Vergangenheit ist der Ursprung der Gegenwart
zusammen bleibenSylvia Schmieder beweist in ihrem zweiten Roman einmal mehr, wie sehr sich die Vergangenheit, die eigene, die der Heimat, die der Vorfahren auf die Gegenwart auswirkt. Nicht immer sind die Einflüsse so ...
Sylvia Schmieder beweist in ihrem zweiten Roman einmal mehr, wie sehr sich die Vergangenheit, die eigene, die der Heimat, die der Vorfahren auf die Gegenwart auswirkt. Nicht immer sind die Einflüsse so positiv wie die Erinnerung an einen verwunschenen Garten oder ein Lieblingsgericht.
Dem Leser wird eine große, weit verzweigte und sehr unterschiedliche Familie vorgestellt. Im Fokus steht Mari, die Großmutter, aber Claudia, ihre Enkelin, ist diejenige, die als autofiktionale Person prägend ist für das Schreiben dieser Familiengeschichte. Die Herkunft von Mari, der Frau aus dem Dreiländereck Österreich – Ungarn – Slowakei mit ihrem nicht ganz hundertprozentigen Deutsch, heiratet Ludwig, den Deutschen, mit dem sie bald drei, vier, später sogar fünf Kinder hat und mit dem sie versucht, Freud und Leid zu teilen, bis dass der Tod sie scheidet. So hat sie es bei der Trauung wohl versprochen, davon wird sie nichts und niemand abbringen. Sie folgt also Ludwig in jungen Jahren hoffnungsvoll nach Deutschland, in die Stadt Frankfurt, wo sie ein Haus kaufen, das sie sogar bis zum Ende der Geschichte bewohnen werden. Dass ihnen ihr Familienglück durch den zweiten Weltkrieg gestört, ja fast zerstört wird, ahnt man ab der ersten Seite. Ludwig meldet sich freiwillig zur Waffen-SS und Mari muss zuerst drei, dann vier Kinder – denn es kommt noch Heinerle, das Fronturlaubskind, hinzu, – vor Hunger, Krankheiten, Bomben und anderem Unheil schützen. Die drei Großen sind Rudolf, Dieter und Klara, die im Roman später die Mutter von Claudia wird. Die Kinder sind sehr unterschiedlich, trotzdem halten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Mari flieht im Krieg zeitweise zu den Verwandten in die Slowakei, aber der Ausflug wir jäh abgebrochen und das Kriegsende müssen alle in Frankfurt erleben. Ich will nicht zu viel preisgeben von der Geschichte, aber eines will ich doch noch beschreiben. Klara will nach dem Krieg von ihrem Onkel Peter, dem Bruder von Mari, mehr über das KZ Mauthausen erfahren, in das er wegen defätistischer Artikel eingesperrt wurde. Dass Klara nur wenige Sätze reichen, um ihren Wissensdurst jäh zu stoppen, weil die Geschichte, die Peter erzählt, zu grausam ist, um sie zu ertragen, das hat mich sehr bewegt. Gerade dieses Wegschauen, das ihre Brüder mit stoischem Schweigen über die Kriegseindrücke auch versuchen, das muss auch heute noch immer wieder ins Gegenteil verkehrt werden. Das versucht dieses Buch und schafft es, meine Distanziertheit zu der Familie Wachholz doch etwas aufzubrechen. Täter-Opfer-Sichten verwandeln sich manchmal ins Gegenteil. Und Sylvia Schmieder gelingt es, jeden ihrer Protagonisten lebendig darzustellen, zu charakterisieren, auch wenn das manchmal nur kurz ausfällt, wie beispielsweise das Verhalten von Ludwig, als er plötzlich wieder zurück ist aus der Gefangenschaft. Denn es ist nicht nur für ihn typisch, sondern für einen Großteil der Weltkriegsteilnehmer. Sie leben mit ihren Traumata, ihren Ängsten und ihrer Schuld, nichts davon wird ihnen genommen. Der Gang zum Therapeuten auf die Couch war nach Kriegsende keine Option, so mussten die Familien die Dramen ertragen und konnten froh sein, wenn der Vater, Großvater, Bruder überhaupt lebendig geblieben war.
Claudia wächst in den 1960er, 1970er Jahren heran und trägt das Trauma des Krieges noch in der zweiten Generation auf ihren Schultern und ihrer Seele. Dass sie, trotzdem oder gerade, weil man es ihr so schwer machte, ihre Ziele erreicht hat, ist umso schöner.
Der Ausklang des Romans versucht, alles vorher Geschriebene in einer perlenbunten Traumwelt zu verarbeiten. Doch Träume enden und die Wirklichkeit bleibt, jeder ist seines Glückes Schmied, dem einen gelingt ein filigranes Kunstwerk, der andere schmiedet ein Hufeisen.
Da ich den Nationalsozialismus, den zweiten Weltkrieg und den Holocaust vorrangig, bedingt durch meine eigene Familiengeschichte, aus der Rolle der Opfer betrachte, empfand ich den Roman als Bereicherung, was meine Kenntnisse und Erkenntnisse über das Leben und die Rolle der Mitläufer oder Täter anbelangt. So ließ die Erzählung über die Aneignung von arisiertem Eigentum bei mir natürlich alle Alarmglocken schellen. Selbst wenn später „Wiedergutmachung“ geleistet wurde, die ermordeten Juden hat es nicht wieder lebendig gemacht.
Der Roman hat sich nicht ganz flüssig gelesen, viele Namen, Orte, unterschiedliche Schreibweisen, man geriet leicht aufs falsche Gleis, wenn man nicht aufmerksam war. Nicht alles war wegen abrupter gedanklicher Richtungsänderungen oder ungewöhnlicher Formulierungen sofort verständlich. Wie gesagt, das Buch fordert die komplette Aufmerksamkeit, Ablenkungen sollte man vermeiden. Mir hätte tatsächlich eine Familienübersicht oder ein Stammbaum das Ganze etwas erleichtert.
Zum Buch, zur Gestaltung: Die kleine Schrift ist (für mich als Brillenträger) sehr anstrengend zu lesen, fast hätte ich kapituliert. Leider gibt es kein E-Book, das in Hinsicht auf die Schriftgröße wesentlich komfortabler wäre. Gleiches gilt für das Aufsuchen von bestimmten Textstellen, so bleiben nur ein Bleistift und bunte Klebemarker, wenn man sich etwas notieren will. Warum das Inhaltsverzeichnis am Ende steht, weiß ich nicht, ich glaube es wäre am Anfang besser platziert. Das Cover gefällt mir recht gut, der Titel „zusammenbleiben“ passt zu dem, was ich zu Beginn schrieb.
Fazit: Eine lesenswerte, nicht alltäglich Familiengeschichte, die Einblicke gewährt in das Leben und Überleben, und nicht wegschaut, wenn es hart und unmenschlich zugeht.