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Veröffentlicht am 12.05.2024

Die hässlichen Geheimnisse eines abgelegenen Dorfes

Die Schönheit der Rosalind Bone
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Rosalind ist wunderschön, das ist ihr Wort in einem abgelegenen walisischen Taldorf, in dem es für jeden ein Wort gibt, schwarz und weiß, gut und böse, kein Sinn für die Grautöne des Lebens. Egal ob Rosalind, ...

Rosalind ist wunderschön, das ist ihr Wort in einem abgelegenen walisischen Taldorf, in dem es für jeden ein Wort gibt, schwarz und weiß, gut und böse, kein Sinn für die Grautöne des Lebens. Egal ob Rosalind, die Schöne oder Daniel, der Kriminelle, niemand kann dem Gericht des Dorfklatsches und der Rolle, die das unsichtbare Dorftribunal definiert hat, entkommen.

Der Umgang im Dorf ist geprägt von Distanzlosigkeit und Übergriffigkeit ohne jemals echte Nähe zuzulassen, echtes Interesse am Gegenüber zu zeigen, das Hervorlugen hinter Vorhängen als olympische Disziplin. Ein Hinsehen, das letztlich nur dem Wegsehen dient. Was Rosalind bewegt, erlebt, fühlt, denkt, ist irrelevant, einzig ihre Schönheit wird gesehen, mit einer Mischung aus Neid und Missgunst.

Eingebettet ist diese dichte Stimmung eines Dorfporträts in eine landschaftlich passende Umgebung. Das Tal, in dem keine Sonne scheint, so wie sich auch das Glück selten zu seinen Bewohner:innen verirrt.

Die Sprache ist sehr dicht und poetisch, in nur wenigen Seiten entwirft Alex McCarthy ein Sittengemälde einer Dorfgemeinschaft, um das Schicksal von Rosalind Bone. In der Charakterisierung der Protagonist:innen und Analyse der sozialen Beziehungen geht die Autorin mit soziologischem Feingefühl vor, sodass der Roman sich zu einer Art poetischen Sozialstudie entwickelt. Auf diese Weise erzählt die Autorin mit Rosalinds Geschichte auch über weibliche Selbstermächtigung und die Bedeutung von Schwesternschaft in noch immer stark patriarchal geprägten Strukturen.

Die Schönheit der Rosalind Bone überzeugt vom ersten bis zum letzten Satz. Alex McCarthy hat mich mit ihrer Mischung aus literarischer Kunst und Sozialstudie vollends begeistert!

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Veröffentlicht am 10.05.2024

Erinnern braucht Mut, darüber zu reden noch mehr!

Es ist einmal
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Es ist einmal… Unter diesem Motto haben die Autorinnen Sabine Michel und Dörte Grimm zehn Gespräche zwischen Großeltern, die in der DDR geboren und/oder aufgewachsen sind und ihren Enkeln aufgezeichnet.

Durch ...

Es ist einmal… Unter diesem Motto haben die Autorinnen Sabine Michel und Dörte Grimm zehn Gespräche zwischen Großeltern, die in der DDR geboren und/oder aufgewachsen sind und ihren Enkeln aufgezeichnet.

Durch dieses Setting entsteht ein sehr persönlicher Zugang zur Vergangenheit, bei dem das Nachfragen der Enkelgeneration neue Türen öffnet, oft auch zu vergessenen, verdrängten Erinnerungen, ebenso wie den oft schmerzhaften Gefühlen, die damit verbunden sind. Gleichzeitig gelingt den Autorinnen, dass die Generationen sich ins Verhältnis setzen, Ähnlichkeiten und Unterschiede entdecken, und Kontinuitäten ebenso wie Brüche in Familiengeschichten deutlich werden.

Die Enkel sind zwischen 1982 und 2005 geboren, die Großeltern zwischen 1935 und 1955. Dadurch variieren auch zwischen den Geschichten ganz unabhängig von der jeweiligen Familie die Erfahrungen des Aufwachsens und Erlebens der zeithistorischen Kontexte. Während einige Enkel selbst keine eigenen Erinnerungen an die DDR haben, sind andere noch Pionier geworden. Auch die Großeltern blicken auf sehr unterschiedliche Lebenswege zurück, während einige vor dem zweiten Weltkrieg Geborene in ihrem Leben drei Gesellschaftssysteme und zwei Systemwechsel erlebt haben, sind andere in der DDR geboren, wieder andere sind als Kind aus Polen geflüchtet.

So entsteht eine echte Vielfalt von Perspektiven auf das Leben und die Erfahrungen in der DDR und die Familiengeschichten, die diese schreiben.

Sehr authentisch und sympathisch finde ich, dass die Autorinnen immer wieder kurze eigene Eindrücke schildern und situativ ihre eigene Biografie in den Geschichten verorten, wie etwa der eigene Besuch in Buchenwald, als ein Großelternteil davon erzählt. Dadurch entstand für mich beim Lesen eine noch größere Nähe zum Geschriebenen.

Bereichert wird der lesenswerte Band zusätzlich durch eindringliche Fotografien von Ina Schoenenburg.

Nicht selten fungieren die Gespräche als Türöffner und Anstoß des Dialogs über die Vergangenheit innerhalb der Familien über die Aufzeichnung hinaus. Und so erging es auch mir beim Lesen, denn neben den aufgezeichneten Geschichten bewegt dieses Buch auch ganz persönlich, um über die eigene Familiengeschichte mehr in Erfahrung zu bringen und ins Gespräch zu kommen. Eine ganz klare Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 06.05.2024

Gibt es eine echte Rettung vor Krieg und (vererbten) Traumata?

Und dann sind wir gerettet
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Aida ist 6 Jahre alt, als sie im Jahr 1992 mit ihren Eltern aus ihrer bosnischen Heimat vor dem Krieg flieht. Was folgt, ist nicht nur eine gefährliche Flucht durch ein bereits kriegsgebeuteltes Gebiet, ...

Aida ist 6 Jahre alt, als sie im Jahr 1992 mit ihren Eltern aus ihrer bosnischen Heimat vor dem Krieg flieht. Was folgt, ist nicht nur eine gefährliche Flucht durch ein bereits kriegsgebeuteltes Gebiet, sondern auch ein Ankommen in Italien, das zwar physisch zunächst Frieden verspricht, innerlich kann jedoch kein Familienmitglied die schrecklichen Erfahrungen abstreifen. Hinzu kommt die stete Sorge und Trauer um die zurückgelassenen Familienmitglieder und Freunde.

In diesem Rahmen erzählt Alessandra Carati auf drei Zeitebenen zwischen 1992 und 2013 die Geschichte einer Flucht, eines Ankommens und einer Rückkehr.

Poetisch und sensibel, mit einem besonderen Blick für die menschlichen Zwischentöne beschreibt die Autorin die Herausforderungen für das Familienleben, bei dem die Integration in das neue Umfeld der Sehnsucht nach der Heimat und dem Schmerz der Kriegserfahrung gegenübersteht und wie ein Pendel ausschlagen, ohne je in ein echtes Gleichgewicht zu finden, eben weil dies vielleicht auch kaum möglich ist.

In einer Familie zeigt Carati so die Variation von Traumata durch Kriegs- und Fluchterfahrung und den Umgang mit diesen, von Abgrenzung, Aggression über innere Verschlossenheit bis hin zur Psychose.

Und dann sind wir gerettet ist ein schmerzhaftes und hoffnungsvolles Buch zugleich, das nicht nur inhaltlich mit einem sensiblen Blick für psychische und soziale Herausforderungen in Verbindung mit Krieg, Flucht und Neuanfang, sondern auch einer wundervoll poetischen Sprache der Autorin überzeugt. An dieser Stelle muss auch die herausragende Übersetzung aus dem Italienischen unbedingt erwähnt werden.

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Veröffentlicht am 29.04.2024

Die Wegwerfmenschen - Nicht gehört, nicht gesehen, nicht geachtet

Und alle so still
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Elin, Ruth, Alma, Nuri. Vier Personen und jede leidet auf jeweils eigene Art unter den patriarchalen Strukturen, der Diskriminierung und Ausbeutung in der Gegenwartsgesellschaft. Während die junge Elin ...

Elin, Ruth, Alma, Nuri. Vier Personen und jede leidet auf jeweils eigene Art unter den patriarchalen Strukturen, der Diskriminierung und Ausbeutung in der Gegenwartsgesellschaft. Während die junge Elin als Social Media Star an der hohlen Selbstdarstellung zweifelt und Nähe und Anerkennung in kurzen sexuellen Abenteuern sucht, bekommt Nuri jeden Tag zu spüren, was es als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund bedeutet zu den nicht privilegierten Klassen in der modernen kapitalistischen Dienstleistungsökonomie mit zum Teil nicht mal rudimentärer sozialer Absicherung zu gehören. Ruth wiederum bekommt als Krankenpflegerin täglich die Konsequenzen eines Gesundheitssystems zu spüren, in dem echte Fürsorge und menschenwürdige Pflege nicht honoriert wird, im Gegenzug jedoch das Sparen auf Kosten von Patient:innen und dem Personal. Der Personalmangel in der Pflege wird so mit allen Konsequenzen für Patientinnen und Pflegekräfte bildlich herausgearbeitet.

Was die Protagonist:innen eint ist Einsamkeit und eine Verzweiflung an den Zumutungen, die dieses System an jeden einzelnen von ihnen und letztlich uns alle stellt. Doch wie dem entkommen? Wie kann Veränderung gelingen? Die Autorin skizziert im Roman hierzu ein mögliches Szenario und setzt dieses auch sprachlich hervorragend um.

Gekonnt buchstabiert Mareike Fallwickl die Bedeutung von Systemrelevanz literarisch aus und führt uns damit vor Augen was tatsächlich passiert, wenn all die als selbstverständlich wahrgenommenen Tätigkeiten von Frauen im Privaten wie im Beruflichen nicht erledigt werden. Dabei beweist sie einen sensiblen Blick nicht nur auf Sexismus und Misogynie sondern ebenso auf all die Zumutungen eines harten Arbeiter:innenlebens.

Und alle so still - ist das Gegenteil seines Titels, denn still ist dieser aufwühlende, emanzipatorische Roman sicher nicht! Und das ist genau richtig!

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Veröffentlicht am 27.04.2024

Manod und die Insel

Die Tage des Wals
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Es ist das Jahr 1938, Manod lebt mit ihrer jüngeren Schwester Llinos und ihrem Vater auf einer kleinen Insel vor der walisischen Küste. Das Leben auf dem kleinen Eiland ist einsam, hart, geprägt von Abgeschiedenheit ...

Es ist das Jahr 1938, Manod lebt mit ihrer jüngeren Schwester Llinos und ihrem Vater auf einer kleinen Insel vor der walisischen Küste. Das Leben auf dem kleinen Eiland ist einsam, hart, geprägt von Abgeschiedenheit und dem täglichen Überleben mit Fischerei und etwas Tierhaltung.

Die ohnehin geringe Inselbevölkerung im niedrigen zweistelligen Bereich dezimiert sich kontinuierlich. Junge Männer suchen ihr Glück und bessere Lebensbedingungen oft auf dem nahe gelegenen Festland. Mit 18 Jahren ist für Manod in diesem Umfeld ihr Weg als Frau scheinbar vorbestimmt, heiraten, Kinder bekommen, früh Witwe werden, weil das Meer den Mann genommen hat, völlig ausgelaugt bereits unter 30. Die intelligente junge Frau spürt jedoch, dass sie etwas anderes möchte, lernen, sich entwickeln, unabhängig sein.

Als die Forscher Joan und Edward auf die Insel kommen, bringen sie nicht nur das Leben auf der Insel aus der gewohnten Routine. Gerade der Kontakt zur selbständigen Joan zeigt Manod andere Perspektiven und Lebensweisen als Frau auf, die für sie neue Hoffnungen auf ein anderes Leben jenseits der Insel Gestalt annehmen lassen.

Neben Manods persönlicher Entwicklung gelingt es der Autorin sehr sensibel und authentisch die Gemeinschaft der Inselbewohner:innen zu porträtieren, ihr Leben mit nur sporadischen Informationen vom Festland und nah an der Natur, das gerade deshalb auch hart ist und vom Respekt vor den Naturgewalten, allen voran dem Meer, geprägt ist. Mit Joan und Edward thematisiert sie, ob und in wie weit der Blick mit dem die Forschung abgeschiedene autochthone Gemeinschaften vor der walisischen Küste untersucht hat von Respekt und Augenhöhe gelenkt war.

Die Sprache ist karg und poetisch zugleich. An einigen Stellen erinnert sie mich an Annie Ernaux, was vermutlich kein Zufall ist. Denn wie erfasst man ein karges, einfaches (Arbeits-)Leben, dass von so viel Härte und Entbehrung geprägt ist, angemessen? Es sind die schlichten, kraftvollen Sätze, die dieses Leben auch sprachlich einfangen und ein Gefühl dafür vermitteln. Was bei Ernaux das entbehrungsreiche Arbeiterleben in der französischen Provinz ist, ist bei O‘Connor das Leben auf einer walisischen Insel.

Die Tage des Wals ist ein ruhiger Roman mit einer wundervollen, reifen Sprache, die in ihrer kargen Poesie die Lebensrealität Manods und der Inselbewohner authentisch einzufangen weiß.

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