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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.07.2024

Große Leseempfehlung für ein so wichtiges Buch!

Grausam und lieblich
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Sieben Perspektiven, sieben Schicksale, sieben Leben. Sieben Geschichten, die erschüttern, die berühren, die nachhallen - die mich das Buch zuklappen lassen, um zu begreifen, was gerade geschehen ist. ...

Sieben Perspektiven, sieben Schicksale, sieben Leben. Sieben Geschichten, die erschüttern, die berühren, die nachhallen - die mich das Buch zuklappen lassen, um zu begreifen, was gerade geschehen ist. Sieben völlig verschiedene Erzählungen, die doch eines teilen. Denn sie können sich nur aus einem Grund genau so ereignen: weil Menschen mit Schwarzer Haut die Protagonistinnen sind.

Trauer und Wut, Angst und Ungerechtigkeit, Schmerz, Gewalt und die Unfähigkeit, aus eigener Kraft eine Veränderung herbeizuführen. Sieh die Welt aus ihren Augen, fühle das Leid in ihrer Haut - nur so können wir endlich begreifen.

TW: Gewalt, T
d, Rssismus, Misogynie

💜

Dieses Buch passt so perfekt ins Heute, dass mir während des Lesens immer wieder eiskalt wurde.

Eine der Kurzgeschichten trifft die aktuelle politische Lage, als hätte die Autorin Anfang des Jahres in eine Glaskugel geblickt. Andere Kurzgeschichten handeln von Flucht und zeigen so unfassbar echt, was es bedeutet, in einem anderen Land Asyl beantragen zu müssen. Auch Gewalt gegen Schwarze Frauen ist ein großes und so dringendes Thema des Buchs.

Wie fühlt sich Rechts
xtremismus an, wenn man fürchten muss, erneut die Heimat zu verlassen? Wie fühlt es sich an, mit Traumata zu leben? Wie fühlt es sich an, einen Menschen durch rssistische Gewalt zu verlieren? Wie fühlt es sich an, jeden einzelnen Tag Rssismus zu erleben?

Und wie verändert sich ein Land, wenn der Rechts*xtremismus siegt?

Die sieben Kurzgeschichten zeichnen sich aus durch eine enorme Intensität und eine schonungslose Sprache. Doch damit erreichen sie meiner Meinung nach genau das, was wir dringend brauchen: Sie rütteln wach, sie reißen uns aus der Starre, sie schreien uns die Wahrheit ins Gesicht.

Jede einzelne Geschichte erzählt uns von einem Kampf - und wir können entscheiden, ob wir diesen Kampf nicht gemeinsam kämpfen wollen?!

Veröffentlicht am 21.06.2024

Die Hürden des Alltags - über das Leben mit einer psychischen Erkrankung

Welches Königreich
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Linoleumböden, ein Whiteboard mit dem Essensplan, Gemeinschaftsküche, Schlaflosigkeit, Zigaretten, Karaoke-Maschine, Feuertreppe, Borderline-Diagnose, Herr-der-Ringe-Poster, eine Tasse Nescafé, Gemeinschaftsgefühl, ...

Linoleumböden, ein Whiteboard mit dem Essensplan, Gemeinschaftsküche, Schlaflosigkeit, Zigaretten, Karaoke-Maschine, Feuertreppe, Borderline-Diagnose, Herr-der-Ringe-Poster, eine Tasse Nescafé, Gemeinschaftsgefühl, Medikamentendispenser, Schizophrenie, Esstörungen, Sommernächte, Wohngruppentreffen, Regeln, Bezugsbetreuerinnen, Wut. Über allem schwebt der Versuch, Alltagsstrukturen zu entwickeln, mit einem so weit entfernten Ziel: sowas wie Normalität.

Sara, Lasse, Marie, Hector, Waheed und die namenlose Ich-Erzählerin leben nach längeren Psychiatrie-Aufenthalten in einer Wohngruppe in Kopenhagen. Unterstützt werden sie vom Betreuungspersonal, damit das (Über-)Leben irgendwann wichtiger wird als das Sterben.

TW: psychische Erkrankungen, Selbstverl
tzung, Sui2idversuche

🍋🍋🍋

In kurzen Kapiteln gewährt uns die Protagonistin Einblicke in die Situation im Wohnheim, in das Zusammenleben mit den Mitbewohnerinnen, in ihre Gedanken und Gefühle, in die wichtige Arbeit der Betreuerinnen, in die Gesetzeslage und in ihre Vergangenheit. Wir erfahren dabei immer nur kleine Momentaufnahmen, doch sie lassen uns vor allem nachfühlen und sie haben so viel Kraft.

Auch wenn es um unvorstellbar schlimme Momente geht, ist die Sprache ruhig und nüchtern. Für sehr emotionale und sensible Menschen wie mich, war der Stil somit eine Wohltat. Denn ich habe eine total authentisch wirkende Sichtweise erhalten, konnte nachvollziehen und mitfühlen, ohne dass ich dabei an meine Grenzen geraten bin.

Gleichzeitig empfand ich die nüchterne Sprache wie einen dämpfenden Schleier, der sich über die Kapitel legt - ganz ähnlich wie ich die Wirkung diverser Medikamente aus den Erzählungen betroffener Personen kenne.

Vielleicht hat die Autorin dieses Stilmittel bewusst gewählt, vielleicht auch nicht. Für mich wirkt der Roman in jedem Fall absolut lebensnah, echt, greifbar, realistisch und vor allem eines: unglaublich bereichernd! Dringend lesen!

Veröffentlicht am 17.06.2024

Schatten, Geister und starke Frauen

Heiligenbilder und Heuschrecken
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Ein Dorfleben früher wie heute - wer nicht zu den anderen passt, wer sich nicht der Norm entsprechend verhält, wer nicht dem Trott der Gemeinschaft folgt, wird ausgegrenzt und geächtet. Da können Generationen ...

Ein Dorfleben früher wie heute - wer nicht zu den anderen passt, wer sich nicht der Norm entsprechend verhält, wer nicht dem Trott der Gemeinschaft folgt, wird ausgegrenzt und geächtet. Da können Generationen die vorherigen und die davor überleben, das wird sich niemals ändern.

So geht es auch einer jungen Frau und ihrer Großmutter in Südspanien. Sie haben nie dazu gehört, sie wurden schon immer gemieden, ihr Ruf eilt ihnen voraus. Doch sie werden sich rächen - mit ihren eigenen, unvergleichlichen Mitteln. Diejenigen, die Leid über die Familie gebracht haben, sollen dafür bezahlen.

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Schon ganz früh ist zu spüren, dass die Enkelin und die Großmutter über höhere Mächte verfügen. Doch, was sich zuerst nach einem Schauerroman anfühlt, nimmt für mich nach ein paar Kapiteln einen ganz besondere Entwicklung. Denn dass der Tod im Haus der beiden Frauen sein Unwesen treibt, wird von gruselig zu spannend zu magisch (im positivsten Sinne).

Es ist gar nicht schlimm, dass Geister, Schatten und übernatürliche Kräfte beteiligt sind am Alltag dieses Hauses. Im Gegenteil, ich fiebere mit, habe Spaß an den Ritualen, bin gespannt, wann die Heiligen sich als nächstes blicken lassen. Und ich wünsche mir, dass das Haus immer mächtiger wird, dass es die bösen Menschen im Dorf in die Mangel nimmt, die der Familie unrecht getan haben.

Es ist eine Geschichte über neu erstarkte Frauen, die sich rächen für ihr eigenes Schicksal und für die Frauen, die einst in diesem Dorf und in diesem Haus unterdrückt, verdammt und verstoßen, gequält und misshndelt wurden. Es ist eine Geschichte über Feminismus, über Machtmissbruch, über Misogynie, über Gerechtigkeit und Genugtuung und über die Hilfe von „oben“, die man sich im echten Leben so oft wünschen würde.

Die Sprache ist nah, authentisch und voller Emotionen – und auch grandios ins Deutsche übersetzt. Der wechselnde Blickwinkel zwischen Enkelin und Großmutter hat sehr gut zur Handlung gepasst und war für mich das i-Tüpfelchen.

Ich hatte eine wahre Freude am Lesen und ich habe die Paukenschläge geliebt, die das Dorf immer wieder zum Beben brachten.

Veröffentlicht am 10.06.2024

Vom Erwachsenwerden und von schmerzhaften Erlebnissen

MAAME
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Maddie leistet Care-Arbeit und verpasst dabei ihre frühen 20er-Jahre mitsamt all den Lebensabschnitten, die uns ins Erwachsenwerden begleiten. Da ist der Spitzname „Maame“ Programm, den sie von ihrer aus ...

Maddie leistet Care-Arbeit und verpasst dabei ihre frühen 20er-Jahre mitsamt all den Lebensabschnitten, die uns ins Erwachsenwerden begleiten. Da ist der Spitzname „Maame“ Programm, den sie von ihrer aus Ghana stammenden Familie bekommt. Denn „Maame“ heißt sowas wie Frau, Mutter, „Person, die sich um jeden kümmert“ oder einfach „verantwortlich für alle(s)“.

Wie und ob Maddie der Sprung in die Welt einer selbstständigen und starken jungen Frau gelingt, erfahren wir in diesem Roman.

🧡💙🩷

Was bin ich durch die Seiten gerauscht! Wenn ich ein Buch mit fast 500 Seiten mit wenigen Unterbrechungen durchlese, dann muss einfach sensationell geschrieben sein. Sowohl Jessica George als auch der Übersetzerin gelingt es mit einem so lebendigen und authentischen Schreibstil, dass ich Maddies Geschichte nicht nur (super gerne) lese, sondern miterlebe.

Besonders geliebt habe ich daran, dass Maddie so ein normales Mädchen ist mit so normalen Erlebnissen und Learnings, wie es so vielen Mädchen in den frühen 20ern geht. Zumindest ich konnte mich ganz wunderbar mit ihr identifizieren, auch wenn Maddies Entwicklung - bedingt durch ihre (teilweise selbst auferlegten) Verpflichtungen zuhause - erst recht spät beginnen konnte.

An vielen Stellen habe ich mir gewünscht, es hätte dieses Buch schon knapp 15 Jahre früher gegeben. Denn ich finde es sehr bereichernd und so wichtig, was Maddie uns über das Selbstwertgefühl, über eine gleichberechtigte, würdevolle S
xualität, über Mikroaggrssionen, Alltagsrssismus und Feminismus mitgibt.

Zwei weitere Themen, die unfassbar spannend sind und in MAAME einen sehr hohen Stellenwert bekommen, sind Trauer - und damit verbunden der Umgang mit einem schrecklichen Verlust - und Freundschaft. Und nach dem Lesen war ich wirklich richtig traurig, dass es in meinem Leben keine Shu und Nia gab und gibt. 💔 Wie wundervoll kann Freundschaft bitte sein? 🥹

Eine riesige Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 18.05.2024

Was das Auge des Wals erzählt

Zur See
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Da sind die fünf Sanders - Hanne und Jens mit ihren drei erwachsenen Kindern Ryckmer, Eske und Henrik. Sie leben ein Inselleben vor der Nordseeküste und wir dürfen sie ein Jahr lang dabei begleiten. Und ...

Da sind die fünf Sanders - Hanne und Jens mit ihren drei erwachsenen Kindern Ryckmer, Eske und Henrik. Sie leben ein Inselleben vor der Nordseeküste und wir dürfen sie ein Jahr lang dabei begleiten. Und dann ist da noch der Inselpastor, der die Balance finden muss zwischen seiner Ehe und der Arbeit in der Kirche.

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Dörte Hansen lässt uns in „Zur See“ tief blicken in die Seelen der Sanders und des Inselpastors. Die Charaktere könnten verschiedener nicht sein, und ganz bestimmt findet man sich selbst in einem der Inselbewohnerinnen wieder.

Mit großer Sorgfalt und ganz viel Feingefühl gelingt es der Autorin, die Gefühle jedes Einzelnen authentisch und nachvollziehbar aufs Papier zu bringen. Selbst wenn ich eine Figur zuerst auch noch so verschroben fand, entwickelte ich im Laufe der Kapitel Verständnis und Empathie.

Eine Museumsführerin, ein Vogelwart, ein Fährkapitän, eine Altenpflegerin, ein Strandgutkünstler und ein Pastor - verschiedener geht es kaum und dennoch teilen sie ähnliche Wünsche und Sorgen.

Es ist das starke Heimatgefühl, das alle sechs eint. Die Verbundenheit mit der Insel und das Bröckeln des Fundaments. Durch den Klimawandel, durch den Tourismus, durch das harte Inselleben, durch familiäre Katastrophen, durch den Verlust von Tradition und Sprache, durch Missverständnisse und Suchtprobleme, durch eine Kindheit ohne Halt und Wärme - durch all dies gerät die Inselwelt ins Wanken.

Ein wahres Highlight war für mich das Kapitel des Wals, das so wunderbar zeigte, dass das wichtige Erbe und das Seemannswissen der Inselbewohner
innen schon längst nicht mehr so präsent sind, wie sie es erwartet hätten und nach außen hin verkörpern möchten. Außerdem steht der Wal in meinen Augen für ein Omen, für einen Wink des Schicksals und für eine Wendung - was mir unglaublich gut gefallen hat.

Eine riesige Empfehlung für einen Roman, der in einer unfassbar atmosphärischen Sprache ein Meisterwerk aus Bildern schafft mit der perfekt gewichteten Brise Melancholie.