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Veröffentlicht am 05.06.2024

Vom Glück der kleinen Dinge!

Marie des Brebis
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Die französische Hochebene, die Causses du Quercy, im Herbst 1901. Ein kleines Mädchen wird inmitten einer Schafherde gefunden, zurückgelassen mit nichts als einem Blatt Papier zwischen Bauch und Wolldecke ...

Die französische Hochebene, die Causses du Quercy, im Herbst 1901. Ein kleines Mädchen wird inmitten einer Schafherde gefunden, zurückgelassen mit nichts als einem Blatt Papier zwischen Bauch und Wolldecke geschoben, auf dem steht „Sie heißt Marie“. Dies ist der holprige Beginn eines langen, von Freud und Leid erfüllten Lebens. Eines reichen Lebens, ganz ohne materiellen Wohlstand und Luxus, doch geprägt von großer Verbundenheit mit der Natur und dem eigenen Wesen, einem tief empfundenen, inneren Frieden.

Manchmal wird mir alles zu viel da draußen, schlägt so ein Gefühl in mir drin sanft aber bestimmt mit seinen Flügeln, ist da diese Sehnsucht nach einem einfacheren Dasein, klareren Strukturen, einer kleineren Welt. Ich fühle mich in solchen Momenten fast fremd in meiner Zeit, haltlos verloren im heutigen Überfluss an Dingen, die wir besitzen wollen, Möglichkeiten, die in Betracht zu ziehen sind, Problemen, die es zu lösen gilt, Wegen, die eingeschlagen werden können – oder auch nicht. All das ermüdet mich bisweilen und ich würde mich am liebsten in ein Schneckenhaus zurückziehen, der Zivilisation und all ihren Ausdünstungen entfliehen. Genau dann greife ich zu Büchern, die mich erden und innerlich ganz ruhig werden lassen, wie Edvard Hoems „Die Hebamme“ oder “Marie des Brebis“ von Christian Signol. Der französische Autor hat die Geschichte der „Schafs-Marie“ kurz vor deren Tod in den 1980er-Jahren basierend auf ihren eigenen Erinnerungen niedergeschrieben und der Nachwelt so das faszinierende Porträt einer so einfachen wie wahrhaft lebensklugen Frau hinterlassen.

Dies ist ein Buch zum Eintauchen und Verschwinden, zum Loslassen. Ein ganz leises Buch, das vom Glück der kleinen Dinge erzählt und mich voller Demut und Dankbarkeit zurücklässt, ergriffenen Herzens und feuchten Auges und mit der festen Sicherheit, dass es ganz in uns selbst liegt, was wir mit den Geschenken des Lebens, den guten wie den schlechten, anstellen.

Aus dem Französischen von Corinna Tramm.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Roadtrip durch das raue, schöne, von den Menschen zerrissene Georgien

Vor einem großen Walde
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Bäm. Das ist er also, nach Nino Haratischwilis Jahrhundertepos der nächste große Familienroman Georgiens, Tbilissis, und ich hab auch diesen ganz arg geliebt. Brilka und nun Saba. Zwei Namen, die sich ...

Bäm. Das ist er also, nach Nino Haratischwilis Jahrhundertepos der nächste große Familienroman Georgiens, Tbilissis, und ich hab auch diesen ganz arg geliebt. Brilka und nun Saba. Zwei Namen, die sich in mir eingenistet haben, und mit ihnen der Wunsch, ihr Heimatland mit dieser bewegten Geschichte und uralten Seele einmal mit eigenen Augen zu sehen, diese wilde Stadt zwischen Bergen und Wäldern in mir aufzunehmen.

Saba ist mit Vater und Bruder Anfang der 90er Jahre nach England geflohen, die Mutter mussten sie in der vom Bürgerkrieg zerrütteten Heimat zurücklassen. 20 Jahre später sind die Jungs erwachsen und ihre Mutter Eka gestorben, ohne ihre Familie je wiedergesehen zu haben. An dieser Schuld zerbricht Vater Irakli fast, verliert sich Stück für Stück selbst, bis er eines Tages verschwindet. Zurück nach Hause. Bald verliert sich seine Spur dort und so folgt ihm erst der ältere Sohn, Sandro, und als auch dieser sich nicht mehr meldet, schließlich Saba nach. Er folgt der Fährte seines Bruders, der Rätsel schon immer liebte, den Brotkrumen der gemeinsamen Kindheit und ist bald nicht mehr alleine auf der Suche. Da sind die Geister all jener, die er liebt und geliebt hat, in seinem Kopf und schließlich Nodar an seiner Seite, ein herzensguter Mensch, der flucht, als gäbe es kein Morgen mehr und mindestens ebenso viel säuft, um den Verstand nicht vollends zu verlieren.

Manche Menschen müssen gefunden werden, andere müssen wir ziehen lassen, so weh es tut. Von diesem Schmerz handelt „Vor einem großen Walde“, von Vertreibung und Versöhnung, der Aussöhnung mit dem Schicksal, aber auch von großer Hoffnung in dunklen Stunden. Jede Zeile atmet das Herzblut des Autors, ich habe Leo Vardiashvili jedes Wort, jedes Gefühl geglaubt und werde sie ehrlich vermissen, diese Figuren, die mir so nahe gekommen sind auf diesem Roadtrip durch das raue, schöne, von den Menschen zerrissene Land. Ich sag’s euch, die können großartig erzählen, die Georgier! Aus dem Englischen von Wibke Kuhn.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Auftakt einer opulent angelegten, autobiographisch gefärbten Familiensaga

Das Land der Anderen
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Mathilde und Amine lernen sich Ende des zweiten Weltkriegs in Frankreich kennen und verlieben sich sofort ineinander. Er ist Marokkaner, ein Kriegsheimkehrer, zurück von einer Front, die nicht die seine ...

Mathilde und Amine lernen sich Ende des zweiten Weltkriegs in Frankreich kennen und verlieben sich sofort ineinander. Er ist Marokkaner, ein Kriegsheimkehrer, zurück von einer Front, die nicht die seine ist. Sie ist jung und ungezähmt, gerade erst 20, verrückt nach dem Leben und einem leidenschaftlichen Abenteuer. Frisch verheiratet ziehen sie nach Meknès in Französisch-Marokko, wo Amine ein ödes Stück Land besitzt, das er als Landwirt eher schlecht als recht zu bestellen weiß, wo er versucht, endlich Fuß zu fassen für seine junge Familie, aus dem Schatten der Franzosen zu treten, dieses Fremdheitsgefühl auf der eigenen Erde abzuschütteln. Doch Mathildes naiver Traum der wilden, exotischen Liebe zerschellt bald an der harten Realität, das entbehrungsreiche Leben in dem von Unruhen gebeutelten Land holt sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie liebt ihren Mann, ihre beiden Kinder, doch die Sehnsucht nach ihren Wurzeln ist groß, nach dem Gefühl dazuzugehören, und so steht sie bald vor einer schwerwiegenden Entscheidung, die ihr alles abverlangen wird.

Leïla Slimanis „Das Land der Anderen“ ist der Auftakt einer opulent angelegten, autobiographisch gefärbten Familiensaga und beginnt zur Zeit der Unabhängigkeit Marokkos in den 50er-Jahren. Sprachgewaltig, wie ich sie bisher nicht erlebt habe, erzählt die Autorin eine Geschichte, die fest verknüpft ist mit ihrer eigenen, von der Zerrissenheit einer Familie in einem zerrissenen Land, von kolonialem Erbe und dem harten Zusammenprall unterschiedlicher Welten und Kulturen, Werte und Vorstellungen. Jede ihrer Figuren brennt innerlich, hat eine tiefe Seele, ist wahrhaftig und zutiefst authentisch, wenn auch nicht immer sympathisch. Das Buch polarisiert hier auf Instagram stark und das kann ich gut verstehen. Es ist keine moderne Geschichte, keine feministische Geschichte, keine bequeme Geschichte. Mathilde erträgt vieles, hält aus und durch. Mich hat diese Frau beeindruckt, ihr Wille, im Sinne der Familie zu handeln, die eigene Verwirklichung, die heute als oberstes Gut gilt, einer größeren Sache zu opfern. Mir erscheint das mitunter schwieriger, mutiger zu sein, als einfach zu gehen, und ringt mir großen Respekt ab.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Beeindruckende Geschichte mit beklemmend realem Hintergrund

Das Leuchten der Rentiere
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Elsa ist gerade einmal 20 und schon so erschöpft, sie alle sind es: die Samen, ihr indigenes Volk, ganz oben am nördlichen Polarkreis. Müde all der grausamen Morde an ihren Rentieren, des Hasses, der ihnen ...

Elsa ist gerade einmal 20 und schon so erschöpft, sie alle sind es: die Samen, ihr indigenes Volk, ganz oben am nördlichen Polarkreis. Müde all der grausamen Morde an ihren Rentieren, des Hasses, der ihnen entgegenschlägt, und, was fast noch schlimmer ist, der kühlen Gleichgültigkeit der schwedischen Bevölkerung. Seit sie ein kleines Mädchen war, verfolgt Elsa das Bild des Mannes, der ihrem geliebten Renkalb Nástegallu das Leben genommen und ihr eigenes massiv bedroht hat. Wie eine Faust hält diese Warnung ihr Herz umklammert, das Wissen und ihr Schweigen darum lasten schwer auf der Seele der Heranwachsenden, die ihren Platz in dieser im Verschwinden begriffenen Welt erst noch finden muss. Viele Jugendliche ihres Volkes straucheln angesichts des Verlusts der altvertrauten Lebensweise, verlässlichen Rituale und eingetretenen Pfade; geraten auf Abwege, von denen manch einer nicht mehr zurückfindet. Doch Elsa ist stark und ehrgeizig, weiß, was sie will und was ihr vorbestimmt ist, welch seltene Gabe in ihr ruht - und sie ist bereit, den Kampf um ihr kulturelles Erbe und ihr Recht aufzunehmen.

Der Originaltitel von „Das Leuchten der Rentiere“ lautet „Stöld“, der Diebstahl, was in meinen Augen, wenn auch nicht so bildhaft, sehr viel treffender ist. Denn lediglich als einfacher Diebstahl wird die Tötung eines Rentiers eingestuft, als seien es Gegenstände und keine Lebewesen, als seien sie nicht Teil einer alten Kultur. Und gestohlen wird den Samen mit zunehmender Modernisierung und fehlender Akzeptanz auch alles, was ihnen wichtig ist, was ihre Existenz, ihr ganzes Sein bedeutet, ihren Stolz und ihre Würde ausmacht. Ann-Helen Laestadius’ Debütroman über ein Sámi-Mädchen mag fiktiv sein, basiert aber auf nur allzu realen Begebenheiten, hat mich fasziniert und begeistert und unglaublich wütend gemacht. Die einfühlsame Figurenzeichnung und ergreifenden, zwischenmenschlichen Töne eingebettet in diese atmosphärische Landschaft konnten mich komplett überzeugen - eine große Empfehlung von mir! Minikleiner Kritikpunkt ist die zum Teil etwas holprige Übersetzung von Dagmar Mißfeldt und Maike Barth, aber das ist Meckern auf hohem Niveau.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Trost in den kleinsten Dingen

Kummer aller Art
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Mariana Lekys Bücher sind ganz besondere Herzschmeichler, das brauche ich keinem hier erklären, das wissen wir alle spätestens seit „Was man von hier aus sehen kann“ uns komplett aus den Socken gehauen ...

Mariana Lekys Bücher sind ganz besondere Herzschmeichler, das brauche ich keinem hier erklären, das wissen wir alle spätestens seit „Was man von hier aus sehen kann“ uns komplett aus den Socken gehauen hat und verschrobene alte Leute namens Selma und der Optiker zum Liebespaar Nr. 1 der Bücherszene mutierten. Was ich auch schon seit damals weiß (zum Glück!), manch einer von euch aber (leider!) noch nicht, ist, dass Mariana Leky selbst auch ein Mensch fürs Herz ist, eine Frau, die auch im echten Leben auf fast wundersame Weise zur richtigen Zeit die richtigen Töne trifft und die Welt für den Moment einfach ein bisschen schöner, leuchtender macht. Und das Verrückteste daran ist, dass es so ganz und gar normale Dinge sind, die sie sagt. Es sind weder Zaubersprüche noch balsamene Verse oder besonders philosophische Phrasen, nein, Frau Leky sitzt da und ist lustig und klug und das reicht schon aus, weil sie nun mal einfach sie ist. Bereits zweimal durfte ich die Autorin nun im Gespräch erleben und ich kann euch nur wärmstens empfehlen, die Chance zu ergreifen, sollte sie sich euch bieten.

„Kummer aller Art“ heißt es also, das neue Buch, das ausnahmsweise kein Roman ist, sondern die Sammlung ihrer literarischen Kolumnen für die Zeitschrift Psychologie Heute. Klingt für mich verdächtig nach dem Verpackungsaufdruck eines ominösen Medikaments, das Abhilfe gegen die unterschiedlichsten Leiden verspricht und doch im Grunde gar nichts tut - außer den Glauben an Besserung, an Heilung zu säen. Und tatsächlich ist es ziemlich genau das, was die Ich-Erzählerin dieser kleinen Anekdoten tut. Sie streift den Kummer der anderen Figuren im Vorbeigehen, begleitet sie am Rand des Weges, sitzt den Herzschmerz mit aus, bietet eine helfende Hand an, allerhöchstens, eher noch den kleinen Finger. Denn Trost ist oft genau das, Gesellschaft zu haben beim Traurigsein, sich nicht vom Leben ausgesperrt zu fühlen.

Lekys Geheimnis? Sie weiß es selber nicht. Ich aber weiß eines ganz genau - welches Buch ich in nächster Zeit oft verschenken und noch öfter empfehlen werde.

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