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Veröffentlicht am 22.07.2024

Mein neues Lieblingsbuch!

Am Himmel die Flüsse
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Wie Flüsse, die sich durch Länder und Zeiten ziehen, ineinander münden und zusammen einen reißenden Strom ergeben – Elif Shafak vermag es, aus drei scheinbar ganz unterschiedlichen Erzählfäden ein großes ...

Wie Flüsse, die sich durch Länder und Zeiten ziehen, ineinander münden und zusammen einen reißenden Strom ergeben – Elif Shafak vermag es, aus drei scheinbar ganz unterschiedlichen Erzählfäden ein großes Ganzes und eine fesselnde und mitreißende Geschichte zu erschaffen. Und das Gesamtbild beleuchtet die Länder des ehemaligen Mesopotamiens gleich einem Kaleidoskop in seiner Historie und in Grausamkeiten, Verletzungen und Traumata, die über Grenzen hinweg bis in die Gegenwart und auf den europäischen Kontinent reichen.
Arthur ist ein Kind der Armut, des Elends und der Vereinsamung. Geboren im ausgehenden 19. Jahrhundert in einem London, das nur die Starken und Einfallsreichen den Kampf gegen Krankheit, Kriminalität und Verwahrlosung gewinnen lässt, erweist er sich dank seines herausragenden Intellekts als Überlebenskünstler. Und als Wunderkind. Denn allein durch autodidaktische Schulung gelingt ihm das, woran zahlreiche Wissenschaftler und Experten seiner Zeit verzweifeln: Er vermag es, die Keilschrift der alten assyrischen Kultur auf ihren überlieferten Tontafeln zu entziffern. Ist hiervon geradezu besessen. Und macht dabei eine Entdeckung, die sein Leben für immer verändern und weltweite Aufmerksamkeit erregen wird.
Narin ist ein junges ezidisches Mädchen, das gemeinsam mit ihrer Familie in ihrem Heimatdorf im Südosten der Türkei lebt. Der Bau des Ilisu-Staudamms bedroht nicht nur ihr Zuhause sondern auch die ezidische Gemeinschaft, Bräuche und Kultur, so dass ihre Familie beschließt, sie im Land ihrer Vorfahren, im heiligen Lalisch-Tal taufen zu lassen. Doch es ist das Jahr 2014, und Narin, ihr Vater und ihre über alles geliebte Großmutter werden Zeugen und Opfer des furchtbaren Genozids an den Eziden, der sich vor den Augen der Welt in aller Öffentlichkeit vollzieht.
Und schließlich ist da Zaleekah, Tochter einer Einwanderin aus dem Nahen Osten und aufgrund ihrer Herkunft, des frühen Todes ihrer Eltern und ihrer Kindheit und Jugend im Hause ihres dominanten Onkels in London verwundet und schwer traumatisiert. Die Begegnung mit Nen, einer Tätowiererin, Historikerin und bald einzigen Vertrauten Zaleekahs ändert für die junge Frau alles. Und gibt ihr die Stärke und Mut, welche sie all die Jahre nicht spüren konnte.
Die Figuren dieser Geschichten sind miteinander verbunden wie Tautropfen auf einem Spinnennetz. Es ist das Wasser als das Jahrhunderte und Jahrtausende überdauernde Element, das diese Brücken durch Zeit und Raum schlägt. Und es ist ein Gedicht, dessen Ursprung in Mesopotamien liegt. Und bis heute Menschen aller Herkunft und Länder in seinen Bann zieht.
Was daraus wird: etwas Großes! Ein Sog, der einen beim Lesen nicht mehr loslässt. Und ein Strudel, der in die erzählerischen Tiefen zieht. Und die Wellen über Dir zusammenschlagen lässt. Der Roman hat mir so viel gegeben. Und Elif Shafak mir ein neues Lieblingsbuch.

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Veröffentlicht am 09.07.2024

Erschreckend realistisch und so wichtig

Das Lied des Propheten
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Beeindruckend, erschreckend, hochaktuell – und ein Spiegel und Ausblick dessen, was geschehen kann und wird, wenn wir nicht wachsam sind. Und uns nicht einsetzen und kämpfen für unsere Demokratie. Unsere ...

Beeindruckend, erschreckend, hochaktuell – und ein Spiegel und Ausblick dessen, was geschehen kann und wird, wenn wir nicht wachsam sind. Und uns nicht einsetzen und kämpfen für unsere Demokratie. Unsere Werte. Für die Menschlichkeit.
Irland wird zum totalitären Staat! Erst langsam, schleichend, sich zunehmend überschlagend in Geschwindigkeit, Grenz- und Rechtsüberschreitungen, in Morden, Verschleppungen und Folter. Und Eilish ist mit ihrer Familie mittendrin – in Dublin, in dem Schrecken, Grauen und der Unmöglichkeit des Begreifens, Verstehens. Zu gewaltig ist das, was geschieht, zu absurd scheinen allein die Gedanken an das, was sich gerade vor den eigenen Augen vollzieht.
Eilishs persönlicher Albtraum, der Krieg in ihrem Inneren und Außen, beginnt mit der Verhaftung ihres Mannes Larry, eines Gewerkschafters, seinem spurlosen Verschwinden. Und dann geht es Schlag auf Schlag, Einschlag folgt auf Einschlag, auf Erschütterung, Detonation. Ihr ältester Sohn Mark soll zum Militärdienst eingezogen werden, Schule und Studienpläne werden zerstört – und schon ist Eilish mitten im Kampf um ihre Familie, deren Zukunft, ihr gemeinsames Überleben. Doch wird sie zunehmend machtlos, Willkür und Terror, Entsetzen und Trauer schutzlos ausgesetzt – bis auf einmal ihr gesamtes Leben in Trümmern liegt, im Staub des Zements, in den Überresten und der Zerstörung von Bombardement und Entmenschlichung.
Die Handlung, der Fortgang der Geschichte ist teils kaum zu ertragen. Und das ist gut so! Denn bei aller Fiktion ist der Roman so erschreckend, da erschreckend realistisch und zunehmend vorstellbar. Und er rührt an unseren Urängsten: dem Verlust des Zuhauses, dem Tode unserer Liebsten, dem Ausgeliefertsein der Gewalt, Willkür und Gesetzlosigkeit.
„Das Lied des Propheten“ ist so wichtig, gerade jetzt!

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Veröffentlicht am 18.06.2024

Verstörend, stark, einzigartig

Das Verschwinden
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Und auf einmal ist alles anders.
Und die Welt steht still, die Sicht verschwimmt. Und als die Augen sich wieder öffnen, sind diese weiblich. Und die Männer sind verschwunden.
Für Jane, Blanca, Ji-Won und ...

Und auf einmal ist alles anders.
Und die Welt steht still, die Sicht verschwimmt. Und als die Augen sich wieder öffnen, sind diese weiblich. Und die Männer sind verschwunden.
Für Jane, Blanca, Ji-Won und all die weiteren Frauen ändert sich innerhalb weniger Minuten damit alles: ihr Leben, ihr Lieben, die Gesellschaft, wie sie so selbstverständlich erschien. Denn ohne deren männliche Mitglieder sind nicht nur zahlreiche der wichtigen Führungspositionen plötzlich unbesetzt sondern auch Zuschreibungen und Rollenbilder in Frage gestellt. Und die Frauen selbst ebenso in einem Prozess der Veränderung und Entwicklung begriffen wie ihre Umwelt – Wirtschaft, Regierungssysteme aber auch die Natur, die wieder erblüht und Heilung erfährt.
In dieser Zeit der Trauer, des Leidens und des Neuanfangs findet eine Frau den Weg bis ganz an die Spitze: Evangelyne – Lichtgestalt, politische Anführerin und ein Magnet für ihre stetig wachsende Anhängerinnenschaft. Und für Jane ist sie nicht nur eine ehemalige Kommilitonin sondern auch einst beste Freundin und Anker ihres brüchigen Lebens. Mit Jane an ihrer Seite bringt Evangelyne Struktur und Richtung in die neue Welt, und ihr Aufstieg scheint kometenhaft.
Wenn, ja wenn… Und da kommen wir zu dem, für das es keine Worte zu geben scheint. Und für die Frauen keine Erklärung. Und für mich verstörende Stunden der Lektüre und ganz große Liebe für einen Roman, der so einzigartig anders ist. Denn mit „The Men“ scheint ein Guckloch in einen anderen Raum geschaffen, eine Dimension, fern der unseren, eine Geisterwelt, in welcher die verschwundenen Männer sich ihren Frauen zeigen. In kurzen Filmen ist ihr Leiden, ihre Qual, ihr Töten zu sehen, in einer Kulisse aus dämonischen Tierwesen und einer Natur in Falschfarben.
Verstörend? Sehr! Genial? Und wie! Und für mich so unerwartet: eine Geschichte mit so viel Kreativität und Schaffensgeist, Überraschendem und Denkanstößen, die mich nicht mehr loslassen wollen. Und mich bis in meine Träume verfolgt haben. Ja, das ist eine dringende Leseempfehlung von mir! Und Pflichtlektüre für diejenigen, die neue Wege denken und Literatur so ganz anders entdecken wollen.

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Veröffentlicht am 02.06.2024

Hexerei und Heilige: die Risse in der Wirklichkeit

Heiligenbilder und Heuschrecken
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Ein Haus voller Schatten, Engeln und Dämonen, ein Haus, das beschützt, bestraft und über dich wacht – in dieser Symbiose, Schutz und Bedrohung leben eine Enkelin und ihre Großmutter. Sie leben in Armut. ...

Ein Haus voller Schatten, Engeln und Dämonen, ein Haus, das beschützt, bestraft und über dich wacht – in dieser Symbiose, Schutz und Bedrohung leben eine Enkelin und ihre Großmutter. Sie leben in Armut. Sie leben ausgegrenzt von der Gesellschaft. Und sie leben gekettet an ein Haus, das Fluch und Segen zugleich für sie ist.
Doch nicht nur die Trennung nach sozialen Schichten und Milieus hat die Frauen der insgesamt drei Generationen in die Isolation getrieben, abgelegen hinter einem Gebirgskamm, getrennt von der weiteren Bevölkerung. Es ist auch die Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt, welche sie gerade durch die männlichen Dorfbewohner erfahren haben, sei es Ehemann, Partner oder Liebhaber, und das Frauenbild, das ihnen übergestülpt wird. Und es ist auch die hiermit einhergehende Zuschreibung der Hexerei und Verbindung zu übernatürlichen Kräften, welche die Menschen Furcht und Angst verspüren und Abstand zu ihnen halten lässt – ausgenommen die Momente, in denen sie sich die Fähigkeiten der beiden Magiebegabten für ihre eigenen Zwecke zunutze machen.
Ist das Haus mit seinem eigenen Innenleben Zuflucht und Gefängnis für deren Bewohnerinnen, so ist es auch Instrument für deren Rache und Waffe gegenüber den männlichen Peinigern. So wird es zugleich zum Bewahrer ihrer moralischen Abgründe und bindet die Frauen auch durch deren dunkle Geheimnisse an sich.
Dicht und intensiv wie die Erzählung selbst ist auch die Atmosphäre, die durch die klare, direkte Sprache und eine Handlung, welche eine verstörende und um Magie erweiterte Wirklichkeit beschreibt, geschaffen wird. Und so setzt sich das Büchlein mit seinem Reichtum an Motiven, Bedeutungsebenen und Kraft im eigenen Kopf fest, hallt in diesem nach und lässt die Leser*innen gestärkt zurück – wenn auch mit einer Gänsehaut über der eigenen Zufriedenheit.

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Veröffentlicht am 30.05.2024

Genozid an den Eziden – dokumentarisches Erzählen, so wichtig und beeindruckend

Vierundsiebzig
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Eindringlich, erschütternd, schonungslos – Ronya Othmanns Worte gehen tief in Mark und Bein, in Kopf und Herz und bleiben dort. Denn tief und existenziell ist ihre Frage nach einem Leben und Fortleben ...

Eindringlich, erschütternd, schonungslos – Ronya Othmanns Worte gehen tief in Mark und Bein, in Kopf und Herz und bleiben dort. Denn tief und existenziell ist ihre Frage nach einem Leben und Fortleben nach dem Moment, in dem die Zeit stillgestanden und das Unaussprechliche eingetreten ist. Und die Uhren sich anschließend trotzdem weiterdrehen. Und die Welt verändert zurücklassen.
Der 3. August 2014 ist dieser Tag – der Tag des Einschnitts, Todes und der Vertreibung. Der Tag des Genozides an der ezidischen Bevölkerung, dem vierundsiebzigsten. Verübt durch den sogenannten Islamischen Staat, in Shingal im Irak. Tausende Menschen fanden den Tod, grausam ermordet oder verhungert und verdurstet in den Bergen Sindschars. Und weitere Tausende, vor allem Frauen und Mädchen, wurden entführt, in Sklaverei verkauft, vergewaltigt, entmenschlicht.
Für das Unaussprechliche Worte finden, dem Schrecken Bild und Ausdruck verleihen – Ronya Othmann begibt sich auf die Reise zu den Orten der Morde und Vertreibungen, in die Camps und Häuser der Menschen, traumatisiert und verwundet in Körper und Seele, auf die Spuren ihrer Verwandten. Ihre Begegnungen, Eindrücke und Erfahrungen in der Türkei, Syrien und Irak setzt sie dabei in Beziehung zu ihrer eigenen Familiengeschichte, verflechtet sie mit ihrem eigenen Leben, geprägt und für immer gezeichnet von dem Völkermord.
Die Sachlichkeit in ihrem Erzählen steht im Kontrast zu den verübten Grausamkeiten und schier endlosem Leid und ermöglicht so einen Zugang zu Geschehnissen, die aufgrund der hohen Emotionalität dessen, was sie bei Schreibender und Lesenden hervorrufen, sonst kaum greif- und ertragbar erscheinen. Und so schafft Othmann Gehör für Ungesagtes und Raum und Bereitschaft für die Auseinandersetzung mit dem Genozid, der in unserem Kulturkreis zu oft, zu lang Kopf und Herzen nicht erreichte. Und zugleich hat sie mit „Vierundsiebzig“ einen Roman erschaffen, der überdauern und bleiben wird – als Mahnung, Erinnerung, Zeugnis einer großen, aufstrebenden Autorin.

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