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Veröffentlicht am 13.11.2017

Stellung der Frau in den 1950ern als Hintergrund

Zeit der Schwalben
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„Zeit der Schwalben“ ist der Debütroman der deutschen Autorin Nikola Scott. Die Geschichte spielt in England auf zwei Zeitebenen, einerseits im Jahr 2010 und in Rückblicken zwischen 1958 und 1960. Die ...

„Zeit der Schwalben“ ist der Debütroman der deutschen Autorin Nikola Scott. Die Geschichte spielt in England auf zwei Zeitebenen, einerseits im Jahr 2010 und in Rückblicken zwischen 1958 und 1960. Die Mutter der sechszehnjährigen Elizabeth ist sterbenskrank, doch auf ihren Wunsch hin verbringt ihre Tochter vier Wochen im Sommer 1958 bei Freunden auf dem Anwesen Hartland in East Sussex in der Nähe des Meers. Unerwartet erlebt sie dort unvergessliche, unbeschwerte heitere Tage mit Ausflügen, sportlichen Aktivitäten und einer ersten Schwärmerei. Schwalben stehen allgemein als Symbol für Freiheit und Hoffnung. Hier auf Hartland, wo die Schwalben fliegen, fühlt Elizabeth sich losgelöst und frei von den heimischen Sorgen. Die Hoffnung darauf, dass ihre Mutter wieder gesund wird und sie ihre gemeinsamen Zukunftspläne umsetzen können, fühlt sich real und richtig an. Das sich auf dem Cover die junge Frau im Wasser spiegelt ist kein Zufall, sondern deutet auf die Beziehung von zwei Charakteren in der Geschichte hin.

Adele Harington ist 40 Jahre alt und als Konditorin in einem Café angestellt. Vor einem Jahr ist ihre Mutter gestorben, ihre vier Jahre jüngere Schwester möchte als Jahresgedächtnis eine kleine Feier im elterlichen Haus gestalten. Während Adele etwas Abstand im früheren Arbeitszimmer ihrer Mutter sucht, klingelt das Telefon, sie nimmt das Gespräch entgegen und eine ihr unbekannte Person berichtet von einem eingetroffenen Brief, der nach ihrer Vorgabe jedoch wie alle Informationen nur nach Ankündigung zugestellt werden soll. Des Weiteren fällt noch ein Datum: ihr eigener Geburtstag. Doch damit ist nicht genug der seltsamen Ereignisse an diesem Tag, denn kurze Zeit später steht eine Frau vor der Haustür, die ihre Mutter sucht und vollkommen überrascht stellt Adele fest, dass es ihre eigene ist.

Der Roman verbirgt einige Geheimnisse und Nikola Scott versteht es, sie erst mit und mit zu lüften. Es ist nicht nur spannend mit ihr in die Vergangenheit der Familie zu reisen, sondern auch zu verfolgen, wie Adele sich langsam aus den noch immer im Raum stehenden Ansprüchen ihrer verstorbenen Mutter an ihre Person löst. Adele ist das einzige der drei Geschwister das kein Studium beendet hat. Sie ist von Kindheit an risikoscheu und häufig fließen Tränen aus kleinstem Anlass. Erst als immer mehr Details aus der Jugend ihrer Mutter bekannt werden, kann sie deren Handlungsweise im Umgang mit ihr verstehen und darauf aufbauend ergründen, was sie selbst als Persönlichkeit ausmacht. Adele ist ein Sympathieträger. Ihre Schwester Venetia hat häufig eine andere Meinung als sie und so ergeben sich ständig Reibereien.

Erschien mir Venetia schon nicht liebenswert, so empfand ich im Roman vor allem den Vater von Elizabeth als echten Unsympathen, obwohl als Entschuldigung für sein Verhalten sicher auch die Konventionen seiner Zeit zu sehen sind. Nikola Scott hat ausführlich zum Thema Frauen in Schwierigkeiten in den 1950er Jahren recherchiert. Anhand einer Begebenheit in meiner eigenen Familiengeschichte kann ich bestätigen, dass ihr eine überaus realistische Darstellung der Ereignisse gelungen ist. Sowohl Adele wie auch Elizabeth schildern die Geschichte in der Ich-Form, wobei die Autorin Tagebucheinträge von Elizabeth als Rückblick in die Vergangenheit nutzt. Auf diese Weise gelingt es ihr sehr gut, die Gefühle und Gedanken beider Personen in ihrer jeweiligen Zeit einzufangen.

„Zeit der Schwalben“ ist eine berührende Familiengeschichte, die ein Beispiel aufzeigt für die Folgen der gesellschaftspolitischen Stellung der Frau in der Familie von vor fünfzig Jahren. Die Suche nach der Wahrheit hält eine gewisse Spannungskurve bis zum Schluss. Mich hat der Roman fasziniert und daher vergebe ich gerne eine Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 30.10.2017

Bürokratie der Europäischen Kommission unterhaltend dargestellt

Die Hauptstadt
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In Brüssel spielt ein großer Teil der Handlung des Romans „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse, der dafür den Deutschen Literaturpreis 2017 erhalten hat. Der Roman heißt aber nicht nur so, weil Brüssel ...

In Brüssel spielt ein großer Teil der Handlung des Romans „Die Hauptstadt“ von Robert Menasse, der dafür den Deutschen Literaturpreis 2017 erhalten hat. Der Roman heißt aber nicht nur so, weil Brüssel die Hauptstadt Belgiens und nebenbei auch Sitz der Europäischen Kommission ist, sondern weil es nach einem der Charaktere endlich an der Zeit ist, nachnational zu denken und eine Hauptstadt für Europa zu bauen, funktionell vergleichbar mit Brasilia.

Die Protagonisten des Romans lernte ich im Prolog kennen, der umklammert wird von einem Tier, nämlich einem Schwein. Man könnte meinen, hier wird dem Sprichwort nach eine Sau durchs Dorf getrieben, aber erstens rennt es geschlechtslos durch eine Stadt und zweitens ist die Ursache dazu nicht sichtbar, allerdings ist ihm Aufmerksamkeit auf der ganzen Ebene sicher. Und dabei bleibt es nicht nur für diese kurze Begebenheit, sondern das Thema „Schwein“ zieht sich durch den Roman in vielerlei Form.

Soviel Interesse wie für das Schwein wünscht sich die Leiterin der Generaldirektion Kultur der EU auch für ihr Ressort. Denn der Kultur kommt bei weitem nicht die Beachtung zu wie etwa der Wirtschaft oder der Energie verbunden mit der Diskussion um den Klimawandel. Eine Jubiläumsfeier zum 50. Jahrestag der Gründung der Europäischen Kommission soll daher das Image und damit die Bedeutung der Kultur aufwerten. Nach einer Idee der Festausrichtung wird gesucht und gefunden, doch die Umsetzung gestaltet sich schwierig durch die Notwendigkeit der Zustimmung auf nationaler Ebene der angeschlossenen Staaten.

Während die EU-Mitarbeiter an den Planungen feilen, bereitet sich einer der letzten Überlebenden von Auschwitz, der in Brüssel lebt, auf seine letzten Tage vor und ein Kommissar versucht ein vertuschtes Verbrechen aufzudecken, dass in einem zentral gelegenen Hotel Brüssels geschehen ist just an dem Tag, an dem das Schwein durch die Straßen rannte. Robert Menasse greift die losen Fäden der Erzählung auf und führt den Leser unter verschiedenen Berührungspunkten stringent durch den Roman bis hin zu einem besonders traurigen Moment in Brüssel im März 2016, der uns alle erschüttert hat.

Mit Martin Schulz und Armin Laschet sind zwei führende Politiker in diesem Jahr ins Rampenlicht getreten, die eine politische Vergangenheit auf europäischer Ebene haben und die mir vorher nur deshalb bekannt waren, weil sie hier im Grenzland zu den Niederlanden zur lokalen Prominenz gehören. Sollte ich heutige Europapolitiker nennen, käme ich ins Grübeln und ich glaube, dass es sehr vielen so geht. „Die Hauptstadt“ hat mein Augenmerk auf einen wichtigen Part unserer Geschichte gelenkt, auf die Zusammenarbeit der Staaten mit den vielen, nötigen, oft kleinteiligen Abstimmungen zur Steuerung des Schiffs Europa. Am Rand seines Romans blickt der Autor auf die Gründe zurück, die zur Zusammenarbeit der ersten Länder Europas führten.

Um seine Schilderung authentisch zu gestalten ist Robert Menasse für eine Weile nach Brüssel gezogen. Er hat dort das Alltagsleben beobachtet, den Flair der Stadt aufgenommen und vor allem Gespräche mit Arbeitnehmern der Europäischen Kommission geführt bei Kaffee und Zigarette, damit er sich in deren Denkweise hineinversetzen konnte. Seine Charaktere bringen Europa mit in die multikulturelle Hauptstadt Belgiens. Die meisten Mitarbeiter verlassen ihre Heimat, um hier zu arbeiten wie beispielsweise die Griechin und Zypriotin Fenia oder der Österreicher Martin. Der Autor blickt auf deren familiären Hintergründe und schweift in seinen Schilderungen gern mal ab auf Begebenheiten, die mir weitere Zusammenhänge in der Europapolitik aufzeigten. Und immer wieder ist auf allen Ebenen ein großer bürokratischer Aufwand zu bewältigen. Doch ich konnte die Figuren auch im Privaten Ebene begegnen: der liebenden Frau mit Hintergedanken, dem eher unwirschen und dennoch besorgten Bruder, dem auf einer Idee beharrenden und seiner Frau nachtrauernden Emeritus und auch dem Mörder.

Gewürzt mit einer Portion Sarkasmus und einer Prise Ironie gelingt es dem Autor, die große Politik Europas verbunden mit dem Intrigenspiel und Machtgerangel der Funktionäre auf allen Ebenen und taktischen nationalen Abwägungen, ob man den Vorschlägen der Europäischen Kommission zustimmen soll und will, in einer nachvollziehbaren, ansprechenden Geschichte darzustellen. Meiner Meinung nach, hat „Die Hauptstadt“ den Deutschen Buchpreis zu Recht erhalten und ich wünsche dem Roman noch viele weitere Leser.

Veröffentlicht am 24.10.2017

Spannende Dystopie und Auseinandersetzung mit dem Wert unseres Lebens

Scythe – Die Hüter des Todes
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Auf dem Cover der Dystopie „Scythe – Die Hüter des Todes“ von Neal Shusterman ist ein martialisch aussehender Sensenmann abgebildet. Die Sense (=Scythe) als ihr Werkzeug benutzen die zum Töten Ausgewählten ...

Auf dem Cover der Dystopie „Scythe – Die Hüter des Todes“ von Neal Shusterman ist ein martialisch aussehender Sensenmann abgebildet. Die Sense (=Scythe) als ihr Werkzeug benutzen die zum Töten Ausgewählten jedoch sehr selten, denn ihnen stehen vielfach andere Mittel zur Verfügung. Willkürlich werden für diesen Beruf Personen in ihrer Jugend ausgesucht und zu Scythe ausgebildet. Ihre Aufgabe besteht darin, den natürlichen Tod zu ersetzen, denn inzwischen kann jede Krankheit und jede körperliche Versehrtheit geheilt werden, es gibt keinen Anlass mehr um Kriege zu führen, das Verkehrswesen ist sicher, Verbrechen wurden ausgemerzt und jeder hat genug zum Leben. Sie töten, von ihnen „nachlesen“ genannt, nach ihrer eigenen Auswahlmethode, um eine festgesetzte Quote zu erfüllen. Allein dieser Tatbestand führt zu kritischen Stimmen innerhalb des Berufsstands der hochgeachteten, gleichzeitig auch gefürchteten Scythe in Bezug auf Anwendung und Durchführung der Methoden und Quotenerfüllung.

Bei einer seiner Nachlesen wird Scythe Faraday auf die 16-jährige Citra aufmerksam, bei einer weiteren auf den gleichaltrigen Rowan und daher beruft er sie zu seinen Auszubildenden. Beide lernen im Laufe der Auseinandersetzung mit ihrem zukünftigen Beruf das Für und Wider der willkürlichen Nachlese kennen. Durch eine unerwartete Wendung der Geschehnisse werden Citra und Rowan zu Konkurrenten, denn nur einer von ihnen soll letztlich zum Scythe ernannt werden, der andere darf nicht, wie ursprünglich geplant, in sein altes Leben zurückkehren, sondern wird vom Rivalen sofort vor Ort nachgelesen.

Neal Shusterman spielt in seiner Dystopie mit einer spannenden Idee. Er geht davon aus, dass im Jahr 2042 die Rechenkraft unserer Computer eine ungeahnt enorme Größe erreicht hat. Das System „Thunderhead“, entwickelt aus der heute bereits bestehenden Cloud, besitzt die Fähigkeit sich selbst anhand der ausgewerteten Daten zu verbessern und so optimiert es beispielsweise den Verkehrsfluss oder auch Medizintechnik. Es leben zwar auch heute in der Realität immer mehr Menschen auf unserem Planeten weil die Geburtenzahl die Todesfälle übersteigt. Nach der Vision des Autors stirbt ein Mensch aber keines natürlichen Todes mehr, ganz im Gegenteil kann er sich immer wieder verjüngen lassen. Die Möglichkeit andere Welten zu erschließen ist wegen Misserfolgen ausgeschlossen. Die einzig logische Konsequenz daraus, scheint es zu sein, weltweit ein System zum Beenden von Leben zu etablieren. Thunderhead errechnet zwar den Bedarf an Sythe, mischt sich aber ansonsten nicht in deren Belange ein. Doch nach welchen Maßstäben soll getötet werden? Kann die Auswahl gerecht getroffen werden? Wird unsere Moral es zulassen, sich über das Verbot des Tötens unter dem Deckmantel der Notwendigkeit hinwegzusetzen?

Alle diese Fragen bilden den Hintergrund der Geschichte um Citra und Rowan. Der Autor fügt zwischen den Kapiteln Tagebucheinträge verschiedener Scythe ein, die mir Einblicke in das Denken der Ausgewählten gaben. Auf diese Weise habe ich deren Zweifel an ihrer Tätigkeit, manchmal aber auch die Begeisterung dafür gespürt. Sehr geschickt zeigt Neal Shusterman unterschiedliche Positionen seiner Charaktere, die ein Abbild der Ansichten in unserer Gesellschaft bilden. Spielt es überhaupt eine Rolle, wie die Auswahl der zu Mordenden getroffen wird, ob schnell getötet wird und auf welche Weise? Es ist nicht einfach, Figuren sympathisch zu finden, die zum Töten ausgebildet werden, obwohl der Autor dazu Argumente findet, den Bedarf an Scythe zu erklären. Sind Citra und Rowan schließlich Opfer oder Täter?

„Scythe – die Hüter des Todes“ ist nicht einfach nur eine spannende Dystopie, sondern eine Auseinandersetzung mit dem wertvollen Gut unseres eigenen Menschseins. Mich hat das Buch zum Nachdenken über das Problem des Bevölkerungswachstums gebracht. Sehr gespannt bin ich schon auf die Fortsetzung des Buchs voraussichtlich im April 2018.

Veröffentlicht am 17.10.2017

Eine Geschichte vieler Polen und eine ganz persönliche der Autorin

Wir Strebermigranten
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Im Buch „Wir Strebermigranten“ erzählt die Autorin Emilia Smechowski die Geschichte der Flucht ihrer polnischen Eltern im Jahr 1988, die sie selbst als Fünfjährige miterlebt hat. Die 1980er-Jahre waren ...

Im Buch „Wir Strebermigranten“ erzählt die Autorin Emilia Smechowski die Geschichte der Flucht ihrer polnischen Eltern im Jahr 1988, die sie selbst als Fünfjährige miterlebt hat. Die 1980er-Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs in Polen mit dem Bestreben die Wirtschaftslage zu stabilisieren und sich von der Politik des Ostblocks zu lösen. Emilias Eltern fühlten sich unfrei, ausreisen durfte man nur mit Reisepass, der dem Vater verwehrt wurde. Heute fühlt sich die Autorin von den Flüchtenden aus Syrien, dem Sudan oder Irak in besonderer Weise berührt. Auch sie ist eine Geflüchtete und dennoch sind die Umstände gänzlich andere

In ihrer Geschichte beschäftigt sie sich vor allem damit, wieso heute die Flüchtlinge so starke Emotionen im Aufnahmeland hervorrufen und warum es so schwierig ist, die Angekommenen zu integrieren. Denn vor allem in den 1980ern ist etwa eine Million Polen nach Deutschland eingewandert, die aber seltsamerweise wenig aufgefallen ist. Das lag zum einen daran, dass viele von ihnen aufgrund der Vergangenheit mindestens eines Familienmitglieds das Anrecht hatten, als Deutsche zu gelten, so wie es auch bei der Familie von Emilia Smechowski der Fall war. Andererseits bemühten sich die eingereisten Polen um Assimilation mit ihrer Umgebung. Auch die Eltern der Autorin waren darum bemüht, von Beginn an wie Deutsche zu leben, also nicht nur die Sprache zu lernen sondern sich auch mit der Kultur der Deutschen auseinanderzusetzen.

Bei uns im Westen Deutschlands leben viele Griechen, Portugiesen und Türken, die vor allem in den 1960er als Gastarbeiter eingereist sind. Sowohl Griechen als auch Portugiesen haben eigene Versammlungsheime, eigene Kirchengemeinden und eigene Volkstanzgruppen die bei Festivitäten gern gesehen sind. Ursprünglich aus Polen stammende Bekannte habe ich auch genügend, muss aber länger darüber nachdenken, wer zu dieser, immerhin zweitgrößten Migrationsgruppe Deutschlands gehört, denn meist erkennt man im Gespräch noch nicht einmal einen Akzent, entsprechend der Bezeichnung der Autorin erscheint mir der Begriff „Strebermigranten“ zu passen. Auffällig ist höchstens der Vorname, wenn gerade Zwanzigjährige mit Hans oder Erika angesprochen werden. Sobald diese Gedanken da waren, habe ich fasziniert die Schilderungen der Autorin gelesen und dieses Stück Geschichte einmal aus einer ganz anderen Sicht gesehen.

Ihr Buch erzählt aber nicht nur von der Flucht und dem Ankommen der Familie, sondern auch von ihrer ganz eigenen Loslösung aus dem Familienverbund und dem langsamen Vortasten in beruflicher Hinsicht auf für sie ungewohntem Terrain ohne der Hilfe der Eltern, die ihren Vorstellungen entgegen standen. Gerade der Weg ihrer Selbstverwirklichung hat bei ihr jedoch den Wunsch freigesetzt sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und auszusöhnen.

„Wir Strebermigranten“ ist die Geschichte vieler Polen und eine ganz persönliche der Autorin, ein Reisebericht, ein Familienroman und eine kulturelle Auseinandersetzung. Emilia Smechowski beobachtet scharf. Sie lenkt den Blick auf die aktuelle Flüchtlingslage und wirft Fragen nach der Möglichkeit einer besseren Integration auf. Das Buch bringt einen Abschnitt der Flüchtlingspolitik Deutschlands ans Licht, der bisher eher verborgen liegt. Die Aussagen des Buchs sind eine Beschäftigung mit ihnen wert und daher vergebe ich gerne eine Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 08.10.2017

Berührt und bleibt im Gedächtnis

Im Herzen der Gewalt
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„Im Herzen der Gewalt“ ist das zweite Buch des 24-jährigen Franzosen Édouard Louis. Der Roman ist autobiographisch. Im Rückblick schildert der Autor die zufällige Begegnung mit einem jungen Mann, den er ...

„Im Herzen der Gewalt“ ist das zweite Buch des 24-jährigen Franzosen Édouard Louis. Der Roman ist autobiographisch. Im Rückblick schildert der Autor die zufällige Begegnung mit einem jungen Mann, den er am Heiligabend auf der Straße trifft und der sich ihm als Reda vorstellt. Die folgenden Stunden der Nacht enden für Édouard mit einer Morddrohung durch seine Zufallsbekanntschaft. Bereits das Cover des Buchs vermittelte mir die Ausgangslage einer grauen, düsteren Umgebung die dazu führt, dass der Autor den jungen Mann mit zu sich nach Hause nimmt.

Der Geschichte beginnt im Waschsalon. Édouard befindet sich dort, unweit seiner Wohnung, um seine Bettwäsche zu waschen. Es ist überraschenderweise der 1. Weihnachtstag, wenige Stunden nachdem Reda ihm angedroht hat, ihn zu töten. Sein Bedürfnis nach Reinheit nimmt extreme Züge an. Zuhause säubert und desinfiziert er alle Flächen und duscht mehrmals. Doch seine Erinnerungen an das Erlebte kann er nicht so ohne weiteres wegwischen. Gleich auf den ersten Seiten lässt er den Leser ahnen, wie aufgewühlt er von den Ereignissen ist. Seine Schilderung ist ein Aufschrei, ein „ich möchte das nicht erlebt haben“ und doch kann er die Vergangenheit nicht ändern.

Schließlich sucht er fast ein Jahr später Zuflucht bei seiner Schwester in Nordfrankreich, dort, wo auch seine Heimat ist. Während seines Aufenthalts lauscht er aus einem Versteck dem Gespräch seiner Schwester mit ihrem Mann. Sie schildert ihm das, was sie inzwischen von Édouards über die Nacht mit Reda erfahren hat. Aus dieser Distanz heraus reflektiert Édouard die Geschichte für sich und ergänzt das Gespräch für den Leser durch seine Gedanken. Hat der Beginn des Romans sich lediglich auf vage Andeutungen beschränkt, so erfuhr ich nun bruchstückhaft, aber in allen Einzelheiten, was sich in den wenigen Stunden des Zusammenseins mit Reda ereignet hat.

Édouard ist verstört und hat ein großes Bedürfnis zu reden. Er will nicht allein sein mit seiner Geschichte, doch die Geschehnisse verlassen ihn nicht gemeinsam mit seinen Worten sondern bleiben bei ihm. Auch Tränen fließen, jedoch ohne die Erinnerungen mitzunehmen. Seine Freunde raten ihm zu einer Anzeige bei der Polizei. Jeder mit dem er spricht bedauert ihn, jedoch mit dem Unverständnis über die Tatsache, dass Édouard einem Unbekannten so schnell vertraut hat. Für ihn muss es einen Grund geben, warum Reda so gehandelt hat, vielleicht handeln musste. Er sucht dessen Tat zu rechtfertigen. Im Vordergrund steht dabei Redas Status als Immigrant und Kind eines kabylischen Flüchtlings von der er in dieser einen Nacht erzählt hat. Der Autor hat selber in seiner Kindheit und Jugend mit schwierigen Familienverhältnissen gekämpft, bevor er sich aus den engen Ansichten der Dorfbewohner seines damaligen Wohnorts befreien konnte. Letztlich kann er durch seine Argumentation nicht wirklich überzeugen, auch sich selber nicht, denn er selbst hat gezeigt, dass man seine Ziele aus einer ungünstigen Ausgangslage heraus dennoch erreichen kann. Seine ungewollte Opferrolle versucht er abzustreifen, doch eine von ihm gewünschte Mitschuld findet er nicht für sich. Was bleibt ist die ständig wiederkehrende Angst, das alles könnte wieder passieren.

Als Leser habe ich die Verzweiflung von Édouard gespürt, der vergeblich versucht, das Geschehene zu vergessen. Er erzählt intensiv und eindringlich, in hellster Erregung, später auch erschöpft durch seine widerstreitenden Gefühle und sein Gedankenkarussell. Gerade das, was der Autor erlebt hat, kann auch denen von uns passieren, die ihren Empfindungen unbesonnen und spontan nachgeben. Dadurch sind die Schilderungen so beunruhigend in unserer heutigen Zeit zunehmender Gewaltbereitschaft. Der Roman berührt und bleibt im Gedächtnis. Darum eine Leseempfehlung von mir.