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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein wertvolles Zeitdokument!

Unter der Mitternachtssonne
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Paul Seesequasis, Angehöriger des Stammes der „Willow Cree“, porträtiert in diesem Bildband acht indigene Gemeinschaften Kanadas vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre hinein. Was als ...

Paul Seesequasis, Angehöriger des Stammes der „Willow Cree“, porträtiert in diesem Bildband acht indigene Gemeinschaften Kanadas vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre hinein. Was als kleines Social-Media-Projekt begann, entwickelte sich bald zu einem erstaunlich großen Erfolg. Unzählige Menschen nahmen mit Seesequasis Kontakt auf weil sie einen Ort erkannten, einem Foto eine Geschichte oder einem Gesicht einen Namen geben konnten und so fügten sich Stück für Stück immer neue Puzzleteile zu einem wertvollen Zeitdokument zusammen - ein kleiner Ausschnitt davon liegt nun in Form dieses faszinierenden Buches vor.

Begleitend zu den Fotos erzählt der Autor Anekdoten, streift verschiedene Biografien und berichtet über wichtige Ereignisse - dabei legt er sein Augenmerk bewusst nicht
hauptsächlich auf das Leid und die Ausbeutung der Völker, sondern auf deren beeindruckende Stärke, ihre Integrität und die Fähigkeit, sich ständig weiterzuentwickeln und neuen Gegebenheiten anzupassen. Auch der außergewöhnliche Kreativität der Menschen und ihrer ab den 1960er Jahren recht aktiven Künstlerszene widmet der Autor ein umfangreiches Kapitel.

Besonders beeindruckend finde ich die tiefe Naturverbundenheit der alten Stämme und die stark intuitive Art ihre Kinder zu erziehen und für sich zu sorgen. Ich habe oft das Gefühl, wir sind durch den schnellen Fortschritt und Wandel mittlerweile so weit davon entfernt, dass wir diese Intuition, diese Verbindung zu unserer Umwelt kaum noch (be)greifen können - solche Bücher tragen wunderbarerweise dazu bei, die Erinnerung an unseren Ursprung zu bewahren.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein schillerndes Mosaik!

Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019
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Heute erscheint die deutschsprachige Ausgabe von Bernardine Evaristos „Mädchen, Frau, etc.“, das 2019 mit dem Booker Price ausgezeichnet wurde. Natürlicherweise schraubt eine solche Auszeichnung die ...

Heute erscheint die deutschsprachige Ausgabe von Bernardine Evaristos „Mädchen, Frau, etc.“, das 2019 mit dem Booker Price ausgezeichnet wurde. Natürlicherweise schraubt eine solche Auszeichnung die Erwartungen an das Buch in die Höhe und beeinflusst unterschwellig auch die eigene Meinung - entweder liest man das Buch dadurch schon mit positiveren Augen (im Sinne von „das Buch muss einfach gut sein“) oder die Erwartungen sind dermaßen hoch, dass sie im Grunde nicht erfüllbar sind. Beides ist mir schon passiert und ich habe mich dann (durchaus mit leichtem Bedauern) gefragt, inwiefern ich das Buch unvoreingenommen anders wahrgenommen hätte.

„Mädchen, Frau, etc.“ hat es mir jedoch leicht gemacht, mich ganz unbefangen in das Lesevergnügen zu stürzen, da ich im Grunde kaum etwas über den Roman wusste. Wie ein Mosaik fügt die Autorin 12 Frauenleben zu einer spannenden Komposition zusammen - alle Geschichten sind miteinander verwoben und doch steht jede einzigartig für sich selbst. Einwanderung, Integration, Inklusion, Identität, Mutterschaft und Weiblichkeit - all diese zentralen Themen haben ihren verdienten Platz in diesem Roman gefunden und machen ihn zu einem wichtigen Beitrag der zeitgenössischen Literatur.

Evaristos sprachlicher Stil hat mir sehr gefallen - ich finde ihn frisch, ja fast ein bisschen frech und sehr modern. Daumen hoch von mir für dieses tolle, wichtige Buch!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Könnten auch schnöde Gebrauchsanweisungen sein...

Von Beruf Schriftsteller
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Haruki Murakami erzählt in „Von Beruf Schriftsteller“ persönliche Anekdoten aus seinem Leben als Schriftsteller, über den Prozess des Schreibens an sich und nebenbei auch ein klitzekleines bisschen ...

Haruki Murakami erzählt in „Von Beruf Schriftsteller“ persönliche Anekdoten aus seinem Leben als Schriftsteller, über den Prozess des Schreibens an sich und nebenbei auch ein klitzekleines bisschen über den Literaturbetrieb allgemein. Es handelt sich um Essays, die im Laufe einer längeren Zeit geschrieben wurden und nicht um einen zusammenhängenden, an einem Stück entstandenen Text.

Haruki Murakami bietet hier wirklich sehr interessante Einblicke in sein Schaffen, die sicher besonders inspirierend für andere (angehende) Autor*innen sind
aber auch ich (die nix dergleichen anstrebt - leider, wie ich nach dieser Lektüre fast sagen möchte) habe mich wieder einmal fabelhaft unterhalten gefühlt - was ich zugegebenermaßen wahrscheinlich selbst dann täte, wenn Murakami Gebrauchsanweisungen schriebe.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein schönes Buch, das noch lange in mir nachhallen wird.

Sterben im Sommer
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„Sterben im Sommer“ ist vielleicht das persönlichste Buch von Zsuzsa Bánk. Mit (den ihr so eigenen) leisen, eindringlichen Tönen erzählt die Autorin von einem großen Verlust. Sie nimmt Abschied von ...

„Sterben im Sommer“ ist vielleicht das persönlichste Buch von Zsuzsa Bánk. Mit (den ihr so eigenen) leisen, eindringlichen Tönen erzählt die Autorin von einem großen Verlust. Sie nimmt Abschied von ihrem Vater, dem Stützpfeiler ihres Lebens mit dem großen Herzen, von dem fröhlichen Lachen und seinem glücklichen Gesicht beim Erzählen. Und sie nimmt Abschied von dem Sommerhaus in einem kleinen Dorf in Ungarn, dem Paradiesgarten, den Erinnerungen an heiße Tage und die jó úzsás - die Liebe zum Wasser.

Ich kann die Kritik mancher Leser durchaus nachvollziehen, welche sich an der stellenweise etwas ausufernden Trauerbewältigung störten, der großen Verzweiflung angesichts des natürlichen Kreislaufes von Leben und Tod. Andererseits - was sonst erwartet man von einem autobiografischen Buch, mit einem solchen Titel, wenn keine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Sterben, Abschied und Trauer?

Mich haben Zsuzsa Bánks Worte sehr berührt, was vielleicht auch daran liegen mag, dass ich im selben Jahr meine Mutter an eine schwere Krankheit verloren habe. Viele Erinnerungen an diese intensive Zeit wurden geweckt, Empfindungen wach gerufen und manche ihrer Worte legten sich wie Schablonen über meine eigenen Gefühle, die ich längst nicht so gut auszudrücken vermag. Auf Seite 94 schreibt Zsuzsa Bánk den Gedanken nieder, eine Haarsträhne ihres Vaters abzuschneiden und aufzubewahren - nun, die kleine, dunkle Haarsträhne meiner Mutter ruht in einem Kästchen im Regal meiner Tochter, der Duft ist noch zu erahnen.

Ein schönes Buch, das noch lange in mir nachhallen wird.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Hohes sprachliches Niveau!

Zitronen
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Die Drachs leben am Rande eines winzig kleinen Dorfes, in dem jeder jeden kennt und gleichzeitig keiner den anderen. August wächst hier umgeben von duftenden Apfelbäumen in scheinbarer Idylle auf, unter ...

Die Drachs leben am Rande eines winzig kleinen Dorfes, in dem jeder jeden kennt und gleichzeitig keiner den anderen. August wächst hier umgeben von duftenden Apfelbäumen in scheinbarer Idylle auf, unter der harten Hand des Vaters heran, die öfter ausrutscht als ermuntert, und mit einer vom Leben um die verdiente Aufmerksamkeit betrogenen Mutter, die lieber tröstet als beschützt. Liebe und Zuneigung sind hier untrennbar miteinander verbunden, das eine gibt es nicht ohne das andere, ja, beides bedingt sich sogar, und so drehen die drei sich in ihrem grausamen Mobile der Gewalt bis der Vater eines Tages einfach beschließt auszubrechen und verschwindet. Mutter und Sohn, ihres perfiden Puppenspielers beraubt, doch unfähig den ihnen zugeteilten Rollen zu entkommen, taumeln umeinander und steuern unaufhaltsam einer so ungeheuerlichen wie zwangsläufigen Tat entgegen.

Valerie Fritschs „Zitronen“ ist ein Buch, das ich Wort für Wort zitieren möchte und das ist paradoxerweise sowohl die Stärke des Textes, als auch seine Schwäche. Schmal ist der Roman und dabei extrem gehaltvoll, jedes Wort sitzt und jeder Satz lässt ein fertiges Bild in meinem Kopf entstehen. Das ist ohne Frage eine literarische Leistung, aber auch anstrengend. Ich mag es, mich in eine Geschichte hineinfallen zu lassen, ohne mich dabei konzentrieren zu müssen; die Sätze langsam in sich selbst, ihre Bedeutung hineinwachsen zu sehen. Die blumig-poetische Sprache scheint den bedrohlichen Inhalt hier fast zu erdrücken, sich über diesen zu erheben, statt ihn zu (unter)stützen. So blieben die Figuren für mich durchweg auf Distanz, nicht ganz greifbar. Nichtsdestotrotz eine große Empfehlung für alle, die sich auf das Thema „Münchhausen by proxy“ einlassen mögen und Lust auf gute Literatur hohen sprachlichen Niveaus haben!

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