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Veröffentlicht am 04.07.2024

Agathe Heidling

Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens
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Das ausgehende 19. Jahrhundert ist voll von tragischen literarischen Frauenfiguren: Anna Karenina, Nana, Lulu, Nora; wohl eine der bekanntesten ist Fontanes Effi Briest. Von Agathe Heidling hingegen mag ...

Das ausgehende 19. Jahrhundert ist voll von tragischen literarischen Frauenfiguren: Anna Karenina, Nana, Lulu, Nora; wohl eine der bekanntesten ist Fontanes Effi Briest. Von Agathe Heidling hingegen mag kaum jemand bisher gehört haben, obwohl das (eigentlich ihren Namen hätte tragen sollende) Werk die Autorin quasi über Nacht berühmt machte, als der Roman 1895 erschien. Nun haben viele der genannten Damen ihr Schicksal selbst besiegelt, Agathe hingegen scheitert aufgrund äußerer Einflüsse, denen sie machtlos gegenübersteht.


Reuter zeichnet das Leben einer Frau vom Eintritt in die Erwachsenenwelt (Konfirmation mit 16 Jahren) bis etwa zu ihrem 40. Lebensjahr nach. Eingebettet in ein Sittengemälde inmitten des Deutschen Kaiserreiches (1871-1918) bemüht sich die sensible und gleichzeitig schwärmerische Agathe um ein Leben ganz im Sinne ihrer Stellung als bürgerliche Tochter eines Regierungsrates. Ihre romantische Leidenschaft für den Dichter Lord Byron überträgt sie bald auf eine reale Person, die Agathe ebenso enttäuscht, wie andere Männer in ihrem Umfeld. Vorneweg ihr eigenen Bruder, der sich als moralischer Totalausfall entpuppt.


Quasi ihre Gegenspielerin ist die frühreife und berechnende Freundin Eugenie, die sich trotz ihres schlechten Charakters passgenau in die Gesellschaft einfügt. Insgesamt sind es jedoch die Männer, an denen Agathe und ihr Wesen scheitern. So wird schon auf den ersten Seiten deutlich, dass diese z.B. entscheiden, was Agathe lesen darf und was nicht. Das wird sich später auf noch radikalere Weise wiederholen, wenn ihr Vater seinen eigenen Bücherschrank vor der Tochter verschließt und Agathe reflektiert sehr wohl, dass es sich hier um eine systematische Behandlung von Frauen handelt: "Sie war 'das junge Mädchen' - und musste es bleiben, bis man sie welk und vertrocknet, mit grauen Haaren und eingeschrumpftem Hirn in den Sarg legte - ?" (S. 204) Ihr Aufbegehren gegen die Benachteiligung von Frauen innerhalb und außerhalb der Familie endet für sie in einem Fiasko.


Neben der lesenswerten Geschichte um die Protagonistin waren die Einblicke in eine Gesellschaft im Aufbruch (beginnende Industrialisierung, Aufkommen der Sozialdemokratie und Frauenemanzipation) sehr interessant. Der Schreibstil kommt mir teilweise ausgesprochen modern vor, andere Passagen sind sehr bildhaft.


Eine weitere feine Wiederentdeckung in Reclams Klassikerinnen Reihe, wie immer mit einem sehr informativen Nachwort; in diesem Falle von Tobias Schwartz.

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Veröffentlicht am 24.06.2024

And Now for Something Completely Different

Erebus
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Sir Michael Palin war nicht nur Mitglied von Monty Python, sondern auch Präsident der Royal Geographical Society in London und hat zahlreiche Dokumentationen gedreht und Bücher veröffentlicht. Das vorliegende ...

Sir Michael Palin war nicht nur Mitglied von Monty Python, sondern auch Präsident der Royal Geographical Society in London und hat zahlreiche Dokumentationen gedreht und Bücher veröffentlicht. Das vorliegende erzählt die Geschichte der HMS Erebus, die während der sogenannten Franklin-Expedition, die 1845 in See stach, um die Nordwestpassage zu entdecken, verschwand. Das Buch handelt jedoch nicht nur reißerisch von dieser verhängnisvollen Fahrt in die Arktis, sondern widmet sich detailreich und hoch interessant allen Fahrten des Segelschiffes und seiner Besatzung. Das 1826 vom Stapel gelaufene Schiff unternahm unter dem Kommando von James Clark Ross bereits von 1839 bis 1843 drei Fahrten innerhalb einer Antarktisexpedition, gemeinsam mit dem Schwesterschiff Terror, das ebenso Teil der Franklin-Expedition war und verschwand.

Ohne Zweifel ist dies ein Sachbuch, das sicherlich nicht für jede und jeden interessant ist, aber es ist unterhaltsam und einfühlsam geschrieben. Die vielen Sachverhalte, Namen und Details wurden kenntnisreich zusammengetragen und vermitteln ein Bild der Strapazen, denen die Männer während aller Fahrten ausgesetzt waren. Es wird aber auch auf die Erfolge der ersten Expeditionsfahrten eingegangen, auf die Erkundung neuer Küsten, die verbesserte Seekarten zur Folge hatte, sowie die Vielfalt der Flora und Fauna, die von den Botanikern an Bord der Segelschiffe dokumentiert wurde. Palin verliert sich nicht in Phantasien und Spekulationen, sondern bleibt bei den überlieferten Zeugnissen und den bisherigen Kenntnissen und Forschungsergebnissen. Er hat sich zudem selbst auf den Weg gemacht und viele Stationen, die die Erebus und ihre Mannschaft angelaufen haben, besucht. Noch heute sind Spuren erhalten, so z. B. die Überreste einer Versorgungsstation, die von einer der Rettungsmannschaften 1850 errichtet wurde. Erst 2014 wurden das Wrack der Erebus und zwei Jahre später das der Terror entdeckt. Viele Fragen sind immer noch unbeantwortet und werden es vielleicht auch bleiben.

Das Buch wird durch zahlreiche zeitgenössische Zeichnungen, Fotos, Landkarten und eine Zeittafel sehr bereichert, es gibt außerdem ein hilfreiches Personen- und Sachregister.

Bei allem Drama, das sich damals abgespielt hat, hat es mir dennoch großen Spaß gemacht, die Erebus und ihre Mannschaft auf den Fahrten zu begleiten und so viel über die Menschen, das Schiff und das Leben an Bord auf über 400 informativen Seiten zu erfahren.

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Veröffentlicht am 19.06.2024

Der amerikanische Traum

Cold Spring Harbor
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Der gute Wille zählt nicht allein, die äußeren Umstände haben da auch noch ein Wörtchen mitzureden. Charles Shepard hat den Absprung vom Militär verpasst, um sich rechtzeitig ein ziviles Leben aufzubauen. ...

Der gute Wille zählt nicht allein, die äußeren Umstände haben da auch noch ein Wörtchen mitzureden. Charles Shepard hat den Absprung vom Militär verpasst, um sich rechtzeitig ein ziviles Leben aufzubauen. Er, der just dann in Frankreich eintrifft, als der 1. Weltkrieg zu Ende ist, hat diese Enttäuschung nie überwunden. Sie wird sich durch sein ganzen Leben ziehen. Seine Frau, einst lebensfroh und charismatisch, hält das Umsiedeln von einem Militärstützpunkt zum anderen nicht mehr aus. Als sich ein Ausweg bietet, ist Charles nicht wagemutig genug. Schließlich ziehen sie nach Charles Pensionierung nach Cold Spring Harbor auf Long Island. Ein einfaches Haus, ein einfaches Leben und ein schwieriger Sohn, er sich jung in eine überhastete Ehe stürzt. Bereits auf Seite 21 ist diese Ehe schon wieder beendet und wir verfolgen den weiteren Lebensweg der kleinen Familie, die sich bald um eine neue Flamme, deren Bruder und beider Mutter erweitert.

Auf nur 235 Seiten entwirft der Autor eine Studie über gescheiterte Leben. Menschen, die sowohl aus eigener Handlung heraus, aber auch durch äußere Umstände geleitet, selten die richtige Abzweigung nehmen. Dies ist für mich ein typischer amerikanischer Roman, der tiefe Einblicke in eine untere soziale Schicht in einem gewöhnlichen Vorort gewährt. Ich mag diese Art von Roman sehr, weil sie ein anderes Amerika beschreibt, das oft verdrängt wird: deprimierend, traurig, schlicht, manchmal aussichtslos und häufig auch sich selbst verleugnend. Aber Yates schreibt gleichzeitig universell, wenn er darstellt, wie sich Verhaltensweisen und Gemütslagen wiederholen und übernommen werden. Anschaulich stellt er dies durch Handlung dar und weniger durch Beschreibungen.

Ich habe das Buch gerne gelesen, auch wenn ich ganz oft rufen wollte "Tu das bitte nicht!".

Wer den Autor nicht kennt, ist aber vielleicht schon über die Verfilmung einer seiner Romane gestolpert: "Zeiten des Aufruhrs" (2008) mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio.

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Veröffentlicht am 21.05.2024

Drei volle Mahlzeiten von der Anarchie entfernt

Der Wal und das Ende der Welt
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Ich habe mehrmals nachgeschaut: Ja, der Roman ist tatsächlich von 2015 und er nimmt eine Pandemie und ihre Folgen vorweg, bei der wir alle mitreden können. Joe Haak ist Analyst in der City of London bei ...

Ich habe mehrmals nachgeschaut: Ja, der Roman ist tatsächlich von 2015 und er nimmt eine Pandemie und ihre Folgen vorweg, bei der wir alle mitreden können. Joe Haak ist Analyst in der City of London bei einer großen Bank, die einen erheblichen Teil ihres Gewinns mit Leerverkäufen macht, also auf den Fall von Aktien spekuliert. Joe hat ein Analyse-Programm entwickelt, das tausende von Faktoren aus dem Tagesgeschehen verarbeitet und so Voraussagen trifft. Was passiert, wenn in Asien eine Grippe ausbricht, die hoch virulent und außergewöhnlich oft tödlich verläuft? Ja, was?

St. Piran ist ein kleines Fischerdorf in Cornwall, das gerade einmal 307 Einwohner zählt. Einige von ihnen finden eines Tages einen jungen Mann am Strand - nackt und ohne Bewusstsein: Joe. Kaum ist dieser wieder auf den Beinen, organisiert und delegiert er die Rettung eines gestrandeten Wals. Und schwupp ist er in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. Und diese schildert Ironmonger ganz zauberhaft und ein wenig aus der Zeit gefallen. Jedenfalls möchte man sofort da hin und die teilweise kauzigen Menschen sehen und anfassen.

Der Roman beschreibt das Aufeinandertreffen des Analysten Joe mit einer Dorfgemeinschaft in einer Extremsituation. Immer wieder gibt es Rückblicke, die erklären, warum Joe schließlich in St. Piran am Strand gelandet ist und dann kommt die Grippe. Der Roman enthält viel Gesellschafts(kritik)- und Wirtschaftstheorie. Es ist wahnsinnig interessant diese Zusammenhänge zu erfahren, allerdings bremsen diese Episoden auch den Lesefluss, es passiert dann eben so gut wie nichts. Wunderbar ist die Geschichte, wenn alle im Dorf zupacken und die Handlung vorangeht. Der Roman ist wirklich schön geschrieben und hat seinen Höhepunkt - wehe wer an Kitsch denkt - an einem Weihnachtsabend und seit dem wird jedes Jahr in St. Piran das "Fest des Wals" gefeiert. (Das wird schon relativ früh erwähnt, deswegen darf ich das so schreiben.)

Ein Roman, der wirklich lohnt und eine unbedingte Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 12.04.2024

In welche Richtung würdest Du gehen?

Das andere Tal
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Wer eine Chance auf eine der begehrten, prestigeträchtigen und machtversprechenden Ausbildungen im Conseil haben möchte, muss einen Aufsatz schreiben. Es geht um die Frage, in welche Richtung man gehen ...

Wer eine Chance auf eine der begehrten, prestigeträchtigen und machtversprechenden Ausbildungen im Conseil haben möchte, muss einen Aufsatz schreiben. Es geht um die Frage, in welche Richtung man gehen würde, hätte man denn die Chance dazu. Es gibt nur zwei Wege aus dem Tal, nach Westen in die Vergangenheit oder nach Osten in die Zukunft. Die gleiche Stadt, die gleichen Personen aber jeweils 20 Jahre zeitversetzt und ein Tal reiht sich an das nächste. Niemand weiß, wieviele es sind. Odile ist 16 und bewirbt sich um einen solchen Ausbildungsplatz. Sie ist eine Außenseiterin, ohne Freunde und eigentlich auch ohne wirkliche Ambitionen. Eines Tages entdeckt sie sogenannte Besucher, also Personen aus einem anderen Tal, die jemanden aus ihrer Familie aus der Ferne sehen dürfen. Diese Besuche sind selten und werden unter extrem strengen Auflagen nur gewährt, wenn ein Todesfall bevorsteht. Trotz der Masken, die die Besucher tragen müssen, erkennt Odile die Personen und weiß daher auch, wer sterben wird. Diesen Vorfall nimmt sie in ihren Aufsatz für das Conseil auf und wird zum Auswahlverfahren zugelassen.

Der Autor hat ein Gedankenexperiment geschaffen, das viel Platz für philosophische Fragestellungen läßt. Der Roman ist eine Mischung aus Coming-of-Age, Dystopie und ein bisschen Zeitreise, eingebettet in eine zeitlose Gegenwart ohne Computer und Handy, aber mit Auto, Prügelstrafe und scharf bewachten Grenzen. Die Entwicklung von Odile und ihre zarte Freundschaft gerade mit der Person, die offenbar sterben wird, hat mich sehr berührt. Die Handlung wird konsequent aus der Sicht von Odile erzählt, in einer Sprache, die die Handlung in den Vordergrund rückt. Das Tal und seine "Regierung" nehmen im Laufe der Handlung immer mehr Gestalt an und doch bleiben bis zum Schluss Fragezeichen. Der Autor hat hier eine sehr komplexe und auch durchdachte Gesellschaft erschaffen, die man allerdings so annehmen muss, wie sie geschildert wird. Würde man bestimmte Verhaltensweisen etc. hinterfragen, gibt es Logiklücken. Der zentrale Konflikt: Darf man in die Vergangenheit eingreifen? Ein außergewöhnliches, stellenweise sehr bedrückendes Buch, mit dessen Protagonistin ich zwar mitgefiebert habe, die mir aber nicht so nahe gekommen ist. Dafür wirkte sie auf mich zu distanziert und oft auch passiv. Der Roman wird mich noch einige Zeit gedanklich beschäftigen.

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