Inhalt vs Stil - eine zwiegespaltene Erfahrung
Natural FlowInhalt
“Natural Flow” ist ein Ratgeber, Lebenshilfe, geschrieben von der promovierten Wirtschaftspsychologin Miriam Stark - aber definitiv kein Sachbuch. Die Autorin praktiziert als Beraterin/Coach zu ...
Inhalt
“Natural Flow” ist ein Ratgeber, Lebenshilfe, geschrieben von der promovierten Wirtschaftspsychologin Miriam Stark - aber definitiv kein Sachbuch. Die Autorin praktiziert als Beraterin/Coach zu zyklusorientiertem Leben.
In einem ersten Teil widmet sich die Autorin der physischen Ebene des weiblichen Zyklus. Das Herzstück, auf das auch im weiteren Verlauf substanziell Bezug genommen wird, ist dabei die Erläuterung des weiblichen Hormonhaushalts und der vier daraus abgeleiteten Zyklusphasen.
Den zweiten Teil bezeichnet die Autorin als psychologische Ebene. Hier bemüht sie sich, einen Wirkzusammenhang der hormonellen Vorgänge mit psychischen - oder besser seelischen - Zuständen herzustellen. Sie erläutert das Konzept von vier verschiedenen Anteilen - die Junge, die Mutter, die Magierin, die Alte - welche jede Frau in sich trägt und wie psychische und/oder somatische Leiden auf Vernachlässigung eines oder mehrerer dieser Anteile zurückgeführt werden können. Jedes Kapitel enthält eine Anleitung zu einer mentalen Reise und wird durch fiktive, aber durch die eigene Praxis inspirierte, Fallbeispiele illustriert.
Im dritten Teil beleuchtet Dr. Stark - vor dem Hintergrund der vorgängig aufgestellten Theorie - Sonderfälle (z.B. Schwangerschaft) und ausgewählte Problemlagen (z.B. Mittelschmerz) des weiblichen Zyklus.
Als viertes gibt die Autorin einen Abriss praktischer Tipps für Individuen, Paare und Arbeitgeber:innen, die zu einer positiveren privaten und geschäftlichen Alltagserfahrung und eben dem versprochenen “Natural Flow” führen sollen.
Meine Meinung
Inhaltlich gab es für mich beim Lesen viele Momente, in denen ich mich angesprochen gefühlt habe. Gerade der physiologische Aspekt, der hormonelle Zyklus und die Erläuterungen der möglichen psychologischen Wirkungen der Hormonlevel waren für mich sehr erhellend. Ich fand es auch spannend, wie die Autorin psychosomatische Wirkzusammenhänge vorgeschlagen hat. Das Konzept der vier weiblichen Anteile und die damit einhergehenden Superkräfte finde ich interessant und nehme ich gerne zur weiteren Erkundung mit.
Meiner Meinung nach hat die Autorin es geschafft, eine schlüssige Verbindung zwischen physischer und psychischer/seelischer Ebene zu schaffen - auch wenn die Argumentationskette nicht zwingend oder wissenschaftlich tadellos ist. Sie hat es aber geschafft, wichtige Denkanstösse zu kreieren. Und ich begrüsse und schätze ihr Bemühen, Frauen dazu zu ermutigen, ihrem Körper und ihrer Psyche mehr Beachtung zu schenken, achtsam mit beidem umzugehen und für die eigenen Bedürfnisse Platz zu machen.
Andere Punkte - ganze Kapitel sogar - habe ich allerdings als eher stiefmütterlich behandelt wahrgenommen. Themen wie Verhütung, Endometriose etc. werden nur angerissen und sehr einseitig und teils reisserisch betrachtet. Hier sehe ich sehr viel persönliche Meinung der Autorin und die Theorie und Methode Miriam Stark (oder eben Natural Flow), aber wenig überzeugendes oder wissenschaftliches Fundament. Auch die Referenz auf patriarchale Strukturen wird immer wieder gemacht, ohne dass diese in angemessener Form vordiskutiert wurden.
Die vorgeschlagenen Meditationen empfinde ich als einfache Möglichkeit, mit sich selbst in Kontakt zu treten. Zusammen mit dem simplen Tracking Tool aus dem Anhang stellt Dr. Stark hier einen niederschwelligen Einstieg zum zyklusorientiert(er)en Leben vor. Während viele Alltagstipps und Vorschläge der Autorin interessant und vielleicht sogar hilfreich sind, zielen viele - insbesondere die berufsrelevanten - auf eine sozioökonomische Elite als Zielpublikum ab. Zu dieser fühle ich mich nur bedingt zugehörig und es stellte sich für mich immer wieder die Frage, ob denn zyklusorientiertes Leben im Natural Flow nichts für die breite Masse ist. Oder ob Dr. Stark diese Masse durch ihren eigenen Hintergrund und ihre Erfahrungen einfach nicht bedienen kann.
Eine extreme Herausforderung war für mich das sprachliche Gewand, in dem dieses Buch daher kommt. Die “umarmende” Sprache, mit der die Autorin sehr grosszügig umgeht, hat es mitunter schwer gemacht, den präsentierten Informationen und Gedanken zu folgen. Der ausschweifende Stil hat meinen Fokus - und meinen Durchhaltewillen - immer wieder schwer auf die Probe gestellt. Das Buch wimmelt ausserdem von englischen Ausdrücken, ja sogar ganzen Sätzen. Das mag im verbalen Austausch angehen, in geringen Dosen vielleicht sogar in einem Buch. Hier war es für mich definitiv irritierend und nervig, denn es wirkt auf mich unprofessionell und nachlässig.
Mit ihrem Stil hat die Autorin leider an ihrer eigenen Glaubwürdigkeit gekratzt. Und als wäre das nicht schade genug, schafft sie es auch immer wieder, sich selbst in die esoterische Ecke zu stellen. Obwohl sie genau das zu vermeiden versucht, in dem sie wortreich ankündigt, dass es jetzt abgefahren wird, Bilder von klischeehaften Esotanten heraufbeschwört - und dann alles mit einem “glaubt mir” wegzuwischen versucht. Liebe Frau Dr. Stark, wir Leser:innen sitzen ihnen nicht in ihrem Beratungszimmer gegenüber. Beziehungsarbeit funktioniert nicht auf dieselbe Weise. Sie haben nicht einfach mein Vertrauen, weil Sie mich dazu auffordern. Und mit ihrem blumigen Motivationstrainer/Lebenscoach Geschwafel und den lautmalerischen Schwelgereien haben Sie es mir richtig schwer gemacht, Sie fachlich trotzdem ernst zu nehmen.
Fazit
Inhaltlich behandelt “Natural Flow” wichtige und spannende Themen, die jede Person mit Gebärmutter, deren Partner:innen und Arbeitgeber:innen etwas angehen (sollten). Ich schätze und unterstütze den Aufruf zu mehr Achtsamkeit und Respekt für unsere Körper und Seelen. Und obwohl mir das Buch einige Denk- und Handlungsanstösse gegeben hat, fühle ich mich nicht der sozioökonomischen Elite angehörig, an die ich das Buch gerichtet empfinde. Ich fühle mich tendenziell exkludiert. Sprachlich und stilistisch war es für mich ausserdem nahezu unlesbar.