Es fährt ein Zug durchs Nirgendwo
In freier Interpretation eines Schlagers aus (meinen) Kindertagen wähle ich den Titel für meine Besprechung dieses zweifelsfrei sowohl ungewöhnlichen als auch sehr besonderen Buches. Denn genremäßig ...
In freier Interpretation eines Schlagers aus (meinen) Kindertagen wähle ich den Titel für meine Besprechung dieses zweifelsfrei sowohl ungewöhnlichen als auch sehr besonderen Buches. Denn genremäßig ist es eigentlich .... nichts. Oder wiederum auch ausgesprochen viel. Nämlich eine Mischung aus historischem Roman - die Handlung spielt im Jahr - die Handlung spielt im Jahr 1899, so etwas wie Fantasy (oder, wenn man es negativ sieht, auch Endzeit-Roman), Krimi und unbedingt auch Belletristik, letzteres aus meiner Sicht sogar am allermeisten. Und: die Romanausgabe im C.Bertelsmann Verlag ist mit sehr viel Liebe zum Detail erarbeitet worden; auf den Innenseiten des Umschlags (vorn wie auch hinten) befinden sich detaillierte Pläne des Zuges, der genauer gesagt, eigentlich nicht ins Nirgendwo, sondern von China nach Rußland und wieder zurück fährt, immer wieder.
Außer zuletzt, da gab es eine längere Pause, denn irgendwann ging es schief in dem unendlichen Ödland zwischen den beiden Ländern und dem will man bei dieser nach langem Zögern wieder unternommenen Fahrt unbedingt auf den Grund gehen. Also, der/die Captain mitsamt den Untergebenen - für uns Leser bleiben die Hintergründe zunächst ein Geheimnis.
Der Zug ist sehr gut ausgestattet, auch was das Personal angeht. Es gibt unterschiedliche Bedienstete für die Erste wie auch für die Dritte (eine Zweite gibt es nicht) Klasse, sogar verschiedene Küchen. Der Captain dirigiert alles mit fester Hand - eigentlich müsste man "die Captain" sagen: Denn an oberster Stelle der Hierarchie im Transibirien-Express, wie der Zug genannt wird, steht eine Frau. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass die Uhren dort ein wenig anders ticken in verschiedener Hinsicht: vor allem jedoch im Hinblick auf das Zugkind, ein chinesisches Mädchen, das im Zug geboren und sofort zur Waisen wurde - die Mutter starb während seiner Geburt und der/die Captain beschloss, dass sie im Zug bleiben könne, wenn auch auf Betreiben des Personals? Hätte ein Mann so reagiert? Ich würde zwar sagen, manch einer ja, aber eine solche Handlungsweise ist eher einer Frau zuzusprechen und so gibt es auch manch anderes Ungewöhnliche in dem Zug, ob das der Grund dafür ist? Wir wissen es nicht, doch ich möchte es gern glauben.
Generell ruht der Blick der Autorin von Beginn an vor allem auf den Frauen - sei es die Köchin oder eine recht ungewöhnliche Passagierin der ersten Klasse, auf die sie immer wieder zurück kommt. Wenn auch nicht so oft wie auf das Zugkind Weiwei, das gewissermaßen das Heft in der Hand hält, sei es noch so klein. Im Prinzip ist sie die Hauptfigur und ist eines der wenigen Wesen, die den Zug verlassen und in einer anderen Welt landen. Ist diese irreal? Nun, meiner Ansicht nach ist dies einer der Aspekte des Romans, in dem die Interpretation dem Leser frei überlassen wird.
Es gefällt mir sehr gut an diesem Text, dass der Roman für sehr unterschiedliche Leser geeignet ist, so finde ich jedenfalls. Man kann die Handlung in unterschiedliche Richtungen deuten, sie ist so frei und unabhängig wie ihr Inhalt. Und dabei ausgesprochen abgerundet, denn es gibt ein klares Ende, nichts bzw. nur wenig bleibt hier offen.
Ein wahrhaftig originelles, wenn auch zuweilen etwas langatmiges Werk, dessen Lektüre ich als Gewinn empfinde!