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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.07.2024

Ein schicksalhafter Sommer

Der Sommer, in dem alles begann
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MEINE MEINUNG
In ihrem atmosphärischen und berührenden Roman „Der Sommer, in dem alles begann” erzählt die französische Autorin Claire Léost eine geheimnisvolle und bewegende Geschichte über Verluste, ...

MEINE MEINUNG
In ihrem atmosphärischen und berührenden Roman „Der Sommer, in dem alles begann” erzählt die französische Autorin Claire Léost eine geheimnisvolle und bewegende Geschichte über Verluste, dunkle Schatten der Vergangenheit und Neuanfang sowie die Suche nach Liebe, Freiheit und Heimat. Der Roman führt uns in ein kleines abgelegenes Dorf Bois d'En Haut im Herzen des herben Finistère, fernab der touristischen Regionen der Bretagne, wo die drei höchst unterschiedlichen Frauen- die exzentrische Französischlehrerin Marguerite aus Paris, die junge Schülerin Hélène und die verbitterte Witwe und Dorfladenbesitzerin Odette - auf schicksalhafte Weise aufeinandertreffen, die gesellschaftliche Ordnung im Dorf allmählich aus den Fugen gerät und die tragischen Geschehnisse schließlich ihren Lauf nehmen. Angesiedelt ist die Handlung auf drei verschiedenen Zeitebenen, die von den 1940ern über die frühen 1990er bis ins Jahr 2015 reichen.
Im Mittelpunkt der Haupthandlung steht die bewegende Coming-of-Age Geschichte der 16-jährigen Teenagerin Hélène, die sich nichts sehnlicher wünscht als ihrem vorgezeichneten Lebensweg als künftige Lehrerin und Yannicks Ehefrau in der Bretagne zu entgehen und in die spannende weite Welt zu entfliehen. Mit der Heimkehr der Protagonistin Hélène in ihre bretonische Heimat nach 20 Jahren ist der Autorin ein packender Einstieg gelungenen, denn gebannt fragt man sich nach den Gründen für ihr Verschwinden nach dem tragischen vom tragischen Tod ihres Vaters und von Marguerite in jenem Sommer.
Durch geschickte Zeitsprünge versteht es die Autorin, die von Beginn an schwelende subtile Spannung immer weiter anzuziehen, denn erst am Ende des Romans erfahren wir die erschütternden Hintergründe und die ganze Tragweite der damaligen Geschehnisse.
Geschickt verwebt die Autorin zudem Hélènes Geschichte der Gegenwart mit dem Handlungsstrang der Vergangenheit, in dem sie sehr eindrücklich über das traurige Schicksal und wichtige Details aus dem Leben der bretonischen Waise Odette im Paris von 1944 erzählt. Sehr überraschen konnte mich die Autorin zum Ende mit einer völlig unerwarteten und etwas konstruiert wirkenden Wendung.
Der sprachlich sehr ansprechende Erzählstil der Autorin ist prägnant und leider bisweilen eher distanziert. Léost gelingt es mit ihren atmosphärisch dichten Beschreibungen hervorragend, uns in den herben Charme der Bretagne eintauchen zu lassen und eine eindringliche, oftmals mystisch-unheilvolle Atmosphäre heraufzubeschwören. Auch das facettenreiche Bild des vermeintlich beschaulichen und friedlichen Dorflebens zwischen Traditionen, Klatsch, Sonntagsmesse, nationalistischen Strömungen und keltischer Folklore ist sehr authentisch und lebendig eingefangen.
Léost zeichnet facettenreiche und weitgehend glaubwürdige Charaktere, die von ihren starken Familiengeschichten und bretonischen Herkunft geprägt sind.
Die charakterliche Entwicklung von Hélène hat Léost sehr einfühlsam und behutsam ausgearbeitet, so dass ich ihre vielfältigen Gefühle und Beweggründe gut nachvollziehen konnte. Besonders die emotionalen Passagen um Hélènes Vater und die Auseinandersetzung mit seinem frühen Tod sorgten für äußerst berührende Momente. Bei den beiden anderen Frauenfiguren hätte ich mir jedoch etwas mehr Nuancen und Tiefgang gewünscht, um mich besser in sie hinein versetzen zu können. Ihre Handlungen blieben für mich leider oft im Dunkeln und wenig plausibel.
FAZIT
Ein fesselnder Roman über drei miteinander verwobene Frauenschicksale - mit interessanten Charakteren und schönem Bretagne-Flair!

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Veröffentlicht am 07.06.2024

Fesselnde Romanbiografie

Das verborgene Genie
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Die amerikanische Autorin Marie Benedict bringt uns in ihrer interessanten Romanbiografie "Das verborgene Genie" die Lebensgeschichte der herausragenden, leider heutzutage nahezu unbekannten ...

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Die amerikanische Autorin Marie Benedict bringt uns in ihrer interessanten Romanbiografie "Das verborgene Genie" die Lebensgeschichte der herausragenden, leider heutzutage nahezu unbekannten britischen Naturwissenschaftlerin Rosalind Franklin, die mit ihren bahnbrechenden Forschungsarbeiten einen wesentlichen Beitrag zur Entdeckung der DNA-Doppelhelix-Struktur leistete – in wissenschaftlichen Kreisen jedoch keine Anerkennung für diese Leistung erhielt. Stattdessen sind die Namen von drei männlichen Forscherkollegen Watson, Crick und Wilkins im Zusammenhang mit der Strukturaufklärung unserer Erbsubstanz in die Annalen eingegangen. Im Jahr 1962 erhielten diese sogar den Nobelpreis für die Aufklärung der DNA-Struktur.
Mit ihrem Roman setzt Marie Benedict ihre faszinierende Reihe über bemerkenswerte starke und talentierte Frauen fort, die häufig in ihrer von Männern dominierten Arbeitswelt diskriminiert und weniger Anerkennung als ihre männlichen Kollegen erhielten. Im Mittelpunkt steht nun mit Rosalind Franklin eine weitgehend verkannte Wissenschaftlerin und insbesondere zu Unrecht in Vergessenheit geratene Pionierin der Genetik, über deren Persönlichkeit jedoch wenig Fundiertes und viel Widersprüchliches überliefert ist.
Geschickt zeichnet Benedict daher aus den wenigen bekannten Hintergrundinformationen zu Franklins Privatleben und Charakter ein beeindruckendes und durchaus plausibles Portrait, das allerdings mit vielen Annahmen und Spekulationen behaftet bleiben muss. Sehr lesenswert ist das interessante Nachwort der Autorin. Benedict versteht es hervorragend, die bewegende Lebensgeschichte und das außergewöhnliche Wirken der Wissenschaftlerin Rosalind Franklin in chronologisch angelegten Episoden sehr lebendig, authentisch und anschaulich zu schildern. Bereits in ihrer Jugend folgt sie aus einer angesehenen jüdischen Familie stammend ihren analytischen Begabungen und ihrer Leidenschaft für Naturwissenschaften. Eindrucksvoll und abwechslungsreich lässt uns die Autorin an Franklins wissenschaftlichen Werdegang teilhaben und gibt uns einen fesselnden Einblick in die damalige Welt der Grundlagenforschung. Ob nun ihre beschwerliche Studienzeit in Cambridge, ihre Zeit in Paris rund um die Röntgenkristallographie bis hin zu ihrer genialen Forschungsarbeit am Londoner King's College – Benedict gelingt es hervorragend nicht nur die komplexen Wissenschaftszusammenhänge verständlich und kompetent darzustellen, sondern auch Franklins Leidenschaft und Begeisterung hierfür nachvollziehbar zu machen. Hautnah erleben wir mit, welche vielfältigen Schwierigkeiten, Herabsetzungen und Intrigen ihr als Frau trotz aufopferungsvollem Arbeitseinsatz, enormer Entbehrungen und brillanter Ergebnisse in der gnadenlosen Wissenschaftswelt begegneten. Durch die gelungene facettenreiche Charakterzeichnung dieser talentierten, ehrgeizigen, eigensinnigen und passionierten Wissenschaftlerin werden auch ihre Stärken und Schwächen, ihre Höhen und herben Enttäuschungen für uns greifbar, auch wenn die Protagonistin als Ich-Erzählerin glaubhaft aber bisweilen etwas zu distanziert wirkt.
Es ist insbesondere sehr fesselnd, die Entwicklungen rund um die Entschlüsselung der DNA-Struktur mit zu verfolgen, bei denen ihre Analysen zentrale Rolle spielten und die Grundlage für das später nobelpreisgekrönte Doppelhelix-Modell von Watson und Crick darstellten. So fanden ihre spektakulären Forschungsergebnisse zur Strukturaufklärung kaum Anerkennung und wurden von ihrem Chef an weitere DNA-Forscher heimlich weitergegeben, die schließlich sämtliche Lorbeeren einheimsten ohne auf ihren bedeutenden Beitrag Bezug zu nehmen. Später widmete sie sich der Erforschung des Tabakmosaikvirus. Sehr bewegend ist auch ihre Krebserkrankung im Alter von nur 37 Jahren und ihr viel zu früher Tod an Eierstockkrebs, der möglicherweise mit der hohen Strahlenbelastung bei ihrer Forschung in Zusammenhang stand.
Mich hat diese Romanbiografie dazu angeregt, mehr über die faszinierende Forschungsarbeit dieser viel zu früh verstorbenen Wissenschaftlerin zu recherchieren!
FAZIT
Eine fesselnde und lesenswerte Romanbiografie und eine gelungene Hommage an eine Pionierin und zugleich an alle Frauen, deren besondere Leistungen im Wissenschaftsbetrieb viel zu wenig gewürdigt und viel zu oft in den Schatten gerückt werden!

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Veröffentlicht am 16.05.2024

Eindrucksvolles Debüt

Krummes Holz
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MEINE MEINUNG
Mit ihrem Debüt «Krummes Holz» ist der deutschen Autorin Julja Linhof ein tiefgründiger, emotional aufrüttelnder Roman gelungen, der mich mit seiner tragischen Familiengeschichte sehr fesseln ...

MEINE MEINUNG
Mit ihrem Debüt «Krummes Holz» ist der deutschen Autorin Julja Linhof ein tiefgründiger, emotional aufrüttelnder Roman gelungen, der mich mit seiner tragischen Familiengeschichte sehr fesseln und zum Nachdenken anregen konnte. Feinfühlig und sehr eindringlich erzählt die Autorin in ihrem Roman die beklemmenden Folgen von transgenerationaler Traumatisierung.
Im Mittelpunkt steht der 19-jährige Protagonist Georg, von allen Jirka genannt, der nach vielen Jahren erstmals zurück auf den herunter gewirtschafteten Gutshof seiner Familie kommt und sich dort nicht nur seiner feindseligen älteren Schwester Malene sondern auch unguten, sorgsam verdrängten Erinnerungen stellen muss.
Die Autorin versteht es mit ihren sehr bildhaften Beschreibungen hervorragend, eine unheilvolle, melancholische Atmosphäre heraufzubeschwören, so dass sich schon bald ein großes Unbehagen beim Lesen aufbaut. Allmählich erhalten wir in Rückblenden kurze Einblicke in Jirkas traumatische Kindheit und sein dysfunktionales familiäres Umfeld mit einem gewalttätigen Vater, seiner depressiven Mutter, die sich viel zu früh aus dem Leben verabschiedete, und einer meist lieblosen Großmutter. Seine eher lückenhaften Erinnerungen an vergangene Geschehnisse lassen unendliche Demütigungen, Ängste und Einsamkeit eines sensiblen Kindes erahnen. Geschickt lässt die Autorin in verstörenden Andeutungen vieles im Vagen und doch lässt sich in den angerissenen Flashbacks ein schreckliches Leben mit allgegenwärtigem Stillschweigen in einer Familie ohne Liebe und Zuneigung erkennen. Der fließende Wechsel zwischen den Zeitebenen, eingestreute Erinnerungsfetzen und implizierte Vorahnungen über ein düsteres Geschehnis erzeugen ein beklemmendes Gefühl und steigern die Spannung ungemein. Äußerst gelungen ist auch der anschauliche, bildgewaltige Schreibstil der Autorin mit vielen faszinierenden Schilderungen der sommerlichen Landschaft und des allgegenwärtigen Verfalls des alten Gutshofs sowie bisweilen recht ungewöhnlichen Sprachbildern, die perfekt die widersprüchliche und aufgewühlte Gefühlswelt des Protagonisten spiegeln.
Sehr greifbar fängt Linhof die hochemotionalen Schwingungen in all ihren Facetten ein, von denen Jirka bei seiner Heimkehr überwältigt wird – von Wut, Aggressionen, Verzweiflung, Einsamkeit, Unverständnis, Scham, Vorwürfen bis hin zum kindlichen Eskapismus reicht die komplexe Bandbreite. Aus den vielen sich langsam zusammenfügenden Leerstellen, über die Jirka allmählich Gewissheit erlangt, ergibt sich schließlich ein bedrückendes und nachdenklich stimmendes Gesamtbild von seiner Gefühlswelt.
Geschickt hat sie die komplizierte Dynamik zwischen den zwei Geschwistern und ihrer labilen Beziehung zueinander herausgearbeitet, die trotz herber Enttäuschungen und Verbitterung auf eine versöhnliche Annäherung hoffen lassen.
Hervorragend gelungen sind der Autorin ihre unterschiedlichen Charaktere, die sie sehr vielschichtig, einfühlsam und mit nuancierten Persönlichkeiten ausgearbeitet hat. Mit außerordentlich gutem Feingespür und großer Eindringlichkeit enthüllt sie menschliche Sehnsüchte und Abgründe, tiefe seelische Verletzungen sowie folgenschwere Fehlurteile.
FAZIT
Ein eindringlicher und fesselnder Roman über eine tragische Familiengeschichte und ein anspruchsvolles und intensives Leseerlebnis, auf das man sich erst einlassen muss!

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Veröffentlicht am 08.05.2024

Faszinierender historischer Roman über einen Schicksalsfund

Das Lächeln der Königin
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MEINE MEINUNG
In ihrem literarischen Debüt „Das Lächeln der Königin“ erzählt die deutsche Autorin Stefanie Gerhold die spannende Geschichte rund um die Entdeckung der berühmten Nofretete-Büste im ägyptischen ...

MEINE MEINUNG
In ihrem literarischen Debüt „Das Lächeln der Königin“ erzählt die deutsche Autorin Stefanie Gerhold die spannende Geschichte rund um die Entdeckung der berühmten Nofretete-Büste im ägyptischen Tell el-Amarna. In ihrem historischen Roman widmet sie sich eingehend ihrem weiteren Schicksal, das eng verknüpft mit den politischen Verwicklungen jener bewegten Zeit und der deutschen Vergangenheit ist. Bis heute gehört die prachtvolle Büste der Königin Nofretete im Neuen Museum, die auch nach dreieinhalbtausend Jahren erstaunlich gut erhalten ist, zu den bekanntesten Exponaten der Berliner Museumsinsel und begeistert mit ihrer Eleganz, Vollkommenheit und Schönheit die Menschen. Vor genau 100 Jahren wurde die faszinierende Büste zum ersten Mal in Berlin öffentlich ausgestellt – ein schöner Anlass sich mit eingehender mit ihr zu befassen! Wie man den im Anhang angehängten, umfangreichen Literaturquellen entnehmen kann, hat sie sich die Autorin sehr intensiv mit der beschäftigt und sorgsam viele historische Details recherchiert. Aus den überlieferten Korrespondenzen und historischen Fakten hat die Autorin in ihren feinfühlig erzählten Roman eine stimmige „fiktive Rekonstruktion“ erstellt, die sehr anschaulich die damaligen Geschehnisse - einbettet in ein schönes Zeitkolorit - nachzeichnet. Darüber hinaus erhalten wir aufschlussreiche Einblicke in die möglichen Beweggründe der beteiligten Persönlichkeiten. So tauchen wir ein in eine ereignisreiche Geschichte über atemberaubende archäologische Funde in der Blüte der Altertumswissenschaften, persönlichen Intrigen und politischen Machtspielen sowie über selbstlose Wohltäter, besessene Forscher im kolonialen Grabungsrausch und skrupellose Opportunisten. Angesiedelt ist die in zwei Teile untergliederte Geschichte in Berlin zu Beginn des letzten Jahrhunderts, in deren Mittelpunkt der erfolgreiche jüdische Textilunternehmer und Finanzier der archäologischen Grabungen James Simon steht. Stefanie Gerhold ist es in sehr eindrucksvollen Episoden gelungen, bedeutsame Stationen im bewegten Leben dieses interessanten Charakters voller Ambitionen, Willensstärke und Leidenschaft für die Künste einzufangen, der für Berlin durch Gründung sozialer Einrichtungen und großzügiger Spenden Kunstschätzen an Museen unglaublich viel getan hat. Gerold zeichnet ein facettenreiches, glaubwürdiges Portrait seiner Persönlichkeit und seiner Stellung in der Berliner Gesellschaft. Gekonnt beleuchtet die Autorin auch die möglichen persönlichen Hintergründe für Simon selbstloses Handeln. Hautnah erleben wir seinen wirtschaftlichen Niedergang nach dem Ersten Weltkrieg und zunehmende antisemitische Anfeindungen gegenüber dem jüdischen Bürgertum mit bis hin schließlich zu seiner Verarmung und gänzlichen Bedeutungslosigkeit angesichts nationalistischer und antisemitischer Propaganda. Zudem geht Gerhold auf die recht umstrittenen Umstände, unter denen die Büste der Nofretete Deutschland zugesprochen wurde, Streitigkeiten um ihren Verbleib und die immer wieder aufgebrachten Rückgabeforderungen ein. Im Epilog erhalten wir schließlich zur Abrundung noch einen knappen Abriss über die weiteren Geschehnisse rund um die Büste der Nofretete und die persönliche Schicksale der Charaktere.

FAZIT

Ein interessanter Roman über die zeitlos schöne Nofretete-Büste, Hintergründe zu ihrer Ausgrabung und ihr Schicksal in höchst bewegten Zeiten! Eine abwechslungsreich erzählte und gut recherchierte Geschichte!

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Veröffentlicht am 25.04.2024

Beeindruckende Geschichtsstunde

Das Philosophenschiff
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MEINE MEINUNG
Der neue historische Roman des vielfach ausgezeichneten Autoren Michael Köhlmeier mit dem Titel „Das Philosophenschiff“ ist ein gelungenes, tiefsinniges Werk. Es gewährt uns nicht nur aufschlussreiche ...

MEINE MEINUNG
Der neue historische Roman des vielfach ausgezeichneten Autoren Michael Köhlmeier mit dem Titel „Das Philosophenschiff“ ist ein gelungenes, tiefsinniges Werk. Es gewährt uns nicht nur aufschlussreiche und beklemmende Einblicke in den bolschewistischen Terror nach der Oktoberrevolution sondern zeigt auch die vielfältigen Gefahren durch Diktaturen, Willkürakte von ideologisierten Staatenlenkern und die Verfolgung von Andersdenkenden auf und regt sehr zum Nachdenken an.
In der Rahmen- und Binnenerzählung seiner fesselnden Geschichte verwebt Köhlmeier auf beeindruckende Weise Fiktion und viele historische Fakten, die er sehr sorgsam recherchiert hat.
Im Mittelpunkt des Romans steht die Begegnung eines namenlos bleibenden Journalisten und Schriftstellers mit der hochbetagten russisch-jüdischen Architektin Anouk Perleman-Jacob, die ihn überraschend zu ihrem hundertjährigen Geburtstag eingeladen hat. Die alte Dame möchte, dass er ihre bewegte und bewegende Lebensgeschichte verfasst, die eng mit den Schrecken der Russischen Revolution und dem bolschewistischen Regime verflochten ist. In Anouks rückblickenden Berichten erfahren wir nach und nach, wie sie auf Befehl von Lenin 1922 als 14-jähriges Mädchen mit ihren Eltern und vielen unliebsamen Intellektuellen des Landes, darunter Schriftsteller, Philosophen, Journalisten und Historiker, auf einem der sogenannten "Philosophenschiffe" aus Russland ins Exil deportiert wurde. Überraschender Weise begegnet das junge Mädchen auf einem abgeriegelten Deck dem schwerkranken Lenin, der sich mit ihr in Gesprächen über Macht und Revolution austauscht.
Der Autor hat sich mit dieser fiktiven Begegnung eine literarische Freiheit herausgenommen und nutzt dieses geniale Stilmittel geschickt für eine subtile Darstellung von Lenin. Die verschiedenen einfühlsam erzählten Momentaufnahmen von Anouks Schicksal und dem der Verbannten auf dem Philosophenschiff hat mich sehr berühren können. Köhlmeier versteht es hervorragend, die Anspannungen, Ängste, Verzweiflung und das gegenseitige Misstrauen der Passagiere angesichts ihrer ungewissen Zukunft sehr authentisch und glaubhaft einzufangen.
Mich hat Köhlmeiers facettenreiches Spiel mit Wahrheit und Fiktion sehr in den Bann geschlagen. Gekonnt thematisiert er darüber hinaus in den Reflektionen des Schriftstellers auch die vielen Ebenen in Bezug auf die Kunst des Erzählens und den Unschärfen biografischen Schreibens.
ZUM HÖRBUCH
Der Roman wird vom Autor selber ungekürzt und äußerst überzeugend eingelesen. Michael Köhlmeier erweist sich als versierter Sprecher. Seine getragene Stimme passt hervorragend zur Geschichte und den Figuren. Er vermittelt die bedächtig und einfühlsam erzählte Geschichte sehr akzentuiert und nuancenreich, so dass sie einen immer mehr in ihren Bann zieht.
Ein grandioses Hörbucherlebnis!
FAZIT
Ein gelungenes, tiefsinniges Werk und eine faszinierende, nachdenklich stimmende Geschichtsstunde, die sehr zum weitergehenden Recherchieren anregt.

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