sich zurück ins gesellschaftliche Leben, in intellektuelle Gespräche und Anregungen, während seine Ehefrau haltlos zwischen Euphorie und Einsamkeit, zwischen Schreiben und häuslichen Pflichten taumelt. Sylvia möchte dieses Leben unbedingt wollen, ganz ihrem Mann den Rücken stärken, zufrieden sein mit ihrer Rolle als Mutter und Geliebte, oh ja, sie versucht es, doch sie scheitert, kann nur scheitern. Zu stark ist der Wunsch, einen bleibenden Abdruck in der Welt zu hinterlassen, gesehen, endlich gesehen und gehört, erkannt zu werden.

Ich kann sie nicht im Mindesten erahnen, diese Zerrissenheit in Sylvia Plath, dieses Gefühl größten Verrats durch ihren Mann und eigentlich die ganze Welt, die sie geringschätzt. Dank Elin Cullhed gelingt es mir jedoch, einen Eindruck zu erhaschen, einen Blick auf ihr Leben und Wirken, ihre inneren Dämonen, ihr Schuldgefühl nach dem frühen Tod ihres Vaters, die fast krankhafte Gefallsucht - ihren Schrei nach Liebe, noch der Liebe eines Mannes.

„Er liebte meine Unvollkommenheit, und mitten darin stand ich und versuchte vollkommen zu werden. In dieser Kluft konnte keiner von uns lieben. Jetzt wusste ich es.“ S. 321

Es ist eine anspruchsvolle Lektüre, die die Zerrissenheit der Protagonistin auch sprachlich exzellent widerspiegelt, und in die ich nur intensiv einzutauchen empfehlen kann, nehmt euch Zeit dafür. Einmal leicht und humorvoll, dann trostlos und düster, panisch und verzweifelt. Elin Cullhed hat das letzte Jahr der Autorin in eine Form gebracht, die passt, so erscheint es mir. Es war sicher nicht leicht, Sylvia Plath zu lieben, und noch schwieriger, Sylvia Plath zu sein. Unmöglich. Am 11. Februar 1963 nahm sie sich das Leben, heute wäre Sylvia Plath 90 Jahre alt geworden.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein wunderbarer historischer Roman

Die Schlange von Essex
0

Die allgemeine Rezensiermüdigkeit hat mich auch befallen, deshalb hier eine (noch) etwas knappere, aber nicht weniger von Herzen kommende Empfehlung für die in meinen Augen perfekte Herbstlektüre. „Die ...

Die allgemeine Rezensiermüdigkeit hat mich auch befallen, deshalb hier eine (noch) etwas knappere, aber nicht weniger von Herzen kommende Empfehlung für die in meinen Augen perfekte Herbstlektüre. „Die Schlange von Essex“ von Sarah Perry, ausgezeichnet mit dem Britischen Buchpreis 2017 (und das absolut zu Recht!), vereint alles, was ich gerade brauchte und mir von dem Buch erhoffte, ich hab’s inhaliert und bin furchtbar traurig, dass es nun vorbei ist (was nach 500 Seiten etwas heißen will).

Lust auf die herrlich atmosphärische Stimmung der nebligen Salzmarsch am Blackwater, eine überaus gelungene Mischung aus Zeitgeschichte und durch und durch liebenswerten, leicht schrulligen Charakteren, feinem Humor und mystischen Elementen, und das alles in einer jedes Wort durchdringenden, bildgewaltigen Sprache, die der Geschichte Leben einhaucht? Voilà!

Perry feiert Freundschaft und Toleranz, die Liebe in all ihren unergründlichen Facetten, lässt Religion und Wissenschaft sich gnädig (wenn auch nicht ohne Argwohn) die Hand reichen und offenbart das Wesen der Menschen mit so viel Leidenschaft und Esprit, dass mir sprichwörtlich das Herz aufging. Das Setting und die Stimmung erinnerte mich stark an eines meiner absoluten Herzensbücher dieses Jahres, „Judith und Hamnet“ von Maggie O’Farrell, für dessen Fans ich hier eine besondere Empfehlung aussprechen möchte. Ihr werdet Cora und William ebenso lieben wie Agnes und William - hoch und heilig versprochen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Das Denkmal einer tüchtigen, einfachen Frau

Die Hebamme
0

Heute Nacht wurde meine Nichte geboren und während des freudigen (Er)Wartens habe ich mich an die Geburten meiner eigenen Kinder erinnert, an diese einschneidenden Momente, in denen ich mich mir selbst ...

Heute Nacht wurde meine Nichte geboren und während des freudigen (Er)Wartens habe ich mich an die Geburten meiner eigenen Kinder erinnert, an diese einschneidenden Momente, in denen ich mich mir selbst so nah wie nie gefühlt habe, verletzlich, fast roh, dabei so stark und unangreifbar. Es erscheint mir jedes Mal aufs Neue wie ein großes Wunder, macht mich ehrfürchtig, zu erleben, wie wir Frauen Leben schaffen, wie zutiefst archaisch eine Geburt ist, was für eine unfassbare Naturgewalt. Wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod sein kann, auch heute noch, trotz modernster Medizin und Technik, trotz unseres Gefühls, alles in der Hand zu haben und kontrollieren zu können, ist mir dabei sehr bewusst. Marta Kristine Andersdatter Nesje wusste das ganz genau. Sie war vor 200 Jahren eine der ersten Hebammen Norwegens, eine Pionierin, unbestreitbar, ausgestattet lediglich mit ein paar wenigen Utensilien, einer kurzen Ausbildung und ihrer Intuition - und einer gehörigen Portion Durchsetzungskraft. Edvard Hoem hat dem Leben seiner Ururgroßmutter mit „Die Hebamme“ einen literarischen Rahmen gegeben, dieser so einfachen wie eindrucksvollen Frau ein angemessenes Denkmal gesetzt. Nicht stattlich und prunkvoll, nein, bodenständig ist dieser Roman, besonnen und bedächtig, feinfühlig und klug. Denn es lohnt sich bisweilen zurückzuschauen, nicht nur nach vorne zu preschen, innezuhalten, zu lauschen, zu fühlen. Es steckt eine Weisheit in dem alten Wissen, eine Sicherheit im Handeln, die ich heute manchmal schmerzlich vermisse. Eine Ruhe in ehrlicher, tüchtiger Arbeit, dem einfachen Leben, die mich anrührt. Große Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere