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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.06.2024

Finster, todtraurig und originell

Vor einem großen Walde
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„Märchen muss man bis zum Ende lesen.“ Das hat Sabas Mutter, immer gesagt, als sie noch lebte. Und jetzt steckt Saba selbst mitten in einem Märchen, wo der jüngere Bruder den älteren Bruder sucht, der ...

„Märchen muss man bis zum Ende lesen.“ Das hat Sabas Mutter, immer gesagt, als sie noch lebte. Und jetzt steckt Saba selbst mitten in einem Märchen, wo der jüngere Bruder den älteren Bruder sucht, der auszog den Vater zu suchen.

Wie Hänsel und Gretel den Brotkrumen folgt er den Hinweisen, die sein Bruder hinterlegt hat, durch den finsteren Wald voller Geister und wilder Tiere. In Tiblissi wurde der Zoo zerstört und jetzt ist man nirgendwo mehr sicher. Wilde Tiere und Soldaten sind allüberall.

Eigentlich waren sie vor dem Krieg in Georgien geflohen. Das Geld rechte nicht für die ganze Familie, deshalb ließen sie die Mutter zurück und sahen sie nie wieder. Den Vater hat sein Gewissen zurück ins Kriegsgebiet getrieben und jetzt auch Saba. Man kann auch aus sicherer Entfernung ein Kriegstrauma davontragen.

Saba wird auf seinem gefahrvollen Weg begleitet von Erinnerungen und den Gespenstern der Toten. Die Grenzen verschwimmen ständig. Seine Reise ist ein einziger Alptraum.

Dieses Buch ist finster, todtraurig und originell. Und auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es mir gefällt, wenn eine Kriegsgeschichte märchenhaft verklärt wird, hat es doch einen morbiden Charme. Es erzählt auf eine höchst innovative Art von den Gräueln eines sinnlosen Krieges.

Shenja Lacher liest das Buch ganz großartig, trifft wunderbar einen Ton, der gleichzeitig georgische Schlitzorigkeit und tiefe Verzweiflung transportiert, leicht und schwer in einem. Es dauert 12 Stunden und 25 Minuten.

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Veröffentlicht am 28.05.2024

Originell und berührend

Seltsame Sally Diamond
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Dieses Buch ist anders, genau wie Sally Diamond.

Sally ist Anfang 40, hatte aber bis dahin kaum Kontakt zu anderen Menschen. Sie sagt von sich selbst, sie wäre emotional defizitär, sie reagiert oft sehr ...

Dieses Buch ist anders, genau wie Sally Diamond.

Sally ist Anfang 40, hatte aber bis dahin kaum Kontakt zu anderen Menschen. Sie sagt von sich selbst, sie wäre emotional defizitär, sie reagiert oft sehr unerwartet, ist gnadenlos ehrlich und nimmt die Menschen beim Wort. Als ihr Vater stirbt, tut sie, was er gesagt hatte: Sie verbrennt ihn mit dem Müll. Mit der Aufmerksamkeit, die das erregt, hat Sally nicht gerechnet.

Es macht großen Spaß, dieses Buch zu lesen. Sally ist rührend bemüht, alles richtig zu machen, gerät aber immer wieder in skurrile Nöte. Sie möchte herausfinden, warum sie so ist wie sie ist und kommt dabei tatsächlich finsteren Geheimnissen auf die Spur. Nach und nach landet man in einem düsteren Thriller, der gleichzeitig eine grausige Familiengeschichte erzählt.

Was kann ein Verbrechen den Menschen antun? So etwas betrifft nicht nur die Opfer, es verändert auch die Leben der Verwandten. Eltern, Geschwister, sogar Onkel und Tanten müssen ein traumatisches Erlebnis verarbeiten, das sie ihr Leben lang begleitet. Das bekommt man hier plastisch auf mehreren Zeitebenen vor Augen geführt.

Das Ende zieht sich ein wenig, aber immerhin bleiben keine Fragen offen. Mit diesem Buch bekommt man einen sehr ungewöhnlichen Thriller, der überrascht, berührt, in Abgründe blickt, aber auch versucht, zu verstehen.

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Veröffentlicht am 02.05.2024

Überwiegend seltsam

Gute Ratschläge
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Auf der Liste der seltsamsten aller Bücher steht dieses hier ziemlich weit oben. Es ist nicht so, dass ich es nicht mochte, ich hätte nur sehr gerne mehr verstanden.

„Bin schläfrig, ich werde einen Brief ...

Auf der Liste der seltsamsten aller Bücher steht dieses hier ziemlich weit oben. Es ist nicht so, dass ich es nicht mochte, ich hätte nur sehr gerne mehr verstanden.

„Bin schläfrig, ich werde einen Brief an die rote Königin schreiben. Das Fenster steht offen und ich sitze davor. Der wundervolle, heiße englische Junimorgen. Schwer. Es müssen doch alle gerade irgendwo in Trance sein. Alle sind sie heute außer Haus, die ganze Straße. Auch ich bin in Trance.“

So geht es dahin, ein wenig in Trance schreibt Eliza Peabody Briefe an ihre ehemalige Nachbarin Joan. Böse Zungen behaupten, es gäbe sie gar nicht. Für Eliza ist sie sehr real. Manchmal. Wie auch 100 andere Nachbarn und Episoden aus ihrem Leben. Und Barry, ihr junger Freund aus dem Hospiz, ist mehr tot als lebendig und doch ihr bester Zuhörer.

Harry, ihr Mann, hat sie verlassen. Oder sie ihn? War es gestern oder vor Jahren? Eliza macht es einem nicht leicht.

Dieser Erzählstil ist wundervoll, leise mit bissigen Spitzen, atmosphärisch, elegant und genau so trägt Gabriele Blum den Text des Hörbuchs vor. Man kann ihr lauschen, sich fallen lassen und ab und zu wundern. Was hat sie gerade gesagt? Das kann doch nicht sein, aber sie hat es gesagt. Immer wieder gibt es leichte Irritationen die aufmerken lassen. Ist Eliza verrückt oder wird sie es gerade?

Am Ende hat man dann doch ein klein wenig in das Leben einer Frau geblickt, die eigen ist, viel erlebt hat, die traurig ist und auch Gründe dafür hat, die vielleicht verrückt ist, aber wirklich gute Geschichten erzählen kann.

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Veröffentlicht am 02.05.2024

Eine gewaltige Geschichte, originell und dramatisch

Die Porzellan-Erbin - Gefährliche Jahre
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Auf dieses Buch habe ich sehr lange gewartet, aber jetzt ist es tatsächlich da. Ich hatte ein wenig Sorge, ob ich wohl wieder in diese doch recht komplizierte Geschichte hineinfinde, aber das Buch macht ...

Auf dieses Buch habe ich sehr lange gewartet, aber jetzt ist es tatsächlich da. Ich hatte ein wenig Sorge, ob ich wohl wieder in diese doch recht komplizierte Geschichte hineinfinde, aber das Buch macht es einem leicht. Man wird an das Thema herangeführt, bekommt immer mal wieder eine Gedächtnisstütze und lernt die Figuren neu kennen.

Wir sind wieder auf Gut Hohensandau. 17 Jahre ist es her, dass Ferdinand von Hardenstein bei einem fürchterlichen Unglück seine Frau verlor. 17 Jahre lang hat er als gebrochener Mann weitergelebt, das Gut und die Porzellanmanufaktur weitergeführt und jetzt plötzlich bringt er eine neue Ehefrau nach Hohensandau? In seinem 70. Lebensjahr? Wirklich? Das Personal des Gutshauses ist in höchster Aufregung.

In Erzberg haben sie andere Sorgen. Mehrere junge Männer haben ein Auge auf Sophie geworfen, die jetzt 17 ist und eigentlich nur ihre Töpferei im Kopf hat. Plötzlich gibt es einen Unfall im Bergstollen. War es wirklich ein Unfall? Und was sind das für Fremde, die gleichzeitig im Dorf auftauchen?

In dieses Buch taucht man ganz tief ein, betritt eine andere Welt und hat sie deutlich vor Augen. Das betrifft jeden Aspekt der Geschichte, die Figuren, das Ambiente oder auch das historische Umfeld werden liebevoll betrachtet, beschrieben und ausgebreitet in diesem ganz eigenen Erzählstil, mit Hingabe, Humor und einem Augenzwinkern.

Man kann darin schwelgen und sich amüsieren, man kann es auch weitschweifig finden, aber ich freue mich über jede spitzfindige Formulierung und die ganzen liebevollen historischen Details. Habt ihr gewusst, wann und warum man die heilige Lucia, die Heilige Apollonia oder den heiligen Blasius von Sebaste anruft? (Und habt ihr je darüber nachgedacht, wann und warum man die ganzen Heiligen groß oder klein schreibt? 😊)

Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen. Es erzählt eine gewaltige Geschichte, originell und dramatisch, ein bisschen ausführlich, aber auch sehr schön.

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Veröffentlicht am 29.04.2024

Informativ und anrührend

Wären wir Vögel am Himmel
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Die Ukraine war wohl schon immer ein schwer umkämpftes Land. Erin Litteken zeigt uns die Situation dort im Zweiten Weltkrieg anhand einer Geschichte, die sich ganz nah an ihrer eigenen Familiengeschichte ...

Die Ukraine war wohl schon immer ein schwer umkämpftes Land. Erin Litteken zeigt uns die Situation dort im Zweiten Weltkrieg anhand einer Geschichte, die sich ganz nah an ihrer eigenen Familiengeschichte bewegt.

1941 übernehmen die Nazis die Ukraine und werden zunächst als Retter gefeiert. Aber sehr bald zeigt sich, dass die nicht besser als die Russen vor ihnen sind, oder als die Polen vor den Russen. Dass es die Ukraine noch gibt, ist ein Wunder.

Das ist eine verwickelte Situation, die Tragödien verursacht hat und die man in diesem Buch direkt plastisch vorgeführt bekommt. Lillija verliert ihren Bruder und ihre Mutter schon im ersten Kapitel. Ganze Familien werden vertrieben, enteignet, verhaftet, als wäre es nichts. Und es werden auch wahllos Menschen zur Zwangsarbeit in deutschen Fabriken eingezogen. Wer zur falschen Zeit am falschen Platz ist, hat Pech gehabt. Sogar die elfjährige Halya nehmen sie mit.

Das alles wird eindringlich und gefühlvoll beschrieben. Man ist sehr nah dran an den Figuren und leidet mit. Ab und an sind so geballte Grausamkeiten kaum auszuhalten, aber genau so muss man sich das Ganze wohl vorstellen.

Der Erzählstil ist intensiv bis blumig. Die poetischen Beschreibungen des Ambientes haben mir gutgefallen. Wenn es um die Gefühle der Protagonisten geht, war es mir oft zu pathetisch.

„Mit jedem Atemzug nahm der Schmerz in ihrer Brust zu. Es war, als würde sie Glassplitter einatmen, die ihr ins Herz stachen, sodass Emotionen hervorbrachen, die sie lange geleugnet hatte.“

So etwas ist Geschmackssache. Trotzdem ist die Lektüre wirklich spannend und mitreißend. Die Geschichte erzählt von Menschen, die viel ertragen müssen, dabei über sich hinauswachsen und sich auch immer wieder gegenseitig helfen in einer Welt voller Willkür.

Es erklärt anschaulich die komplizierte historische Situation der Ukraine als Spielball verschiedener Mächte, Interessen und Begehrlichkeiten und zeigt sogar, wie Polen gleichzeitig Freunde und Feinde sein können.

Am Ende wird alles vielleicht ein bisschen zu gut, um wahr zu sein, aber das haben wir uns dann wirklich verdient nach all dem Leid. Dieses Buch ist keine leichte Lektüre, aber informativ und anrührend. Ich bin beeindruckt und kaufe mir jetzt einen Kalynabusch. Die Beeren helfen gegen alles.

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