Die Schatten der Vergangenheit
Carol (48) ist das jüngste Kind von Self-Made Unternehmern, die sich an allem erfreuen, was neu und modern ist. Als erstes Familienmitglied studiert sie zum Stolz ihrer Eltern englische Literatur und wird ...
Carol (48) ist das jüngste Kind von Self-Made Unternehmern, die sich an allem erfreuen, was neu und modern ist. Als erstes Familienmitglied studiert sie zum Stolz ihrer Eltern englische Literatur und wird Englischlehrerin, heiratet den attraktiven Sportlehrer, bekommt einen Sohn und erzieht diesen nach sechs Jahren alleine... alles scheint in ruhigen Bahnen für die Ewigkeit zu verlaufen, bis sie sich Ende Dreißig in den deutlich älteren Declan, den Vater ihrer Schülerin Sally verliebt. Er scheint die Liebe ihres Lebens zu sein und sein altes Haus in der Stableroad, endlich ein Heim. Doch die jeweiligen Sprößlinge sind von dieser ungleichen Beziehung ebenso wenig begeistert, wie ihre Eltern. Nach nur 10 gemeinsamen Jahren, wird Declan dement und seine Kinder Kilian und Sally schieben ihn in ein Heim ab und werfen sie aus dem Haus. Carols Eltern sind empört, über die Behandlung ihrer Tochter und kaufen unter Angabe einer Investmentfirma das Haus für sie zurück. Eine folgenschwere Entscheidung, denn nach Tagen und Wochen des Leerstands beginnt das Haus, das Declan niemals verkaufen wollte, solange seine Kinder leben, sein furchtbares Geheimnis preis zu geben.
Dies war mein erster Roman des erfolgreichen irischen Autors Graham Norton, der so beliebt ist, dass seine Romane als Hörbücher noch auf Tonträgern erscheinen. Das konnte ich mir also nicht entgehen lassen, auch wenn ich nicht wusste, was da auf mich zukommen würde und dennoch war es ganz anders, als ich es erwartet hätte.
Carol hat nicht wirklich Glück mit den Männern in ihrem Leben. Auch wenn sie Alex ihren geliebten Sohn Craig zu verdanken hat, zieht dieser, kaum hat er die A-Levels geschafft, weit weg vom heimischen Bellytour im County Cork. Declan scheint ein Mann mit Niveau, aber es ist nicht der große Altersunterschied zwischen ihm und Carol, den ich zu unattraktiv finde, sondern seine distanzierte Beziehung zu seinen eigenen Kinder. Eigentlich betet Sally Carol ja an, aber sobald die zwei ein Paar sind, scheint Declan alles daran zu setzen, Carol nur an sich zu binden und von seinen Kindern fern zu halten. Über seine Frau, die eines Tages, als Sally erst vier und Kilian zehn Jahre alt war, schweigt er beharrlich. Dennoch finde ich die Entscheidung seiner Kinder noch härter, ihren Vater in ein Heim abzuschieben, um Carol, die ihn gerne im Haus betreuen würde, aus eben jenem zu werfen. Es bricht Carol das Herz, weil Declan stets betonte, dass dieses Haus nie verkauft werden dürfte, solange die Kinder noch leben...
Ich fand es anfangs sehr deprimierend, denn in Carols Alter noch mal bei den Eltern, in seinem Kinderzimmer einziehen zu müssen, nachdem man seinen Job aufgegeben hat, um den Mann, den man liebt, pflegen zu können, muss sich als ultimative Niederlage anfühlen. Ihre Eltern Moira und Dave sind seit 60 Jahren ein eingespieltes Team und wie es so ist, inzwischen ziemlich eigen und gegenüber Carol recht dominant, meinen aber aber immer nur gut mit ihr. Wobei ich mich auch frage, ob es nicht an Carols Trauer bedingter Passivität liegt, dass ihre Eltern so resolut auftreten, dass sie nicht dagegen ankommen. Ehrlich, auf ihre ziemlich schräge Weise, ist Moira meine absolute Lieblingsfigur. Manchmal kann ich zwar nur mit den Augen rollen, weil mir einige Situationen als Tochter nur allzu vertraut vorkommen, aber sie ist eigentlich eine saucoole Socke. Es tut mir sehr leid für Carol, dass sie keinen Mann finden konnte, der so gut zu ihr passt, wie ihr Vater zu ihrer Mutter. Herrlich beschrieben finde ich aber auch die oberneugierige Nachbarin mit dem schmuddeligen Hund in Carols und Declans Nachbarschaft. Graham Norton legt viel Wert auf lebendige Charaktere, bis in die kleinste Rolle hinein, was mir sehr gut gefallen hat.
Je schräger und irgendwie verzweifelter die Situation für Carol wird, desto weniger deprimierend finde ich sie eigentlich. Das liegt daran, dass sie in den Momenten dann merkt, dass sie doch nicht allein ist und eine ganz besondere Verbündete auf der Bildfläche erscheint. Graham Norton schafft es, dieser eigentlich unaufgeregten und tragischen Geschichte irgendwie schrägen irischen Humor einzuhauchen, den Cathlen Gawlich hervorragend herüberbringt, wie auch die übrigen Gefühlsfacetten die Carol im Laufe dieses Romans durchlebt. Bislang war sie mir nur von Kinderbüchern bekannt, aber auch diese Heldin im besten Alter kann sie ganz wunderbar verkörpern.
Eine ungewöhnliche Geschichte, mit echten Wendungen, die mir gerade wegen der vielen kleinen schrägen Details lange im Gedächtnis bleiben wird!