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Veröffentlicht am 03.06.2024

Obwohl gut erzählt habe ich mich außenvorgelassen gefühlt

Zitronen
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Lilly Drach hatte zu dem vollgestellten Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, keine besondere Beziehung. Am ehesten lag ihr noch der Garten aber nicht ein ums andere Jahr. Mal gelang ihr die Apfelernte ...

Lilly Drach hatte zu dem vollgestellten Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, keine besondere Beziehung. Am ehesten lag ihr noch der Garten aber nicht ein ums andere Jahr. Mal gelang ihr die Apfelernte und sie kochte den ganzen Sommer Kompott, das August und sie tagelang aßen. Im nächsten Jahr ließ sie alles wie es war und krümmte keinen Finger.

August war ein ruhiger Junge, das verdankte er seinem Vater.

Mit zehn kannte August die Macht der Kränkung. Er wusste, dass er gerade stehen sollte, keinen Lärm machen, sein Zimmer aufräumen, dass aus ihm nie etwas werden würde, dass er dumm war, dass er nicht so blöd schauen sollte, dass es besser gewesen wäre, man hätte ihn abgetrieben, dass er sich nicht so anstellen dürfe, dass jetzt alles wieder gut war. S. 27

Nachdem der Vater zugeschlagen hat, tröstet die Mutter. Die Mutter interveniert, möchte von August wissen, wen er lieber mag, wen er retten würde, wenn das Haus brenne, Vater oder Mutter?

Wenn der Vater nachts nach Hause kam unterhielt er die Hunde, mit einem Tänzchen oder einer Jonglage.

Die beiden Hunde waren des Vaters bestes Publikum, hörig und unbeeindruckt gleichermaßen. S. 33

Dann war der Vater eines morgens weg und die Mutter schminkte sich wieder. Sie grämte sich, weil sie keinen Mann hatte. Von da an, kam zwischen die Mutter und den August eine eigenartige Distanz und fast sehnte sich August wieder nach seinem Vater, damit er von der Mutter getröstet werden konnte.

Fazit: Die Autorin zeigt uns zerstörerischste Familienumstände in der jeder, eigene Unzulänglichkeiten zu kompensieren versucht. Der Vater lässt seinen Frust an seinem Sohn aus, die Mutter missbraucht und manipuliert den Sohn, um von ihm wahrgenommen zu werden und um sich nach den väterlichen Attacken besser zu fühlen, weil sie nichts unternommen hat. Das gesamte Klima ist rau, herzlos und Mittel zum Zweck. Die Sprachmelodie ist etwas altbacken, deshalb kann ich die Zeit nicht einschätzen, in der die Geschichte spielt. Und obwohl Valerie Fritsch einen großartigen Schreibstil hat, konnte sie mich nicht abholen. Die ganze Erzählung hat mich außen vorgelassen. Ich habe mich nicht eingeladen gefühlt, als sei es nicht für mich erzählt. Wohl habe ich den Kopf geschüttelt, an vielen Stellen, weil die Eltern ihrem Kind das ganze Leben versauen. Auch finde ich das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom arg gut gezeigt. Und doch hat das Buch mein Herz nicht erreicht.

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Veröffentlicht am 22.05.2024

Ein wunderbar bewegendes Buch

Auf Erden
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Katharina holte sie vom Krankenhaus ab, in dem ihr Vater lag. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, stellte die Lehne nach hinten und starrte in den Sternenhimmel. Katharina fragte , wohin sie wollte? ...

Katharina holte sie vom Krankenhaus ab, in dem ihr Vater lag. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, stellte die Lehne nach hinten und starrte in den Sternenhimmel. Katharina fragte , wohin sie wollte? „Fahr einfach, meinetwegen im Kreis bis der Tank leer ist“: Katharina fuhr mit dem Mietwagen, der klapperte und fauchte durch die Nacht und sie erinnerten sich an damals.

Sunny war zwei, als sie mit den Händen an das Krankenhausbett gefesselt war. Der Durst rieb wie Schmiergelpapier in ihrem Hals. Vater kam, löste die Fesseln, ließ sie trinken, hob sie hoch und trug sie nach Hause. Auf eigene Verantwortung riefen sie ihm hinterher.

Sunnys Vater kaufte Musikinstrumente, an die sie sich herantasteten und richtete ihr und ihren beiden Brüdern einen Proberaum unter seiner kleinen Tischlerwerkstatt ein.

Sunny traf Jessi zum ersten Mal in der Schulaula und sah verstohlen auf die feinen Narben an Jessis Handgelenken. Später fand sie heraus, dass sie von ihrem Vater geschlagen wurde, was sie mit einer übergroßen Sonnenbrille zu verbergen suchte.

Katharina, das war die ohne Vater, er war weggegangen als sie noch ganz klein war. Sunny sah ihren Kummer, wenn sie anderen Vätern mit ihren Kindern beim Spiel zusah.

Alma, die vierte im Bunde hatte sie einmal mit ihrem Vater in der Stadt getroffen. Er war klein, sprachlos und seine Augen blickten nervös umher. Es war Alma unangenehm, dass Sunny ihn so angestarrt hatte.

Sie waren vier Mädchen, die nichts trennen konnte, bis sie älter wurden, ihre Berufe, andere Freundinnen fanden und das Band poröser wurde.

Fazit: Ein schönes Porträt über Freundschaft, unterschiedliche Herkunftsfamilien, über gesunde (nicht toxische) Männlichkeit, Verlust und den Umgang mit Trauer. Obwohl Anne Kanis eine Ich-Erzählung geschaffen hat, so authentisch wie ein Memoir oder eine Biografie, ist ihre Geschichte fiktiv. Voller Sensibilität erzählt sie die Freundschaft von vier Freund
innen, die sich einige Lebensjahre begleiten und die so unterschiedlich sind wie ihre Väter. Obwohl die Autorin viele traurig stimmende Momente einbringt, macht sie auch Mut, darüber, wie das Leben immer weiter geht und wie wir Herausforderungen meistern, um geläutert und/oder bestärkt daraus hervorzugehen. Ich habe mich in den Charakter von Sunnys Vater verliebt und dieses wunderbar bewegende Buch sehr gerne gelesen.

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Veröffentlicht am 10.05.2024

Ein gelungenes Memoir

Die roten Stellen
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2004 wird der Fall Jane wieder aufgerollt. Sie starb 1969, im Alter von 23, in der Nähe der Universität, an der sie ihr erstes Studienjahr in Jura absolvierte. Man fand sie abgelegt auf einem Friedhof, ...

2004 wird der Fall Jane wieder aufgerollt. Sie starb 1969, im Alter von 23, in der Nähe der Universität, an der sie ihr erstes Studienjahr in Jura absolvierte. Man fand sie abgelegt auf einem Friedhof, zwei Einschusslöcher im Kopf, Strumpfhose um den Hals.

Seit Jane getötet wurde, entwickelte ihre damals 25 jährige Schwester diverse Ängste, die sich auch auf ihre Tochter Maggie übertrugen. Maggie ist Schriftstellerin und hat einen Gedichtband über ihre Tante geschrieben. Der Versuch Janes Schicksal aufzuarbeiten, ihr eine Stimme zu geben, führte bei ihr zu täglicher Analyse und nächtlichen Albträumen, in denen ihr oder ihrer Familie Gewalt angetan wurde und sie selbst gewalttätig war.

Während des Prozesses verspürt Maggie den heftigen Drang, die Prozessdetails aufzuzeichnen, bevor sie verschluckt werden, für immer in die Sprachlosigkeit verbannt.

Ein Ziel, das ich während des Schreibens hatte, war es, den Ereignissen des Mordprozesses, den Ereignissen meiner Kindheit, den Ereignissen vor Janes Ermordung und dem Akt des Schreibens zu gestatten, sich einen einzelnen gemeinsamen räumlichen und zeitlichen Moment zu teilen. S. 10

Während der Anhörung wurden die Tatortfotos von einem Gerichtsmediziner beschrieben, was Mutters Hände und Oberschenkel zum Zittern brachte. Der Wunsch Mutter möge der Situation mit breiter Brust begegnen war so groß, dass sie ihr Leid vergaß.

Fazit: Maggie Nelson schreibt über den Mord an ihrer Tante und über sich selbst. Dabei verarbeitet sie ihr Verhältnis zu ihrer Mutter und zu ihrer eigenen Schwester, die, ähnlich rebellisch, wie Jane war, während sie selbst immer unter dem Radar flog. Sie schreibt über den zu frühen Verlust ihres geliebten Vaters. Wie sie während ihrer Jugend Ruhe und Trost im Alkohol fand. Ihre Art zu schreiben ist großartig, ruhig beschreibt sie ihr Erleben während des Prozesses, die Geilheit der Presse, mit dem Leid ihrer Familie Quote zu machen. Die Frage, was eigentlich Gerechtigkeit bedeutet bewegt sie: Ergibt es irgendeinen Sinn, ein Leben gegen ein anderes aufwiegen zu wollen? Ist dieser Mann überhaupt schuldig. Wie verlässlich ist eine (so alte) DNA-Probe? Mit großer Sensibilität beschreibt sie, wie ihre Familie mit den Eindrücken umgeht. Es ist die gelungene Analyse, einer Frau, die die Ereignisse ihrer Familie und ihres eigenen Lebens angenommen hat, die ich sehr gerne gelesen habe.

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Veröffentlicht am 08.05.2024

Eine fein ausgearbeitete kleine Geschichte

Komm tanzen!
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Robbie und Cora geben eine ihrer legendären Partys. Sie haben sie alle eingeladen, ihre alten Verbündeten. Auch Lotte ist dabei, Coras jüngere Schweste. Sie steht abseits, lässt ihren Blick umherschweifen. ...

Robbie und Cora geben eine ihrer legendären Partys. Sie haben sie alle eingeladen, ihre alten Verbündeten. Auch Lotte ist dabei, Coras jüngere Schweste. Sie steht abseits, lässt ihren Blick umherschweifen. Schaut in den blaurosa dämmernden Abendhimmel, lässt das frische Grün der Birkenäste auf sich wirken, die im sanften Wind wehen. Ihr Blick ruht kurz auf dem See, der dabei freigegeben wird. Sie spürt das Gras und die frische Erde unter ihren nackten Füßen. Fragt sich, was sie hier machen, was sie sich von diesem Abend versprechen, aber nur kurz.

Robbie und Cora klammern sich mit aller Kraft an Momente wie diese, an ihre Freunde, das Feiern, an das Versprechen der Nacht, um der Hexe zu entkommen, die ihre ungeborenen Kinder nimmt.

Die schöne Claire sitzt am Klavier und lauscht Tom, der ein paar Takte anstimmt, man muss sie einfach lieben. Tom wegen seinem unerhört guten Aussehen und weil er ihr schon immer die größtmögliche Sicherheit gegeben hat und Claire wegen ihrer zarten Stärke, die sie dazu bewegt, ihr Schicksal anzunehmen und das beste daraus zu machen.

Unten sieht sie Bulle im Schlüppi ins Wasser rennen. Lachen brandet auf. Lotte denkt an die Schildhornsage:

Wer sich an den Schätzen der Nixe vergreift, den holt sie sich. S. 7

Fazit: Eine fein ausgearbeitete kleine Geschichte, die mich in ihren Bann gezogen hat. Lucia Jay von Seldeneck hat mit großer Erzählkunst interessante Charaktere gezeichnet. Ihre Beobachtungsgabe lässt sie in aller Ruhe in diese sinnliche Geschichte einfließen. Die Autorin lässt die Protagonistin Lotte, die jüngste Vergangenheit aufarbeiten, dabei erzählt sie mir von den einzelnen Menschen, die sie umgeben und welche alltäglichen Schwierigkeiten diese fast verzweifeln lassen. Zum Ende hin kippt die Partystimmung in rauschhaften Übermut. Eine Katastrophe bahnt sich an und gibt der Geschichte ein rasantes Tempo. Eine klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 03.05.2024

Eine verrückte kleine Parabel

Die Unordentlichen
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Als die siebzehnjährige Virginia mit ihrem Vater auf Sonya trifft, scheint diese, jede Art von Nähe als Zumutung zu empfinden. Körperkontakt oder auch nur ein Blick scheint in ihr hochgradiges Unwohlsein ...

Als die siebzehnjährige Virginia mit ihrem Vater auf Sonya trifft, scheint diese, jede Art von Nähe als Zumutung zu empfinden. Körperkontakt oder auch nur ein Blick scheint in ihr hochgradiges Unwohlsein zu erzeugen. Virginia bewundert Sonyas diszipliniertes Auftreten, wie die Wahl ihrer Kleidung, fühlt sich jedoch in der Nähe, der unterkühlten Künstlergattin unwohl.

Bis dahin hatte ich Sonyas Feindseligkeit – als reifer Ernst, senile Ungerührtheit verkleidet – nur bei einigen Männern erlebt. S.8

So gern Virginia auch mit ihrem Vater verreist, so unglücklich gestalten sich die Morgenstunden. Ihr Vater, der ohne eine Überdosis Lorazepam nicht schlafen kann, kommt nach dem Erwachen nur schwer auf die Beine. So auch an dem Morgen, als sich der Unfall ereignet, den sie, zuerst aufgeschreckt durch die Sirenen, vom Fenster aus beobachtet. In dem Tumult sieht sie Sonyas Gestalt, sie trägt einen Morgenmantel und hat Virginia den Rücken zugewandt. Ihr Gesicht richtet sich auf einen unglücklichen Tropf, der wild gestikuliert und schreit, wohl weil er von der Hüfte abwärts zwischen zwei Fahrzeugen eingeklemmt ist. Von Virginias Fenster aus, wirkt die Szenerie nicht so dramatisch, als dass sich das Geschrei erklären ließe. Doch als sie dann Sonyas erschüttertes Gesicht sieht, beschließt sie, sich das ganze aus der Nähe anzusehen.

Fazit: Xita Rubert hat ein Potpourris wilder Ereignisse zusammengestellt und sinnvoll aneinandergereiht. Die Geschichte wird aus Sicht der Ich-erzählenden Protagonistin Virginia dargestellt. Der Klang ist zeitlos und klassisch. Das Künstlerpaar scheint ihr Leben durch einige frivole Dekadenzen bereichern zu wollen, um der alltäglichen Langeweile zu entgehen. Die Besonderheit ihrer Stellung in der Gesellschaft scheint ihnen das Recht dazu zu geben. Virginias Vater versucht seiner Alltagstristesse zu entgehen, indem er mehr Zeit mit seiner Tochter verbringt, als mit seiner Frau. Die junge Virginia ist in diesem Trio, die einzige, die mit größeren Charakterzügen gesegnet ist. Die Autorin hat das skurrile Bild einer Elite gezeichnet, die sich, weil zur Upper Class gehörend, mehr erlauben kann, als der Rest der Gesellschaft. Die Geschichte ist verrückt, liest sich spannend und bekommt meine Lesempfehlung.

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