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Veröffentlicht am 07.06.2024

Ein gelungenes Debüt mit schöner bildhafter Sprache

Die Tage des Wals
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1938 strandet ein Wal an einer der walisischen Inseln. Zu den wenigen gebliebenen Einwohnern gehört Manod, mit ihrer zwölfjährigen Schwester Llinos und ihrem Vater Tod. Die Mutter ist schon vor Jahren ...

1938 strandet ein Wal an einer der walisischen Inseln. Zu den wenigen gebliebenen Einwohnern gehört Manod, mit ihrer zwölfjährigen Schwester Llinos und ihrem Vater Tod. Die Mutter ist schon vor Jahren gegangen, kurz nach Llinos Geburt. Man fand sie in der Nähe des Festlands, das bei gutem Wetter acht Kilometer weit weg ist, bei schlechtem sechzehn.

Die Leute sind verunsichert wegen dem Wal. Für die meisten ist es ein schlechtes Zeichen, deshalb versuchen einige Fischer ihn mit Wasser zu kühlen und mit Seilen ins Meer zurück zu ziehen. Niemand kann erklären warum der Wal die Orientierung verloren hat.

Manods Vater redet selten mit ihr oder ihrer Schwester. Sie hört ihn manchmal nachts mit seinem geliebten Hund murmeln. Am Tag fährt er mit seinen Kisten raus und fängt Hummer. Llinos ist ein seltsames Mädchen, sie spricht nur keltisch und weigert sich Englisch zu lernen und dann sammelt sie noch Tierknochen, die sie in Gläsern im Vorratsschrank aufbewahrt, wo sich Manod regelmäßig davor erschreckt.

Mit dem Sterben des Wals finden Joan und Edward den Weg auf die Insel. Sie wollen mehr über die Brauchtümer der Inselbewohner herausfinden. Wollen ein Buch über deren Leben, Nahrung, Arbeit und Handwerk schreiben. In der englischsprachigen Manod finden sie eine verlässliche Übersetzerin und wecken Sehnsüchte.

Fazit: Elizabeth O´Connor hat eine Ich-Erzählung geschrieben. Die Sprache ist ruhig und unaufgeregt. Ihre Protagonistin ist eine anpassungsfähige junge Erwachsene, die die Insel verlassen möchte, weil die einzige Möglichkeit, die ihre Heimat ihr bietet ist, zu heiraten und auch hier ist die Auswahl begrenzt. Zugleich zeigt die Erzählung, wie es ist, wenn privilegierte Menschen in diese alten Volksgruppen eindringen und unter dem Deckmantel von, „Wir geben euch ein Gesicht“, das beschwerliche Leben der Einwohner romatisch verklären, oder unwahres verbreiten, nur um ihre Sichtweise besser vermarkten zu können. Die Autorin hat in mir starke Gefühle erzeugt und mich Dank ihrer bidhaften Sprache in den Bann der Geschichte gezogen. Ein sehr gelungenes Debüt, dem ich viele Leser*innen wünsche.

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Veröffentlicht am 06.06.2024

Was für eine schöne, trotz aller Tragik, humorvolle Geschichte

Solange wir schwimmen
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Alice, pensionierte Labortechnikerin schwimmt regelmäßig im Hallenbad, in den himmellosen Katakomben der Stadt, wo es ein wenig nach Clor riecht. Hier ziehen sie alle ihre Bahnen, der Blumenverkäufer, ...

Alice, pensionierte Labortechnikerin schwimmt regelmäßig im Hallenbad, in den himmellosen Katakomben der Stadt, wo es ein wenig nach Clor riecht. Hier ziehen sie alle ihre Bahnen, der Blumenverkäufer, die Sportasse, die Langsamschwimmer, die Genießer, der Parteivorsitzende und Alice. Sie halten sich an die Regeln des Bademeisters, meistens. Vor dem Schwimmen heiß duschen. Badekappe tragen. Keine Pflaster. Keine offenen Wunden. Ruhe halten. Alle ziehen ihre gewohnten Bahnen. Die Seitenschwimmerin auf Bahn zwei, der ältere Herr mit der aufgequollenen Nase Bahn sechs, die Frau vom Lottogeschäft Bahn acht, der Schuhmacher Bahn vier und Alice Bahn drei. Am Nachmittag sieht es wieder anders aus und am Abend kurz vor Schluss kommt Sue von gegenüber, zieht sich um, duscht, springt ins Wasser und muss schon wieder raus, weil der Bademeister „letzte Runde!“ ruft.

Im Wasser sind sie alle gleich. Im Wasser kommen sie zu sich, die 35-Bahnen Schwimmer ebenso, wie die 68-Bahnen Schwimmer, ganz gleich, wer sie an Land sind.

An dem Tag als der Riss ganz unten in Bahn vier entsteht, glauben die meisten noch, dass sie sich irren, aber wenige Tage danach, weigern sich schon die ersten Bahn vier zu benutzen. Zuerst tuschelt man leise hinter vorgehaltener Hand über Bahn vier und weil sich niemand so recht vorstellen kann was in ihrem geliebten Schwimmbad vor sich geht, beginnen die ersten Spekulationen. Die Schwimmbadfrequentierer nehmen den Riss mit nach Hause, lassen zu, dass er sie während ihrem Alltag begleitet und ihnen im nächtlichen Traum erscheint. Und während die Verwaltung anfängt sich des Risses anzunehmen, vergisst Alice den Namen ihres Mannes und verliert den ihrer Tochter.

Fazit: Was für eine schöne Geschichte. Julie Otsuka erzählt mir auf humorvolle und menschenfreundliche Art von den unterschiedlichsten Leuten, denen allen gemein ist, sich beim Schwimmen zu regenerieren und anschließend wie neu zu fühlen. Sie erzählt davon, wie wir dazu neigen uns von den Widrigkeiten des Lebens durch den Wolf drehen zu lassen. Und sie erzählt was am Ende eines gelebten Lebens bleibt, von dem Menschen, der es bewältigt hat. Fein erspürt sie eine Mutter-Tochter-Beziehung , in der die Mutter die Tochter etwas mehr geliebt zu haben scheint. Und sie erschließt mit großem Feingefühl, was Demenz für die Betroffenen und ihre Angehörigen bedeutet, wie sie heranschleicht, jede Erinnerung löscht und jeden Lebenssinn nimmt. Ein ganz fein gemachtes Buch über das ich verständlicherweise, schon so viel gutes gelesen habe.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein hitziges, meisterhaft gelungenes Debüt

Hitze
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Léonard verbringt die Ferien mit seiner Familie auf dem Campingplatz in Südfrankreich. Die Nächte bleibt er allein in einem Zelt unweit seiner Eltern, die Tage treibt er sich am Strand rum. Es ist ein ...

Léonard verbringt die Ferien mit seiner Familie auf dem Campingplatz in Südfrankreich. Die Nächte bleibt er allein in einem Zelt unweit seiner Eltern, die Tage treibt er sich am Strand rum. Es ist ein Jahrhundertsommer, dessen Affenhitze keiner entkommt. Die coolen Jungs in seinem Alter laufen mit blankem Oberkörper und lassen ihre Bizeps zucken. Leo lässt lieber den Schweiß an sich herunterrinnen, als sein Shirt auszuziehen, so groß ist die Scham, den Blicken der anderen nicht gerecht zu werden. Während sein jüngerer Bruder Adrien Mädchen küsst und seine Eltern ausgelassen Bingo und Tanzabende genießen, hält Leo sich bedeckt im Hintergrund. Am abendlichen Strand ist immer Party. Leo möchte wie die anderen tanzen können, möchte so selbstsicher wie Oscar, die scharfe Luce küssen.

Leo entscheidet sich, von der Party in sein Zelt zu schleichen, macht auf dem Kinderspielplatz Halt, weil er eine einsame Gestalt auf einer der Schaukeln sitzen sieht. Er erkennt Oscar, der seinen Kopf in die Seile der Schaukel gesteckt hat und sich jetzt dreht. Leo steht wie festgewachsen da, schaut Oscar fasziniert bei seinem Treiben zu. Sein Blick trifft den Oscars und er spürt mehr als dass er sieht, wie Oscar sein Leben ausatmet. Sein Körper wird schlaff, die Schaukel dreht sich zurück. Oscar rutscht auf den Boden, kippt nach vorne und bleibt mit dem Gesicht im Sand liegen.

Bald fährt Leo wieder nach Hause. Die letzten vierundzwanzig Stunden versucht er niemandem aufzufallen, drückt sich im Waschhaus herum und spült akribisch das Familiengeschirr, aber dann wird die Lust auf ein Mädchen gewaltig.

Fazit: Was für eine Szenerie, die Welt dieser jungen fast Erwachsenen, die Victor Jestin erschaffen hat. Ich spüre die tiefe Unsicherheit, die den Protagonisten und sein Umfeld quält. Leo möchte den anderen gerecht werden aber es scheint ihm nicht zu gelingen. Er bleibt in seinem selbst gewählten Schneckenhaus und wird zunehmend aggressiv. Die Eltern nerven ihn mit Erwartungen an einen „normalen“Jungen. Leos Überforderung mit sich, den anderen und seiner besonderen Situation hält ihn in seinen Obsessionen gefangen. Der Autor hat den Verhaltenscodex junger Menschen so gut eingefangen. Die Vorstellung sexuell performen zu müssen oder sich als Versager*in zu fühlen und der Häme aller ausgesetzt zu sein, erinnert mich schmerzlich an meine eigene Jugend. Die Sprache hat mich mitgenommen. Hier ist kein Wort zuviel, keine Szene überflüssig. Ein wirklich hitziges, meisterhaft gelungenes Debüt.

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Veröffentlicht am 01.06.2024

Eine wundervoll kluge Geschichte

Das perfekte Grau
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In dem maroden ehemaligen Grand Hotel herrscht die resolute Schmottke. Frau Schmottke ist um die 60, verwitwet und arg in die Breite gegangen. Jeden Tag sitzt sie in ihrem Sessel hinter der Rezeption und ...

In dem maroden ehemaligen Grand Hotel herrscht die resolute Schmottke. Frau Schmottke ist um die 60, verwitwet und arg in die Breite gegangen. Jeden Tag sitzt sie in ihrem Sessel hinter der Rezeption und schikaniert ihr Personal. Rufus, der schwarze Afrikaner ist den schweren Weg aus seiner Heimat Senegal nach Deutschland gegangen, augenscheinlich, um in Schmottkes Küche zu stehen. Mimi, Mitte 40, Anfang 50 mit ihrer schlanken Statur und Doris Day-Frisur ist Mädchen für alles. Ein bisschen Küche, etwas Frühstück und einige Betten.

Novelle ist die durchgeknallte Kleine mit den Tattoos und den Manga Postern, die sich durch die Minibars säuft.

Novelle: „In meinem Kopf ist fast immer Mitternacht.“ S. 31

Tja und Ante, den alle Dante nennen, Kroate, kam letztes Jahr im Seebad an und bleibt auch diesen Sommer. Dante macht sich mit kleinen Reparaturarbeiten nützlich.

Dante hat bisher nur Misserfolge, Pleiten und Schiffbruch erlitten. Hier versucht er sich zu finden, will wissen, warum er genau diese Entscheidungen getroffen hat, die ihn hierher geführt haben. Im Gegensatz zu den anderen hat Dante, dort wo er herkommt alles gehabt, was man sich wünschen kann und sich dann entschieden, alles wegzuwerfen.

Man kann seine Heimat verlassen, aber es gibt keine Gegenwart ohne Herkunft. Niemals und Nirgends. S. 7

Bis auf Mimi wohnen alle Angestellten in den ausgebauten heruntergekommenen Pferdeställen. Rufus und Dante freunden sich an und planen eine Bootsfahrt. Als sich dem Ausflug unvorhergesehen auch Mimi und Novelle anschließen, lüftet Novelle das Geheimnis ihrer Herkunft und schockiert alle gleichermaßen.

Fazit: Was für eine schöne, kluge Geschichte, voller Lebensweisheit und Reife. Eine Ode an die Freundschaft. Salih Jamal erschafft vier Protagonistinnen, die jeder für sich versehrt ist. Alle sind durch herausfordernde Lebensumstände gegangen und haben ihre Entscheidungen getroffen. Alle haben seelische Wunden davongetragen und alle haben das Bedürfnis wahrgenommen und, in ihrem so Sein respektiert und gemocht zu werden. Die Lebensereignisse aller vier Protagonistinnen lösen Mitgefühl aus, wecken Loyalität und Gerechtigkeitssinn. Der Autor lässt jeden in den Genuss von Vertrauen kommen und ein wenig heil werden. Zwischenzeitlich werden Tatsachen eingestreut wie, dass in der Sahara mehr flüchtende Menschen gestorben sind, als im Mittelmeer und es wirkt nicht wie Infodump, sondern wichtig auch solchen Themen einen Platz zu geben. Tolle Athmosphäre, schöne Charaktere, viele Einsichten, Spannung und eine gute Prise Humor, das ist der Stoff aus dem die Träume sind. Vielen Dank Salih Jamal für diese gute Unterhaltung.

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Veröffentlicht am 31.05.2024

Geschichte mit Sogwirkung

Gebranntes Kind
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Am Tag der Beerdigung von Bengts Mutter schaut er aus dem Fenster in das finstere Januarlicht. Mutter war krank. Etwas mit dem Herzen. Gegenüber in der Metzgerei war sie von einem Stuhl gefallen. Hinter ...

Am Tag der Beerdigung von Bengts Mutter schaut er aus dem Fenster in das finstere Januarlicht. Mutter war krank. Etwas mit dem Herzen. Gegenüber in der Metzgerei war sie von einem Stuhl gefallen. Hinter ihr, einer der Metzger nahm gerade ein Lamm aus und hat es nicht gesehen.

Der Vater hat nicht geweint. Sein Arm ist hart und schwer. Vaters zwei Schwestern haben den Kaffee vorbereitet und das Wohnzimmer geschmückt. Die eine ist schön, die andere hässlich. Die schöne liebt der Vater, weil er alles liebt was schön ist.

Nach der Arbeit schleppt Vater einen großen schwarzen Hund an, den er Hector nennt. Er hätte ihn in einer Zoohandlung gekauft, damit sie nicht so allein waren. Bengt fängt an dem Vater zu misstrauen und folgt ihm, wenn der abends mit dem Hund das Haus verlässt. Schon bald fühlt sich der Vater verfolgt und pausiert in einem Café, um sich hinter einer Zeitung zu verstecken und den Verfolger vorbeiziehen zu lassen.

Die ganze Wohnung ist durch Mutter imprägniert. Hier ein Brief in der Schublade, dort ein Strumpf, eine Brosche. Bengt kann sich nicht mehr auf sein Studium konzentrieren. Er geht nicht mehr zur Uni, dem Vater erzählt er von anstehenden Prüfungen und wie er den Lesungen beigewohnt hat, das macht dem Vater Freude.

Am Abend trifft Bengt seine Freundin Berit, die weint immer. Manchmal möchte er Berit mehr wehtun, als sie nur in den Oberarm zu kneifen, aber dann weint sie noch mehr.

Fazit: Von Anfang an hat mich die Geschichte Bengts gefesselt. Wie er seine Umwelt beobachtet und die falschen Intentionen in seine Mitmenschen hineininterpretiert. Mitanzusehen, wie Bengt sich fast in einen Wahn von Reinheit hineinsteigert, schmerzt. Seine Moralvorstellungen, mit denen er sich über die Welt der Erwachsenen stellt und sich selbst betrügt. Seine obsessiven Fantasien und sein selbstzerstörerisches Verhalten erschrecken. Die ersten Seiten musste ich mich an den nüchternen Schreibstil und die kurzen Sätze ohne Nebensätze gewöhnen. Die Sprache ist hart und zeichnet eine zerstörerische Destruktion. Alles wirkt real, der Charakter des Antihelden bis in die kleinste Ecke ausgeleuchtet. Ein wenig hat mich die Geschichte an den „Fänger im Roggen“ erinnert. Diese Geschichte Stig Dagermans, der sich mit 31 das Leben nahm, erstmals veröffentlicht 1948, hat viele negative Gefühle in mir geweckt. Wahrscheinlich hätte ich diesen bemitleidenswerten Antihelden versucht zu schlagen, wenn er mir in meinem Leben begegnet wäre. Diese Geschichte mit Sogwirkung, hat nichts an Aktualität eingebüßt und sollte eigentlich als Unterrichtsmaterial an Schulen dienen.

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