Wer will ich sein? Wer kann ich sein?
„Manchmal denke ich an all die seltsamen und wunderbaren Dinge dieser Welt - die lilafarbene Kartoffel, die Venusfliegenfalle, das Schnabeltier... Wenn es unter dem Himmel Raum für alle diese Wunderdinge ...
„Manchmal denke ich an all die seltsamen und wunderbaren Dinge dieser Welt - die lilafarbene Kartoffel, die Venusfliegenfalle, das Schnabeltier... Wenn es unter dem Himmel Raum für alle diese Wunderdinge gibt, könnte da nicht auch Raum für mich sein?“
Lilys Gedanken sind die ganz normalen Überlegungen einer 17jährigen. Wer kämpft in diesem Alter nicht manchmal mit dem Gefühl, ein Igel in einer Welt von Hasen zu sein? Doch Lily trägt ein Geheimnis mit sich herum - sie hat berechtigte Gründe, immer wieder an sich selbst zu zweifeln. Und doch ist da Asher, ihr Freund, der sie abgöttisch liebt.
Doch eines Tages ist Lily tot. Und Asher war derjenige, der sie fand. Nur fand? Oder ist die Geschichte doch ganz anders, als sie den Anschein hat? Schnell wird Asher unterstellt, er habe mit Lilys Tod zu tun. Er wird vor Gericht gestellt. Und nicht einmal seine Mutter weiß noch, ob sie ihrem eigenen Sohn glauben soll, denn er ist nun mal auch der Sohn ihres Ex-Mannes. Und der hat ihr regelmäßig Gewalt angetan...
Dieser Roman hat mich richtig mitfiebern lassen. Einerseits mit Asher, der so überfordert mit der Situation ist, dass er einem einfach nur leid tut - und obwohl man nicht weiß, ob man ihm glauben kann, will man ihm so gern glauben, dass alles so passiert ist, wie er es darstellt.
Andererseits habe ich mit Lily gefühlt, wenn in eingeschobenen Kapiteln ihre Geschichte erzählt wird, und an vielen Stellen auch gelitten. Denn im Laufe des Mordprozesses offenbart sich Lilys Geheimnis (ich verrate es jetzt, da es auf Amazon in der Buchbeschreibung nachzulesen ist und damit kein Spoiler): Lily ist ein Transgender-Mädchen. Und ihr Kampf gegen Vorurteile, gegen Alltagshass, gegen ihre Umwelt und manchmal gegen sich selbst ist so gut beschrieben, wie es nur von jemandem kommen kann, der das selbst erlebt hat - Co-Autorin Professor Jennifer Finney Boylan. Da sie selbst eine Trans-Frau ist, kann sie Lilys Wahrnehmungen so gut beschreiben, dass man unwillkürlich in ihren Bann gezogen wird. Für mich als cis-Frau war es faszinierend, die Welt quasi mit Lilys Brille zu sehen. Es war aber auch sehr ernüchternd, denn natürlich gibt es noch mehr als genug Vorurteile und Widerstände, gegen die Trans-Personen ankämpfen müssen.
Doch nicht nur Lily hat eine Geschichte - auch Ashers Mutter Olivia kämpft immer noch mit ihrer Vergangenheit. Olivia war Opfer häuslicher Gewalt in ihrer Ehe und hat nur durch ihren Sohn den Absprung aus der Beziehung geschafft. Auch ihre Wahrnehmung wird nie eindimensional geschildert, sondern immer sehr vielschichtig - wie Gefühle nun mal sind.
Mit diesem Roman ist den beiden Autorinnen deshalb nicht einfach nur ein spannendes Buch gelungen, sondern sie öffnen Augen und Herzen für die Belange von Transgender-Menschen, die viel zu oft von der Gesellschaft ausgestoßen werden. Außerdem stoßen sie erneut die Debatte um Gewalt in Beziehungen an - ohne erhobenen Zeigefinger. Es ist ein vielschichtiges Plädoyer für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Toleranz und deshalb ein Buch, das man in diesem Jahr unbedingt gelesen haben sollte!