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Veröffentlicht am 23.06.2024

Coming of Age und Coming Out

Wünschen
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In seinem Coming of Age-Roman "Wünschen" schildert der nigerianische Autor Chukwuebuka Ibeh die Entwicklung eines jungen Mannes aus einer Igbo-Familie in Port Harcourt, der mit dem Erkennen seiner Homosexualität ...

In seinem Coming of Age-Roman "Wünschen" schildert der nigerianische Autor Chukwuebuka Ibeh die Entwicklung eines jungen Mannes aus einer Igbo-Familie in Port Harcourt, der mit dem Erkennen seiner Homosexualität auch ein Leben voller Angst, Repression und Versteckspielens erlebt. Dass Obiefuna ganz anders als sein jüngerer, aber dominanter Bruder ist, ist allen in der Familie früh klar. Obiefuna ist beim Fußballspielen ein Versager, aber ein guter Tänzer. Doch je älter er wird, desto mehr stört sich sein Vater daran, wenn Obiefuna Tanzschritte probt. Was für ein Kind noch in Ordnung war, schickt sich für einen jungen Mann nicht mehr.

Homosexualität ist in Nigeria, ähnlich wie in den meisten Staaten Afrikas, illegal. Eine Aufklärung über sexuelle Identitäten etwa in der Schule gibt es nicht. Auch Obiefuna kann anfangs seine Gefühle noch nicht benennen, doch zum Lehrling seines Vaters, eines Händlers, fühlt er sich hingezogen. Es passiert eigentlich gar nichts zwischen den beiden Jungen - doch die Blicke zwischen ihnen reichen dem Vater, um seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.

Obiefuna wird Hals über Kopf in ein strenges christliches Internat verfrachtet. Mobbing durch ältere Schüler ist an der Tagesordnung, ein System, das auf Erniedrigung und Schikanen basiert. Obiefuna erlebt Einsamkeit, aber auch enge Freundschaften in der reinen Jungenschule. Und, vermutlich nicht überraschend - er macht sexuelle Erfahrungen mit anderen Jungen. Dabei ist ihm aber auch klar - er darf sich nicht erwischen lassen. Zwar ist ein Mitschüler offen schwul, doch Obiefuna öffnet sich auch ihm gegenüber nicht, sieht er doch, wie der Junge Verachtung und Ausgrenzung erfährt.

Wie leben? Die Frage wird Obiefuna auch nach der Schule beschäftigen, zwischen Anpassung und der Sehnsucht nach queerem Leben. In der Beziehung mit einem älteren Mann scheint Obiefuna, mittlerweile Medizinstudent, am Ziel seiner Sehnsüchte angekommen zu sein. Doch neue verschärfte Gesetze und eine von der Regierung gesteuerte Schwulenjagd, die Erfahrung von Erpressungen und Misshandlungen im Bekanntenkreis zeigen ihm auch die Risiken auf, wenn er es wagt, anders zu lieben als die Bevölkerungsmehrheit.

"Wünschen" ist kein Buch mit happy end, vieles bleibt letztlich offen. Der Autor zeigt nachdrücklich, wie schwer es queere Menschen in afrikanischen Ländern haben, ohne Obiefunas mitunter opportunistisches Verhalten zu verurteilen. Zugleich werden die religiösen und ethnischen Spannungen im bevölkerungsreichsten Land Afrikas gestreift. "Wünschen" ist ein sensibler Coming of Age-Roman mit einer Portion Gesellschaftskritik.

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Veröffentlicht am 17.06.2024

Von Orten der Flucht

Zeit der Zäune
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Dass die Schauspielerin Katja Riemann sich auch als Botschafterin für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR engagiert, habe ich erst beim Lesen ihres Buchs "Zeit der Zäune" erfahren. Riemann hat für die Recherchen ...

Dass die Schauspielerin Katja Riemann sich auch als Botschafterin für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR engagiert, habe ich erst beim Lesen ihres Buchs "Zeit der Zäune" erfahren. Riemann hat für die Recherchen Lager und Orte entlang der Balkanroute und am Mittelmeer, in Nordafrika und den berühmten Dschungel von Calais besucht. Herausgekommen ist ein sehr persönliches Buch, das Menschen und Schicksale vorstellt, durchaus Partei ergreift und weniger Analyse als subjektiver Blick ist. Riemann schreibt empathisch, teilweise regelrecht poetisch, ist mehr dem künstlerisch inspirierten storytelling als der klassischen Reportage zugeneigt, wenn sie Lesern berichtet, die in der Regel noch kein Flüchtlingslager von innen gesehen haben.

Es ist eine durchaus selektive Darstellung, denn Riemann stellt Menschen mit künstlerischen Ambitionen vor, Nichtregierungsorganisationen die, ich sag´s mal etwas boshaft, die schönen Dinge im Lager machen, wie Kunst, eine Filmschule in Moria auf Lesbos, Theater und Musik. Da sind Latrinenbau, Lagerlogistik und der administrative Kleinkram, um Tausenden Menschen innerhalb kurzer Zeit Unterkunft, Sanitär, Ernährung usw zu sichern, deutlich weniger sexy, aber letztlich unabkömmlich.

Ähnlich ist es mit der Befindlichkeit, wenn Riemann sich über Darstellungen von Flüchtlingslagern echauffiert, die aus Drohnenaufnahmen über weiße UNHCR-Zeltplanen bestehen und da auch gleich eine "von oben"-Haltung gegenüber den Geflüchteten versteht, die sie nicht als Personen wahrnimmt. Gewiss, das individuelle Schicksal berührt emotional. Aber wenn es darum geht, dass schiere Ausmaß einer Flüchtlingskrise zu zeigen, hat die Drohnenperspektive durchaus etwas für sich.

Riemann geht einerseits nah ran an die Menschen, von denen sie erzählt und deren Spuren sie folgt, streift aber andererseits die problematischeren Dinge nur an der Oberfläche, quasi im Nebensatz. Denn nur, weil sie geflüchtet sind, sind Flüchtlinge ja nicht automatisch die besseren Menschen und neben dem charismatischen und begabten jungen Filmemacher, dem sensiblen Musiker oder der empathischen jungen Lehrerin gibt es wie überall sonst Habgier und nicht ganz so ehrenwerte Motive, Konkurrenz um knappe Ressourcen oder auch kriminelle Energie. Das Geschäft mit den oft aussichtslosen Hoffnungen von Menschen, die sich auf den Weg nach Europa machen, bleibt ebenfalls weitgehend ausgeklammert.

Mit den sprachlichen Ausflügen ins "Denglisch" vermute ich mal, soll ein jüngeres Lesepublikum erreicht werden, im Kontrast zu dann wieder stark akademisch geprägten Sprache kam mir das zu sehr "gewollt" vor. "Zeit der Zäune" konzentriert sich auf die Lager und provisorischen Camps, die Flucht selbst, das Unterwegssein und Ankommen wird allenfalls gestreift. Insofern - ein wichtiges Buch als Plädoyer für Verständnis für Geflüchtete und um sie als Individuen und nicht als Statistik zu zeigen, das aber auch Lücken zur Gesamtthematik aufweist.


Veröffentlicht am 16.06.2024

Justizkrimi mit aktuellem Plot

Der 1. Patient
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Der nunmehr vierte Justizkrimi von Michael Tsokos (Rechtsmediziner) und Florian Schwiecker (Ex-Strafverteidiger) hat mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz in der Medizin einen aktuellen Aufhänger. Der ...

Der nunmehr vierte Justizkrimi von Michael Tsokos (Rechtsmediziner) und Florian Schwiecker (Ex-Strafverteidiger) hat mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz in der Medizin einen aktuellen Aufhänger. Der Berliner Rechtsanwalt Rocco Eberhardt vertritt in einem aufsehenserregenden Strafprozess eine Ärztin, deren Patient während einer Routineoperation an einem anaphylaktischen Schock starb. Die Staatsanwaltschaft wirft der Medizinerin fahrlässige Tötung vor, Tod aufgrund eines Behandlungsfehlers.

Das besondere an diesem Fall: Das Krankenhaus setzt bei der Erstellung von Operationsplänen auf ein KI-Programm, die Angeklagte selbst hat sich in Talkshows als Fürsprecherin für den KI-Einsatz in der Medizin hervorgetan. Hat letztlich die KI Schuld am Tod des Mannes und eine falsche Empfehlung abgegeben? Wieso ist die in der Anamnese bekanntgewordene Allergie des Patienten nicht berücksichtigt worden?

Der Fall erregt nicht nur öffentliche Aufmerksamkeit, sondern weckt auch den Erfolgshunger einer jungen Boulevardjournalistin, die die Chance sieht, sich einen Namen zu erschreiben und dabei auch die Wut und Verbitterung des 18-Jährigen Sohnes des toten Patienten ausnutzt.

Mit Hilfe eines ehemaligen Hacker-Mandanten findet Rocco Eberhardt zudem heraus: Krankenhausakten wurden manipuliert. Ist er einer Verschwörung auf der Spur? Rechtsmediziner Jarmer ist in diesem Fall nur am Rande beteiligt, macht aber schließlich eine Entdeckung, die dem Fall eine ganz neue Perspektive gibt.

Die Twists und turns dieses Justizkrimis überraschen, gleichzeitig wird der Ablauf des Strafprozesses glaubwürdig geschildert und die Atmosphäre eines "Sensationsprozesses" samt der sich dazu entwickelten Medienaufgeregtheit gut dargestellt. Am Ende habe ich über die Lösung des Falls, die ich so nicht kommen sah, gestaunt. Da freue ich mich doch schon jetzt auf den hoffentlich kommenden nächsten Fall.

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Veröffentlicht am 12.06.2024

Wer hat Hass auf Seenotretter?

Tödlich rauscht die Brandung
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Ben Kitto, der Protagonist von Kate Penroses Serie über einen Polizisten auf den Scilly-Inseln, ist eigentlich bereits gut ausgelastet - nicht nur durch den Polizistenjob. Seit ein paar Monaten sorgt Söhnchen ...

Ben Kitto, der Protagonist von Kate Penroses Serie über einen Polizisten auf den Scilly-Inseln, ist eigentlich bereits gut ausgelastet - nicht nur durch den Polizistenjob. Seit ein paar Monaten sorgt Söhnchen Noah für Trubel und kurze Nächte, die Hochzeitsvorbereitungen nähern sich dem Höhepunkt. Trotzdem findet Kitto noch Zeit, sich bei der Seenotrettung zu engagieren - vielleicht auch ein Stück Vergangenheitsbewältigung, schließlich ist sein Vater auf seinem Trawler im Sturm gesunken, als Kitto noch ein Kind war.

Doch ausgerechnet die Seenotretter scheinen im Visier eines Unbekannten zu sein. Nicht nur bekommen mehrere Mitglieder der Gruppe seltsame Botschaften mit Galgenmännchen und Shakespeare-Zitaten. Ein Mitglied, das erst wenige Monate zuvor mit einer Ehrenmedaille ausgezeichnet wurde und Heldenstatus genießt, ist erst verschwunden und wird Tage später tot gefunden. Dann wird eine weitere Retterin vermisst. Irgend jemand, so scheint es, hat einen gewaltigen Hass auf die Seenotretter.

Ein wegen Drogenhandels vorbestrafter junger Mann scheint vielen der naheliegende Verdächtige, doch auch eine Ex-Freundin Kittos könnte ein Motiv haben. Unter den schweigsamen Insulanern ist die Aufklärung nicht einfach, während Kittos Vorgesetzter Druck macht - nicht nur wegen der Ermittlungen. Dass sein halbes Team sich freiwillig bei der Seenotrettung engagiert und so nicht jederzeit kurzfristig für Einsätze zur Verfügung stehen konnte, gefällt ihm gar nicht.

Ein wichtiger Assistent ist auch in diesem Scilly-Roman Kittos ebenso eigenwilliger wie sympathischer Wolfshund Shadow. Wie bereits in den Vorgängerromanen werden die persönlichen Beziehungen und Probleme der Inselbewohner mit dem aktuellen Fall verwoben. Einmal mehr punktet das Buch mit der Beschreibung der rauen Schönheit der Inseln. Dass diesmal auch die wilde See noch mehr als in früheren Bänden eine Rolle spielt, versteht sich angesichts des Themas von selbst.

Auch mit dem mittlerweile 7. Band ist das Potential der Scilly-Serie nicht erschöpft. Wer vorangegangene Bände kennt, wird vertraute Inselbewohner aus Kittos Umfeld wiedertreffen. Es ist aber kein Problem, mit diesem Band einzusteigen. Einmal mehr solide Spannung mit glaubwürdigen, lebensnahen Figuren und schönen Naturschilderungen.

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Veröffentlicht am 26.05.2024

Paradise lost

Nachruf aufs Paradies
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Die Datscha nahe der Grenze zu Belarus war jahre-, ja jahrzehntelang der Sehnsuchtsort von Lutz Dursthoff und seiner Frau Galja. Die heile Welt, für Galja mit der Kindheit in der Sowjetunion verbunden, ...

Die Datscha nahe der Grenze zu Belarus war jahre-, ja jahrzehntelang der Sehnsuchtsort von Lutz Dursthoff und seiner Frau Galja. Die heile Welt, für Galja mit der Kindheit in der Sowjetunion verbunden, mit langen Ferien bei der Oma, wurde das immer neu transformierte Grundstück auch für den deutschen Ehemann zum russischen Paradies mit Banja und Gemüsegarten, Besuchen der Kinder und Enkel, gemütlichem Plausch mit den Nachbarn.

Dursthoffs Buch "Nachruf aufs Paradies" war ursprünglich anders gedacht: Episoden aus dem Datschaleben für die deutschen Leben, reflektieren über das Leben zwischen zwei Welten, seit der deutsche Verlagsmensch bei einem Arbeitstausch zu Perestrojka-Zeiten in einem Moskauer Verlag seine Galja kennen und lieben lernte.

Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hat sich das geändert. Zum einen war da die ethische Frage: Können wir, wollen wir in dieser Situation überhaupt noch nach Russland reisen? Zum anderen die schmerzliche Erkenntnis, dass mit vielen russischen Nachbarn auf dem Dorf plötzlich keine Gespräche mehr möglich sind, dass viele die staatliche Propaganda nicht hinterfragen. Da ist aber auch die Sorge um die jungen Leute im russischen Bekannten- und Verwandtenkreis: Droht ihnen die Mobilmachung, müssen sie in den Krieg?

"Nachruf aufs Paradies" wechselt immer wieder zwischen den Erinnerungen an den Aufbau dieses Paradieses, Pilzsuchen im Wald, Baden im See, ein ruhiges, entschleunigtes Leben, recht paradiesisch eben. Zugleich wird reflektiert über deutsch-russische Beziehungen, über die Sorge um ein Land, das beiden eben sehr am Herzen liegt, ohne dass diese Liebe blind und unkritisch ist. Das Entsetzen und die Enttäuschung darüber, wie sich Russland seit den Perestrojka Jahren und insbesondere unter Putin gewandelt hat, ist spürbar. Dursthoff bemüht sich nicht um Objektivität, er nimmt Partei - gegen den Krieg und das System Putin, aber eben auch für das, was in Russland gut und schön ist. Von der unkritischen Begeisterung aus jungen Jahren beim MSB ist jedenfalls keine Spur mehr, auch der letzte Datscha-Sommer, während des Krieges, ist von schmerzlicher Ernüchterung geprägt.

Das Buch ist sehr persönlich und zeigt gerade deshalb, dass es eben nicht so einfach ist, wenn man den Menschen so verbunden ist, das Regime aber gründlich ablehnt. Was tun? wie schon Lenin fragte. Der Autor ringt noch mit einer Antwort.