Ein Buch gegen das Vergessen
"Ich habe getötet, aber ein Mörder bin ich nicht"Die Hardenbergstraße liegt in Berlin-Charlottenburg. Dort begeht der Student Soghomon Tehlirian im März 1921 ein Attentat auf einen gediegenen älteren Herrn mit Gehstock. Es stellt sich heraus, dass das ...
Die Hardenbergstraße liegt in Berlin-Charlottenburg. Dort begeht der Student Soghomon Tehlirian im März 1921 ein Attentat auf einen gediegenen älteren Herrn mit Gehstock. Es stellt sich heraus, dass das Opfer Talaat Pascha zugleich Täter ist und auf Platz 1 einer Liste mit 100 Schuldigen steht. Der Tote ist der ehemalige Innenminister und Großwesir des Osmanischen Reiches und lebt in Berlin inkognito. Er hat sich dem Gerichtsurteil entzogen, er ist maßgeblich am Genozid des armenischen Volkes beteiligt. Der armenische Attentäter wird vom vorsätzlichen Mord freigesprochen.
Das Sachbuch mit dem Titel „Ich habe getötet, aber ein Mörder bin ich nicht“ der Autorin Dr. Birgit Kofler-Bettschart ist harte Kost, aber nichtsdestotrotz ein wichtiges Buch. Der Titel des Buches bezieht sich auf das Zitat des Attentäters Tehlirian. Es ist für ihn kein Verbrechen, einen verurteilten Massenmörder zu töten. Das damalige Gericht sieht es genauso und lässt ihn wieder frei. Tehlirian gehört zur Geheimoperation Nemesis. Vergeltung, so nennt sich die Gruppe, die den ungesühnten Genozid an 1,5 Millionen Armeniern rächen wollen.
Die Geheimoperation Nemesis hat zum Ziel, die Drahtzieher des Völkermordes auszuschalten und zugleich die Weltöffentlichkeit auf den Völkermord an den Armeniern aufmerksam zu machen. Interessant ist, dass Deutsche den Schuldigen geholfen haben, zu entkommen. Die Alliierten haben auf den Prozess gedrungen und die Liste mit den 100 Schuldigen gesammelt. Die Schuldigen der Massaker werden zwar aufgrund der Beweislage verurteilt, aber in Abwesenheit, weil sie nicht gefasst werden können. Das Urteil kann also nicht vollstreckt werden.
Das Buch führt den Leser quer durch Europa und in den Kaukasus, von Paris über Genf nach Berlin, von Istanbul über Wien nach Rom und Tiflis. Dorthin verfolgen die Attentäter die Schuldigen. Es liest sich zuweilen wie ein Agententhriller. Die Männer der Vereinigung verüben zwischen 1919 und 1922 Attentate auf acht der 100 osmanischen und aserbaidschanischen Hauptverantwortlichen des Völkermords. Kofler-Bettschart erzählt die Geschichte der Geheimoperation. Sie hat sie bis ins kleinste Detail recherchiert und so lernt man die einzelnen Akteure kennen, deren Schicksal am Ende auch noch einmal aufgeführt wird.
Den Lesern kann das Buch dabei helfen, zu erkennen, dass der Genozid an den Armeniern durch die Osmanen während des Ersten Weltkrieges systematisch organisiert worden ist. Deutsche und österreichische Regierungen haben, weil sie Verbündete der Osmanen gewesen sind, weggeschaut und sich nicht eingemischt. Obwohl sie von den Gräueltaten gewusst haben. Todesmärsche, Massaker und Deportationen - das alles wirkt wie eine osmanische Vorlage für die Nationalsozialisten.
Fazit: Insgesamt bietet das Buch, im Ueberreuter Verlag erschienen und erst ab 16 Jahren empfohlen, gut recherchierte Hintergründe zum Völkermord an den Armeniern. Hier macht die Autorin Zusammenhänge sichtbar. Am Ende des Buches führt sie ein Interview mit der Armenien- und Genozid-Spezialistin Tessa Hofmann. Die Journalistin und Buchautorin Kofler-Bettschart hat mit diesem Buch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Armenier geleistet. Es ist ein Buch gegen das Vergessen.