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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.07.2024

schmerzhaftes Thema, berührend erzählt

Mein drittes Leben
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Dieses Buch hat mich so sehr berührt! Ich weiß leider aus eigener Erfahrung, wie sehr einen ein Schicksalsschlag aus der Bahn werfen kann, und ich musste beim Lesen immer wieder innehalten und alles sacken ...

Dieses Buch hat mich so sehr berührt! Ich weiß leider aus eigener Erfahrung, wie sehr einen ein Schicksalsschlag aus der Bahn werfen kann, und ich musste beim Lesen immer wieder innehalten und alles sacken lassen, weil mir Lindas Geschichte so nahe ging. Linda hat ihrem früheren Leben nach dem Unfalltod ihrer 17-jährigen Tochter den Rücken gekehrt und nahezu alle Kontakte abgebrochen. Jeder Tag kostet enorme Kraft, auch das Thema Suizid steht im Raum. Daniel Krien findet genau die richtigen Worte, um Lindas Gedanken, ihren Schmerz und ihre innere Taubheit zu beschreiben. Atmen, aufstehen, essen, schlafen - nichts ist mehr selbstverständlich. Ein Geruch, eine flüchtige Begegnung, ein besonderer Lichteinfall kann schmerzhafte Erinnerungen auslösen. Erst mit der Zeit gelingt es Linda, sich ganz behutsam zu öffnen, etwa gegenüber Natascha, deren jugendliche Tochter Nine pflegebedürftig ist, nicht sprechen kann und als Autistin völlig in ihrer eigenen Welt lebt. Die Lebensrealitäten von Linda und Natascha sind auf den ersten Blick komplett verschieden, aber beide tragen einen Schmerz in sich, und es baut sich zwischen Ihnen eine Freundschaft auf, die beiden Halt gibt. Und je weiter Lindas Blick wird, desto mehr sieht sie, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat.

Ganz besonders gut gefällt mir in diesem Buch die Figurenzeichnung. Ob Linda, Natascha, Nine, der Ehemann Richard oder die Nachbarn auf dem Dorf - jede und jeder ist auf seine Art besonders, liebenswert und authentisch. Daniela Krien erzählt leise, behutsam, mit viel Tiefgang und Gespür für kleinste Details. Ihre Sprache ist präzise, einfühlsam und schnörkellos. Sie verfällt nie in Klischees, bietet keine einfachen Lösungen, sondern beobachtet genau und beschreibt das Leben in seiner Komplexität und Ambivalenz.

Thematisch sicher kein leichter, aber ein ganz wunderbarer und letztendlich auch Trost spendender Roman, der unglaublich toll geschrieben ist und den ich dringend weiterempfehlen möchte. Für mich war es das erste Buch von Daniela Krien, und ich möchte nun auf jeden Fall noch mehr von ihr lesen.

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Veröffentlicht am 12.07.2024

Grandiose Jugendliteratur!

Elektrizität und Himmelsfische
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Bereits das Autorenduo bildet ein ungewöhnliches und vielversprechendes Gespann - ein ukrainischer Schriftsteller und eine 15-jährige Schülerin, die beide unter Pseudonym schreiben und die eine Fluchterfahrung ...

Bereits das Autorenduo bildet ein ungewöhnliches und vielversprechendes Gespann - ein ukrainischer Schriftsteller und eine 15-jährige Schülerin, die beide unter Pseudonym schreiben und die eine Fluchterfahrung eint.

Die 14-jährige Marzia muss eines Tages Hals über Kopf mit ihren Eltern, Großeltern und der jüngeren Schwester ihr Zuhause verlassen und fliehen, da ihre Stadt unter Raketenbeschuss gerät. Zu sechst sitzen sie nun zwischen eilig zusammengepackten Taschen im Auto, am Steuer der Opa, der als einziger einen Führerschein hat, und versuchen zur Grenze zu gelangen. Nach mehreren Tagen erreichen sie ein Motel in Grenznähe. Dort lernt Marzia den Schriftsteller Andrej kennen und übergibt ihm am Tag ihrer Abfahrt einen Umschlag mit ihren Tagebuchaufzeichnungen über die Flucht, mit der Bitte, diese erst zu lesen, wenn sie sich binnen einer Woche nicht bei ihm gemeldet hat. Die Woche vergeht, Marzia meldet sich nicht, und Andrej öffnet dem Umschlag…

Marzias Heimatland wird nie explizit erwähnt, doch es ist offensichtlich, dass es sich hier um die Ukraine handelt. Ein Hinweis ist auch der plötzliche Raketenbeschuss im Februar, der Monat, in dem 2022 der Angriff auf die Ukraine stattfand. Im Buch wird als Ortsangabe lediglich mehrfach der Ruppigon erwähnt, der unter Beschuss steht und überquert werden muss. Da ich das Wort nirgends finden konnte, nehme ich an, dass dieses fiktiv ist und hiermit eine Grenzregion gemeint ist. Die phonetische Nähe zum antiken „Rubikon“ ist sicher kein Zufall.

Marzia hält in ihren Aufzeichnungen ihre Eindrücke, Erlebnisse und Gedanken während der Flucht im Auto fest. Schnelle Gedankensprünge, kuriose Beobachtungen und Diskussionen im Auto zwischen den Familienmitgliedern wechseln sich hierbei ab. Die Bedrohung durch Beschuss, Bomben, die Willkür von Kontrollposten, die prekären Verhältnisse in den Nachtlagern werden wie beiläufig erzählt, neben scheinbar alltäglichem Geplänkel im Auto und skurrilen Begegnungen am Straßenrand während der Stauphasen. Gerade diese Gegensätze - der lebensbedrohliche Ausnahmezustand und die normale Familiendynamik, wie sie auf jeder Urlaubsfahrt auftreten könnte (die um Zugluft besorgte Oma, der schwerhörige Opa mit dürftigem Orientierungssinn, Diskussionen über die Route, Kabbeleien unter Geschwistern), haben mich beim Lesen nicht mehr losgelassen. Das ist einfach grandios umgesetzt. Hinzu kommt Marzias unvergleichlicher Ton: eine eloquente Jugendliche, intelligent beobachtend, mit staubtrockenem Humor. Allein die Szene mit der Hochzeitsgesellschaft am Seitenstreifen ist großartig beschrieben: Unglaublich komisch und zugleich so traurig, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

Während der Autofahrt und ihren Gesprächen mit Andrej im Motel spürt man anhand Marzias Gedanken den Ernst der Lage: Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod? Welche Spuren hinterlässt er bei seinem Mitmenschen und was verschwindet im Vergessen? Und ihre Überlegungen zum (im russischen Sprachraum) bekannten Märchen „Ludwig der Vierzehnte und Tutta Karlsson“ von Jan Ekholm bilden eine scharfsinnige Parabel auf den Ukrainekonflikt.

Eine kleine Anmerkung zum Titel: Der Originaltitel lautet "Sidi i smotri", also etwa "Sitz und sieh", und ist damit eine geniale Reminiszenz an Elem Klimows Antikiregsfilm "Idi i smotri" ("Geh und sieh" bzw. in Westdeutschland "Komm und sieh", 1985). Offenbar ist der Film heute nicht mehr bekannt genug, um das Wortspiel im Deutschen zu übernehmen.

Mich hat dieses Buch nachhaltig berührt und beeindruckt. Es ist stilistisch außergewöhnlich umgesetzt und bietet viele Möglichkeiten zur Interpretation und Diskussion. Ich könnte mir den Roman auch hervorragend als Klassenlektüre ab der 9. Jahrgangsstufe vorstellen. Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 05.07.2024

Starke Fortsetzung!

Signum
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Nachdem mich „Refugium“ richtig gefesselt hat, war ich sehr gespannt auf die Fortsetzung. Diese schließt inhaltlich an Teil 1 an, und man sollte diesen im jeden Fall zuerst gelesen haben.

Kim hat inzwischen ...

Nachdem mich „Refugium“ richtig gefesselt hat, war ich sehr gespannt auf die Fortsetzung. Diese schließt inhaltlich an Teil 1 an, und man sollte diesen im jeden Fall zuerst gelesen haben.

Kim hat inzwischen seinen Peiniger aus der Kindheit gekidnappt, hält ihn in seinem Keller gefangen und foltert ihn, während Julia im rechtsextremen Milieu ermittelt. Hierdurch erhält die Handlung eine weitere, gesellschaftliche und politische Ebene, die gerade leider sehr aktuell ist.

Der Schreibstil ist packend und spannend geschrieben, mit vielen spektakulären Szenen, und ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es weitergeht. Lindqvist verfolgt mehrere Handlungsstränge parallel, so dass der Thriller sehr abwechslungsreich ist und auch noch viele weitere Ansätze für den dritten Band bietet.
Einige Szenen sind ziemlich brutal geraten, das war für mich stellenweise grenzwertig. Ich hätte die Schilderungen nicht in allen Details gebraucht, das war schon extrem. Faszinierend finde ich nach wie vor die Hauptfiguren Kim und Julia, die mir zwar beide nicht wirklich sympathisch sind, aber sehr interessante Charaktere darstellen. Sie überschreiten allerdings immer wieder die Grenzen der Legalität, was es mir als Leserin schwer macht, sie zu mögen.

Ich bin nun sehr gespannt auf den dritten und letzten Teil!

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Veröffentlicht am 16.06.2024

spannende Einblicke in die Welt der Marken

3 Streifen, 4 Ringe, 1 Apfel
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Marken begleiten uns von frühester Kindheit an, und meine ersten Erinnerungen zu diesem Thema reichen in die Grundschulzeit der späten 80er Jahre zurück, als wir uns im Klassenzimmer heftig darüber stritten, ...

Marken begleiten uns von frühester Kindheit an, und meine ersten Erinnerungen zu diesem Thema reichen in die Grundschulzeit der späten 80er Jahre zurück, als wir uns im Klassenzimmer heftig darüber stritten, ob nun der Amigo-Ranzen cooler ist als Scout (na klar!) und Pelikan oder Geha die besseren Füller hat. Dank der inkompatiblen Patronen waren hier die Fronten besonders verhärtet, schweißte doch schon die Möglichkeit, sich nur „markenintern“ mit Tinte aushelfen zu können, eng zusammen. Und wer gar mit LAMY schrieb, verkörperte auf dem Dorf sowieso den Gipfel der Extravaganz und kam garantiert aus dem Waldorf-Kindergarten.

Armin Bonelli spürt in „3 Streifen, 4 Ringe, 1 Apfel“ (ein genialer Titel!) dem Mythos der Marken nach: Wie entstehen Marken, woher kommt unsere Liebe zu bestimmten Marken, die mitunter nahezu religiöse Züge annimmt, welche Sehnsüchte sprechen sie an und wie lassen wir uns durch Marken manipulieren?

Der Autor verbindet informative Fakten, anschauliche Beispiele und wissenschaftliche Studienergebnisse und lockert die Thematik immer wieder durch eigene Erfahrungen auf. Dank des kurzweiligen Schreibstils liest sich das Buch sehr angenehm und flüssig. Es brachte mich dazu, mein eigenes Konsumverhalten, das ich als sehr markenkritisch bezeichnen würde, zu hinterfragen und zeigte mir auf, wo ich unbewusst in die Manipulationsfalle der Marken tappe. Entsprechend fand ich auch das Kapitel „Manipulation“ ganz besonders spannend und hätte hierzu gerne noch mehr gelesen (vielleicht in einem nächsten Buch?).

Am Ende des Buches stellt der Autor noch zehn verschiedene Markentypen vor inklusive eines kleinen Tests, anhand dessen man seine eigene Markentyp-Kombination bestimmen kann. Diese traf bei mir erstaunlich gut zu.

Aufgrund der gelungen Mischung aus interessanten Sachinformationen und unterhaltsamer Lektüre eignet sich das Buch auch sehr gut als Geschenk an alle, die sich für die Mechanismen hinter den Markenversprechen interessieren. Unbedingt lesenswert!

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Veröffentlicht am 04.06.2024

„Wir arbeiten in unseren Gräbern!“

Blutrotes Kobalt. Der Kongo und die brutale Realität hinter unserem Konsum
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Lithium-Ionen-Akkus sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie stecken in Smartphones, Laptops und Tablets und sind als Energiespeicher ein wesentliche Faktor der Mobilitätswende in Elektroautos ...

Lithium-Ionen-Akkus sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie stecken in Smartphones, Laptops und Tablets und sind als Energiespeicher ein wesentliche Faktor der Mobilitätswende in Elektroautos und E-Bikes. Um hohe thermische Stabilität bei gleichzeitiger großer Energiedichte gewährleisten zu können, ist das Alkalimetall Kobalt ein derzeit unverzichtbarer Bestandteil dieser Akkus und derzeit der begehrteste Rohstoff der Welt. Ein Hauptlieferant für Kobalt ist die Demokratische Republik Kongo.

Der Wirtschaftswissenschaftler, Meschenrechtsaktivist und Professor an der University of Nottingham Siddarth Kara hat sich eingehend mit dem Kobaltabbau im Kongo befasst und zeigt in „Blutrotes Kobalt“ auf erschütternde Weise, unter welchen menschenunwürdigen Bedingungen in den dortigen Minen das Kobalt hauptsächlich im handwerklichen Kleinbergbau gewonnen wird. Schwerste Kinderarbeit ist an der Tagesordnung, Schutzausrüstung und angemessene Kleidung sind nicht vorhanden, die Schürfer arbeiten in Shorts und T-Shirt, in Flipflops und mit bloßen Händen in einsturzgefährdeten Gruben und Stollen, die Mädchen und Frauen waschen das Erz in verseuchten Becken, sie alle atmen giftige und radioaktive Stäube ein für einen Hungerlohn, der nicht zu Überleben reicht, und sind täglich dem Risiko tödlicher Unfälle und, im Falle der Arbeiterinnen, sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Einer der Kleinschürfer formuliert treffend: „Wir arbeiten in unseren Gräbern!“

Der Gegensatz zwischen den zutiefst erschreckenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen im handwerklichen Kleinbergbau und der schillernden, scheinbar cleanen Welt modernster Elektronik könnte nicht größer sein. Kara zeigt auf, dass die PR-Erklärungen der Großkonzerne bezüglich Nachhaltigkeit und Arbeitsbedingungen das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt werden. Kara reiste zu Recherchen selbst mehrfach in den Kongo und machte sich teils unter beträchtlicher Gefahr ein eigenes Bild von den Bedingungen vor Ort. Er zeigt auf, welche unübersichtlichen Zwischenstationen in den Lieferketten das Kobalt zurücklegt und wie viele Menschen durch systematische Erpressung, Bestechung, Betrug, Vertuschung und Ignoranz an den einzelnen Stationen kräftig mitverdienen.

Kara führte Interviews mit Kleinschürfern, Vertretern von Bergbaugenossenschaften, NGOs, Regierungsvertretern und Zwischenhändlern. Insbesondere die Schilderungen der Arbeiter und Arbeiterinnen, der Invaliden und der Angehörigen von tödlich verunglückten, oft minderjährigen Schürfern machten mich fassungslos und lassen mich mit anderen Augen auf die akkubetriebenen Geräte blicken.

Ein erschütterndes und ungemein wichtiges Buch, das sehr zum Nachdenken anregt und hoffentlich dazu beiträgt, den Druck auf die Konzerne zu erhöhen, um menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu schaffen und die Ausbeutung der Kongoles*innen zu beenden. Unbedingt lesenswert!

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