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Veröffentlicht am 05.06.2024

Von einer stürmischen Eroberung!

Amrum
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Ich will ehrlich sein, ich hatte mir wirklich fest vorgenommen mein Augenmerk in nächster Zeit ganz auf die Backlist und aktuelle Nischentitel zu legen. Was nicht bedeutet, dass ich nicht trotzdem auch ...

Ich will ehrlich sein, ich hatte mir wirklich fest vorgenommen mein Augenmerk in nächster Zeit ganz auf die Backlist und aktuelle Nischentitel zu legen. Was nicht bedeutet, dass ich nicht trotzdem auch hier und da mal einen Bestseller lese, klar. Das bringt schon die Arbeit in der Buchhandlung mit sich, man will ja mitreden können. Als mir kürzlich Hark Bohms „Amrum“ über den Weg lief, nach direktem Einzug in die oberen Ränge der Spiegel Bestenliste ohne Zweifel als Bestseller zu bezeichnen, dachte ich, ach, warum eigentlich nicht? Nordsee, Inselleben im Ausnahmezustand des (endenden) zweiten Weltkriegs, doch, klingt, als könnte es mich kriegen.

Und so fing ich ohne große Erwartungen an zu lesen und ich mochte die Atmosphäre der Geschichte auf Anhieb, den knappen, lakonischen Ton, der mir Nordlicht nur allzu vertraut ist. Mochte die authentischen Beschreibungen der rauen Natur, dieser Kargheit, der die vom Krieg und den Verlusten gebeutelten Menschen, egal auf wessen Seite sie stehen, gemeinsam die letzten Ressourcen abzuringen versuchen. Ich las weiter und Hitler stirbt, der Krieg ist aus und die Amerikaner marschieren ein; alles verändert sich, kehrt sich geradezu um und ich war plötzlich mittendrin. Beobachtete mit Zärtlichkeit und wachsender Zuneigung diesen mit der Insel fest verwurzelten Jungen, der die ganze Verwirrung seiner Zeit in sich trägt, der seine regimetreue Mutter von Herzen liebt und doch die Abscheu der Insulaner, den sich drehenden Wind spürt, spürt, dass etwas nicht stimmt mit seiner Familie. Den die Liebe zu Amrum, zu bodenständiger, ehrlicher Arbeit mit den eigenen Händen und die Erwartung seiner akademischen Eltern innerlich zerreißt. Der einen riesigen Bullen mit nichts als seinem Sanftmut zähmt und sich mit seinem besten Freund Hermann furchtlos einer ungewissen Zukunft stellt. Und am Ende wusste ich genau, Bestseller hin oder her, vom lütten Nanning, der mein Herz im Sturm erobert hat, muss ich euch erzählen.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein ruhiger, nachdenklich stimmender Roman

Nebenan
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Wisst ihr eigentlich wirklich, wer bei euch nebenan wohnt? Ich nicht, obwohl uns seit Jahren gerade mal ein paar Meter Asphalt trennen, eine schmale Hecke, zwei dünne Mauern - ein kleines Universum. Auch ...

Wisst ihr eigentlich wirklich, wer bei euch nebenan wohnt? Ich nicht, obwohl uns seit Jahren gerade mal ein paar Meter Asphalt trennen, eine schmale Hecke, zwei dünne Mauern - ein kleines Universum. Auch Julia und Astrid wohnen nicht weit voneinander entfernt am Nord-Ostsee-Kanal, ihre Wege kreuzen sich hin und wieder, schieben sich aneinander vorbei wie die Containerschiffe zwischen den Häuserzeilen, fast berühren sie sich dabei. Eine Alteingesessene und eine Zugezogene begleiten wir in Kristine Bilkaus neuem Roman ein Stück, zwei Frauen an komplett unterschiedlichen Punkten ihres Lebens, die doch eines verbindet: die Sehnsucht nach Verbundenheit. Während Astrid einer alten Freundschaft nachhängt und sich gleichzeitig um ihre alte Tante sorgt, hat Julia eine Keramikwerkstatt eröffnet, und ist doch froh, wenn der Laden leer bleibt, das Geschäft übers Internet gut läuft. Darin surft sie stundenlang, tauscht sich mit Gleichgesinnten zum Thema unerfüllter Kinderwunsch aus, hofft und bangt im kollektiv. Überhaupt, die Nachbarschaft, das ist doch längst nicht mehr geographisch gedacht. Nebenan, das sind heute „The Darlings“ und „LinusundMette“, die ihre Kinder stolz auf Instagram präsentieren, deren Leben sich von jedem Punkt der Welt aus bis ins kleinste Detail verfolgen lassen, und die Julia besser zu kennen scheint als die Familie ein Haus weiter, die nach Weihnachten plötzlich verschwunden ist.

„Nebenan“ ist ein ruhiger, nachdenklich stimmender Roman, der kaum etwas wiegt und doch tief sinkt. Der die große Einsamkeit von heute einfängt, die Leere, die der digitale Voyeurismus in uns hinterlässt, und wichtige Fragen unserer Zeit anreißt. Wie können wir das Heimatgefühl, das Gemeinschaftsgefühl bewahren, angesichts der Schnellebigkeit, des langsamen Verschwindens von Orten, die sich wie Heimkommen anfühlen? Wie unseren Nächsten nahekommen, ohne ihnen zu nahe zu treten? Nominiert für den deutschen Buchpreis, sehr gerne empfohlen von mir, wenngleich die Geschichte mir aus höchst persönlichen Gründen nicht ganz so ans Herz gehen konnte wie ihr Vorgänger, „Eine Liebe, in Gedanken“.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein Buch zum Eintauchen und Versinken

Die Kunst des Verschwindens
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„Die Kunst des Verschwindens“ beherrscht auf jeden Fall die Kunst des Verschwindenlassens, denn genau das hat diese Geschichte mit mir gemacht, hat mich eingesogen, bestens unterhalten und verzaubert. ...

„Die Kunst des Verschwindens“ beherrscht auf jeden Fall die Kunst des Verschwindenlassens, denn genau das hat diese Geschichte mit mir gemacht, hat mich eingesogen, bestens unterhalten und verzaubert. „Zwischen den Jahren“, das klingt nicht nur seltsam, nein, es passieren auch ganz und gar wunderliche Dinge in dieser Zeit, davon ist Nico felsenfest überzeugt. Als sie kurz vor Weihnachten die faszinierende Schauspielerin Ellen Kirsch kennenlernt, spürt sie sofort eine tiefe Verbundenheit mit dieser, fast wie Seelenverwandtschaft fühlt es sich an, fremd und doch vertraut. Mit Ellen bekommt Bekanntes neue Konturen, das Leben mehr Zauber, der Moment eine größere Bedeutung. Und dann ist Ellen so plötzlich wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht ist, und Nicos Welt dreht sich weiter und ist doch nicht mehr dieselbe. Sie versucht zu begreifen, was passiert ist, und auf der Suche nach ihrer Freundin und deren Geheimnis kommt sie ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Vergangenheit näher, als sie sich je hätte vorstellen können.

Melanie Raabe widmet sich in ihrem ersten Roman der Freundschaft, der Magie eines einzigen Augenblicks, der Menschen verbindet und Leben für immer verändert. Ich mag diesen Hauch von Fantastischem, der durchaus denkbar erscheint, die Geschichte nicht dominiert sondern unterstreicht; diese Motive des magischen Realismus, derer die Autorin sich hier bedient. Ein wildes Reh, das mitten in der Stadt aus der Dunkelheit auftaucht, die leicht schmerzende Beule eines durchbrechenden Horns an Ellens Hinterkopf, Realität und Traum in fließendem Übergang. Ich kenne Raabes Thriller nicht, spüre dieses Genre aber auch hier auf jeder Seite, die ich wie im Rausch umblättere. Der Plot ist spannend erzählt, steigert sich, ändert stetig die Richtung, Twists und Schurken inklusive. Ich sehe den Roman schon verfilmt werden und genau das ist mein einziger echter Kritikpunkt. Ich mag es normalerweise nicht ganz so cineastisch und laut, mir sind die leisen Töne lieber, aber auch die kommen hier nicht zu kurz und trugen mich durch die Geschichte, mit ihrer zauberhaften Stimmung und versöhnlichen Botschaft . Ein schönes Weihnachtsgeschenk zum Wegschmökern zwischen den Tagen!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Verschwimmende Grenzen zwischen Erinnerung und Fiktion, Leben und Literatur

Roman d’amour
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Charlotte Moire hat ein Buch geschrieben und einen Preis gewonnen. Warum, versteht sie selbst nicht so genau, es ist eigentlich keine besonders innovative Geschichte, um Ehebruch geht es, um Liebe, die ...

Charlotte Moire hat ein Buch geschrieben und einen Preis gewonnen. Warum, versteht sie selbst nicht so genau, es ist eigentlich keine besonders innovative Geschichte, um Ehebruch geht es, um Liebe, die richtige wie die falsche. Nun heißt es „Roman d‘amour“ zu promoten, Gespräche zu führen, unter anderem mit Frau Sittich, einer Journalistin, die einen Radiobeitrag plant. Was als einfaches Interview beginnt entwickelt sich mit einer seltsam dringlichen Dynamik zu einem intensiven Schlagabtausch zwischen zwei Frauen, die auf einen reichen Erfahrungsschatz zurückblicken können, und gipfelt in der überraschenden Erkenntnis, was wirklich auf dem Spiel steht, was beide in die Waagschale werfen.

Mich hat Sylvie Schenks klarer Stil, ihr lebenskluger Scharfsinn bereits in „Schnell, dein Leben“ beeindruckt und ich bin wieder sehr angetan von diesem feinen Liebesroman, der auf gerade einmal 120 Seiten die manchmal schwer zu definierenden Grenzen zwischen Erinnerung und Fiktion, Leben und Literatur, Leidenschaft und Verantwortung auslotet. Eine Geschichte über des einen Liebe und des anderen Verrats, über das große Glück des Zusammenseins und verwüstete Herzen. Empfehlung!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein stimmungsvoller, melancholischer Roman aus dem viktorianischen England

Lily
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Lily Mortimers Kindheit endet unwiderruflich als sie mit sechs Jahren ihre Pflegefamilie auf der Krähenhorstfarm verlassen muss; ein Jahrzehnt später ist sie eine kaltblütige Mörderin. Noch weiß es keiner, ...

Lily Mortimers Kindheit endet unwiderruflich als sie mit sechs Jahren ihre Pflegefamilie auf der Krähenhorstfarm verlassen muss; ein Jahrzehnt später ist sie eine kaltblütige Mörderin. Noch weiß es keiner, aber bald, das ist der jungen Frau klar, bald wird die gerechte Strafe sie ereilen. Zwischen ihr und dem Gesetz steht lediglich Sam Trench, der Mann der sie damals fand, als Baby von der eigenen Mutter in einem Londoner Park ausgesetzt, mitten im Winter, und der sie nie vergessen konnte, nie ganz aus den Augen verlor. Nicht bei den Pflegeeltern, die sie wie eine eigene Tochter liebten, nicht in den darauffolgenden, von Hoffnungslosigkeit und Verlustgefühlen geprägten, Jahren im Findelhaus, nicht als sie den Weg einer Perückenmacherin einschlägt, ihr Leben endlich in sicherere Bahnen leiten kann. Könnte, wäre da nicht dieser unbändige Wunsch nach Rache - und das Verlangen nach Sam, nach einem gemeinsamen Leben mit diesem aufrechten Mann, dessen Integrität und Überzeugungen durch beider Anziehungskraft auf eine harte Probe gestellt werden.

Ich habe als Jugendliche bereits sehr gerne klassische, englische Romane gelesen, Waisenmädchen hatten es mir damals schon angetan und ganz besonders Waisenmädchen im viktorianischen Zeitalter. „Sara, die kleine Prinzessin“ und „Jane Eyre“ ließen mich mitfühlen, bangen und hoffen wie kaum eine andere Geschichte, eine andere Protagonistin. Rose Tremains „Lily“ ist reifer, erwachsener, weniger illusorisch (oder habe bloß ich mich verändert?), und schlägt doch mitten hinein in diese Kerbe, holt Erinnerungen an diese besonderen Leseeefahrungen zurück, die fast körperlich waren, so intensiv litt ich mit den Mädchen, fühlte die Dunkelheit, die sie umgab, die Grausamkeiten, die sie erfuhren, aber auch das köstliche Glück reiner Herzensgüte, die Kraft wahrer Freundschaft. Ein stimmungsvoller, melancholischer Roman mit einer Heldin, die man fest ins Herz schließen muss - perfekt für die dunklere Jahreszeit und eine große Empfehlung von mir.

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