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Veröffentlicht am 02.09.2024

Schmerzhaftes, beeindruckendes Debüt. Highlight!

Die schönste Version
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Jella und Yannick, glücklich am Strand, ein Anfang? Schnitt. Jella und Yannick, gemeinsame Wohnung, sie schreit, er schreit. Eine Meinungsverschiedenheit, normal. Schnitt. Jella und Yannick, in der Küche. ...

Jella und Yannick, glücklich am Strand, ein Anfang? Schnitt. Jella und Yannick, gemeinsame Wohnung, sie schreit, er schreit. Eine Meinungsverschiedenheit, normal. Schnitt. Jella und Yannick, in der Küche. Seine Hände an ihrem Hals, er drückt zu. Schnitt. Jella auf der Polizeiwache. Schnitt.

Der Beginn dieses Romans hat mir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Was wie ein Thriller beginnt, ist Alltag für so viele Frauen, für zu viele Frauen: Häusliche Gewalt, Gewalt in der Beziehung, internalisierter Frauenhass, Femizide. Wie konnte es soweit kommen? Jella und Yannick waren doch ein glückliches Paar, führten eine ernsthafte Beziehung?

Ruth-Maria Thomas erzählt es uns. Ihr Debüt geht dorthin, wo es richtig weh tut und bleibt da. Zwingt uns hinzusehen, in die Abgründe, die hinter (Beziehungs-)Fassaden lauern. Jella leidet seit ihrer Kindheit und Jugend unter massiven Selbstwertproblemen. Da ist immer das Gefühl, nicht gut genug zu sein, als Mädchen und Frau nicht zu genügen. Selbst nach diversen sexuellen Übergriffen sucht sie die Schuld bei sich. Im ausrangierten, kaputten Theaterspiegel ihrer Mutter sieht sie sich - ein Sprung mitten durch das Glas. Einmal falsch aufkommen und alles liegt in Scherben.

Jellas Geschichte ging mir sehr nahe; auch deswegen, weil ich wie sie meine Kindheit und Jugend in den 00er und den frühen 10er-Jahren verbracht habe und diese Sozialisation (vor allem die weibliche!) auch meine war. Diverse Zeitschriften wie Mädchen oder Bravo, in denen frau nachlesen konnte, was SIE tun muss, um IHM zu gefallen. "Beziehungstipps", die vor Misogynie nur so triefen. Teenie-Stars, die dünn, dünner, am dünnsten sind. Kein Wunder also, dass Frauen auch 2024 noch glauben, SIE wären das Problem. Der Stachel sitzt tief.

Ruth-Maria Thomas erzählt von kaum wahrnehmbaren Verschiebungen von Grenzen; so banal, dass sie anfangs nicht auffallen. Von winzig kleinen Verletzungen, wie kleinste Glasscherben, die dennoch verletzen und Spuren hinterlassen. Ihr Stil ist, passend dazu, messerscharf und klar. Der Text ist durchzogen von abgehackten Sätzen und Gedankensplittern, kantig, unperfekt und ungeschliffen. Ohne Verschnörkelungen, die ablenken und dennoch voller treffender Bilder.

"Die schönste Version" hat mich sehr beeindruckt und tief berührt. Zeitgemäße Literatur in point. DAS sollten Mädchen und junge Frauen heute in der Schule lesen, statt den verstaubten "Klassikern". Der Buchpreis 2024 wäre meiner Meinung nach mehr als verdient.

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Veröffentlicht am 28.05.2024

Absolutes Herzensbuch und Highlight 2024

Demon Copperhead
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"Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind - Gewinner wie Verlierer. Aber ich hatte schon immer eine Schwäche für Superheldengeschichten." (S. 11)

Demons Start ...

"Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind - Gewinner wie Verlierer. Aber ich hatte schon immer eine Schwäche für Superheldengeschichten." (S. 11)

Demons Start ins Leben steht unter keinem guten Stern. Geboren im Trailerpark von einer drogenabhängigen Mutter, der Vater tot, der Stiefvater ein brutaler Mistkerl. Mies, mieser, total bescheiden geht es weiter. Denn in Virginia, einem der ärmsten Bundesstaaten der USA mitten in den Appalachen, haben selbst die Hilfs- und Sicherheitsnetze riesige Löcher. Wechselnde Pflegefamilien, Kindeswohlgefährdung und Misshandlung, ein marodes Gesundheitssystem, Armut, Hunger, Gewalt, Krankheit, Sucht... es kommt wirklich knüppeldick. Der Tod ist allgegenwärtig. Das ist nur schwer auszuhalten.

Was also ließ mich dranbleiben an diesem Über-800 Seiten-Wälzer? Die Antwort ist einfach: Demon selbst. Trotz all der Widrigkeiten strahlt seine Erzählstimme soviel Wärme, Liebe, Humor und Hoffnung aus, dass die Seiten beinahe glühen beim Lesen. Von der ersten Seite an eroberte Demon mein Leserinnen-Herz. Von außen betrachtet ein Verlierer, doch tief im Inneren ein wahrer Superheld. Auch die Nebencharaktere lassen das Herz höher schlagen (Angus! Tommy!) oder den Puls ansteigen (U-Haul!), denn von absolut liebenswert über skurril-komisch bis total abscheulich ist so ziemlich jeder Menschenschlag dabei.

Barbara Kingsolver verleiht einer Region eine kraftvolle Stimme, die vom Rest der USA und der Welt gerne verspottet und belächelt wird. Die "Hinterwäldler", die"Hillbillies"; "die sind doch alle drogenabhängig und leben von Tabak, Kohle und Schwarzbrennerei", um nur einige Stichworte zu nennen. Doch Kingsolver verharrt nicht bei diesen Vorurteilen. Klug recherchiert und voller Fingerspitzengefühl beschreibt sie ihre Heimat und zeigt auf, wie gezielte und strukturelle Ausbeutung eine komplette Region ins Aus katapultiert haben.

Ich hatte das große Glück, Barbara Kingsolver bei einer Lesung erleben zu dürfen. Wer sie reden und erzählen hört, weiß plötzlich sehr genau, woher Demon dieses Glühen, diese Begeisterung für "seine Leute" und diesen unglaublichen Humor hat. Ein wunderbarer Roman, absolut empfehlenswert und mein Highlight 2024!

"Wir hatten den Mond, der uns eine Weile durchs Fenster zulächelte und sagte, dass die Welt uns gehörte. Weil die Erwachsenen irgendwohin gegangen waren und alles in unsere Hände gegeben hatten." (S. 125)

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Veröffentlicht am 07.04.2024

Zauberschön!

Der Wortschatz
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Wie jeden Tag ist Oscar beim Löcherbuddeln, als er auf eine alte Holztruhe stößt. Ein Schatz! Voller Vorfreude und in Gedanken schon bei Goldmünzen, Ritterausrüstungen und alten Briefen öffnet er die Truhe ...

Wie jeden Tag ist Oscar beim Löcherbuddeln, als er auf eine alte Holztruhe stößt. Ein Schatz! Voller Vorfreude und in Gedanken schon bei Goldmünzen, Ritterausrüstungen und alten Briefen öffnet er die Truhe und findet - einen großen, verhedderten Wörterhaufen. Oscar ist enttäuscht und schleudert das erste Wort "Quietschgelb" achtlos ins Gebüsch. Zack, rennt plötzlich ein quietschgelber Igel heraus! Verwirrt und neugierig kehrt Oscar zur Truhe zurück. Das nächste Wort - "haarig" - wirft er gegen einen Baum und zaubert ihm dadurch eine prächtige Mähne. Immer mehr Worte fischt er heraus: pompös, monströs, herzensgut, blitzeblank, uralt... Bis die Truhe schließlich leer und somit Platz ist für eigene, kreative Wortschöpfungen.

Ganz verzaubert war mein 4-Jähriger von dieser Geschichte - und ich ebenso! Es macht unglaublich viel Spaß, mit Oscar zusammen die Wortschatztruhe zu leeren und ein buntes, schimmerndes Wort nach dem anderen zu entdecken. Hier werden Worte benutzt und durch zuckersüße Illustrationen verbildlicht, die im Alltag nicht mehr so gebräulich sind. Wie traurig! Und umso schöner, dass genau dieser Wortschatz wieder aufleben kann. Natürlich sind auch "Quatschwörter" dabei wie "sauergurkig", aber genau das macht Kindern doch so große Freude - mit Sprache spielen dürfen, sich ausprobieren, Worte neu zusammensetzen und ihnen andere Bedeutungen geben. Dazu regt dieses Buch an und das finde ich wunderbar! Große Empfehlung vom Junior und von mir.

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Veröffentlicht am 17.03.2024

Große existenzielle Fragen

Wellness
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Mit "Wellness" verarbeitet Nathan Hill große existenzielle Fragen zu literarischem Hochgenuss: Was hält Paare zusammen? Ist es der Glaube an eine gute, gemeinsame Geschichte? Ab wann verwandelt sich dieser ...

Mit "Wellness" verarbeitet Nathan Hill große existenzielle Fragen zu literarischem Hochgenuss: Was hält Paare zusammen? Ist es der Glaube an eine gute, gemeinsame Geschichte? Ab wann verwandelt sich dieser Glaube an sich selbst oder einen anderen Menschen in eine Lebenslüge?

Es waren einmal Jack und Elizabeth. Zwei Studierende in Chicago, neu in der Stadt, einsam und auf der Suche nach Glück, Erfolg und Liebe. Heimlich beobachteten und unkreisten sie einander, ohne das gegenseitige Interesse zu bemerken. Bis zu jenem besonderen Abend im Club. Jackpot, Seelenverwandtschaft. So erzählt uns Hill den Beginn dieser gemeinsamen Liebes- und Lebensgeschichte. Was in vielen anderen Romanen das Happy End wäre - und sie lebten glücklich bis an ihr Ende -, ist für Hill erst der Auftakt. Denn 20 Jahre später stehen Jack und Elizabeth vor der scheinbar alles entscheidenden Frage, ob ihr Traumhaus getrennte Schlafzimmer haben soll. Irgendwo zwischen den banalen Alltagsthemen und dem Projekt Hausbau, zwischen Geldsorgen und Fragen zur richtigen Kindererziehung, zwischen Care-Arbeit, Haushalt und Job haben sie sich gegenseitig verloren. Und vermutlich auch sich selbst. Während Jacks Künstlerseele (Lebens-) Entscheidungen auf Glauben und Vertrauen gründet, ist Elizabeth Wissenschaftlerin durch und durch. In ihrer Gesundheits-Praxis "Wellness" verkauft sie Placebos als Heilmittel für so ziemlich jedes Problem - und macht damit Profit mit dem Glauben der Menschen an wirkungsvolle Geschichten. Doch was passiert, wenn die Wissenschaftlerin selbst ein Placebo, eine neue glaubhafte Erzählung für ihre Ehe braucht?

"Wellness" ist ein herrlich kluges, philosophisches und sehr lebendiges Buch. Es hat mich vom Fleck weg berührt und begeistert, weil Nathan Hill ein wirklich begnadeter Erzähler ist. Er schafft es, verschiedenste Themen in diesem umfassenden Roman miteinander zu verbinden, ohne geschwätzig zu sein. Kunst, Wissenschaft, Amerikas utopisches Glücksversprechen, Gentrifizierung, Digitalisierung, Verschwörungstheorien, Neurodiversität und psychische Erkrankungen - es greift alles perfekt ineinander. Dazwischen immer wieder Jack und Elizabeth mit einer ausführlichen Analyse ihres Innenlebens, die beide trotz oder gerade wegen ihrer ausgewachsenen Probleme und belastender Vergangenheiten so erfrischend "normal und echt" wirken. Überraschende und hinreissende Wendungen runden den Roman im letzen Drittel zu einem wahren Pageturner ab.

Nathan Hill konnte mich mit "Wellness" restlos begeistern und überzeugen. Mit seiner warmherzigen Figurenzeichnung und einem klugen Blick auf aktuelle Probleme und Entwicklungen hat er sich in meine Jahreshighlights 2024 geschrieben. Noch lange wird mich die Frage beschäftigen, ob wir den Geschichten, die wir uns (gegenseitig) erzählen - über uns selbst, über Freundschaft, Liebe und Verbindung, vertrauen können? Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 08.03.2024

Gossip Girl in der Buchbranche.

Yellowface
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Holla die Waldfee, war das eine wilde Achterbahnfahrt der Gefühle! RF Kuang gelingt mit diesem Roman eine bitterböse und gleichzeitig unglaublich unterhaltsame Abrechnung mit brandaktuellen Skandalen ...

Holla die Waldfee, war das eine wilde Achterbahnfahrt der Gefühle! RF Kuang gelingt mit diesem Roman eine bitterböse und gleichzeitig unglaublich unterhaltsame Abrechnung mit brandaktuellen Skandalen und Themen aus Social Media, Bookstagram und dem Verlagswesen - glaubt mir, hier kommt nichts und niemand ungeschoren davon.

Im Mittelpunkt stehen Athena und June. Ok, eigentlich June, denn sie erzählt uns ihre Geschichte mit und um Athena. Die eine ein gefeiertes Hype-Sternchen am Literaturhimmel, die andere ein literarisches Mauerblümchen. Während Athena kräftig abräumt, einen Bestseller nach dem anderen schreibt und einen Netflix-Deal abschließt, steht June neidisch und unbeachtet in ihrem Schatten. Die beiden verbindet eine seltsame Zweck-Freundschaft-Hass-Besessenheit. Sind sie wirklich Freundinnen? Feindinnen? "Freindinnen"? Als Athena vor Junes Augen auf absurde Weise stirbt, lässt diese im Affekt Athenas neuestes Manuskript mitgehen. Niemand hat es bisher zu Gesicht bekommen oder gelesen... Und das verführt June zu einem perfiden Spiel mit dem Feuer.

Der Beginn ist eine Steilvorlage: Unfall - Diebstahl - kurzer Schock und Zack, sitzt June an Athenas Manuskript und überarbeitet es für ihre Zwecke. Show must go on, oder so. Mir jedenfalls ist ein wenig schwindlig geworden. Das Buch entwickelt einen richtigen Lesesog, der Stil ist eingängig und die Handlung passiert Schlag auf Schlag.

Mit June bekommen wir eine absolut unzuverlässige und sehr ambivalente Erzählerin. Man kann sie nicht gern haben, man kann ihr nicht glauben und fiebert dennoch mit. Sie verhält sich mal naiv und völlig selbstvergessen, dann wieder egoistisch und abgebrüht as hell. Die Leserschaft verklärt die Buchbranche gerne, glaube ich. Hier erleben wir, was hinter den Kulissen passiert: Konkurrenzkampf, Schnelllebigkeit, Wahllosigkeit, immenser Druck und Intrigen, Intrigen, Intrigen. Ein bisschen wie "Gossip Girl" in der Buchszene.

Kuang greift mit Yellowface wirklich einige brandaktuelle Themen auf: Kulturelle Aneignung in der Buchbranche (Wer hat das Recht über bestimmte Themen zu schreiben? Darf eine weiße Autorin aus dem Leid anderer Kulturen Profit schlagen?), Diversität als bloße Quote, Alltagsrassismus, Cancel Culture und Shitstorms/Hate Speech in den sozialen Medien. Über all dem schwebt subtil die Frage nach Ethik und Moral. Die Autorin schafft es, ihre Leser*innen komplett durchzuschütteln. Sowohl moralisch, als auch gefühlsmäßig. Am Ende weiß man nicht, wohin der moralische Kompass zeigt, weil sich "Norden" so oft verschiebt... Eine explosive Mischung mit einem folgerichtigen Ende. Hier ist der Hype berechtigt. Große Leseempfehlung!

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