Eine sprachliche Wucht!
Ich bin in Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ ab der ersten Seite versunken und habe mich heimisch gefühlt; entgegen vieler Kritiken, die ich zuvor gelesen hatte und die es als etwas schwierig bezeichneten, ...
Ich bin in Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ ab der ersten Seite versunken und habe mich heimisch gefühlt; entgegen vieler Kritiken, die ich zuvor gelesen hatte und die es als etwas schwierig bezeichneten, in den Roman hineinzufinden. Vielleicht liegt es am ähnlichen Alter und dem mir wohl bekannten Sound einer 90er-Jahre-Kindheit; ich hatte sofort das Gefühl eine alte Freundin wieder zu treffen, Geschichten aus Kindertagen von damals zu hören. Während die Erzählung zu Beginn noch etwas vor sich hin plätschert nimmt sie ab ca. Seite 50 Fahrt auf und das Bild verdüstert sich zusehends. Stück für Stück offenbart sich eine Welt frei von jeglicher Sicherheit mit einem trinkenden, unwichtige Dinge hortenden Vater, einer stoisch alles aushaltenden Mutter, einem ignoranten Umfeld, in dem kaum gesprochen wird, ein stilles Kind nichts zu Hoffen und noch weniger zu Erwarten hat. Mich schmerzte das Hadern des Mädchens mit seiner Herkunft, allem voran mit seinem ungewöhnlichen Namen, dem „Geheimnamen“, der nicht genannt werden darf und den auch wir Leser*innen nicht erfahren, dem nicht richtigen Gesicht, dem man das Fremde ansehen könnte. Wie ist es möglich, dass Eltern bei dem Kind eine solche Entfremdung von der eigenen Identität nicht bemerken oder einfach so hinnehmen, fragte ich mich, und die Antwort lautet wohl, weil sie ihre eigene nicht (aner)kennen, ihr keine Bedeutung beimessen. Tiefe Einsamkeit und ein beständiges Gefühl des Fremdseins begleitet die Ich-Erzählerin, das auch von den beiden engsten Freunden nicht aufgefangen wird - im Gegenteil wird auch hier immer nur betont sie sei ja nicht wie „die anderen (Ausländer)“, was sie genau dazu macht. Alles gilt ihr persönlich, alles kommt ihr so nah und verdrängt sie an den Rand, wo ihr nichts als Zusehen und Hinnehmen bleibt.
Bei aller Empathie und Verständnis für den schwierigen Background der Protagonistin habe ich mich doch (besonders im Mittelteil) schwer getan mit dem wirklich stark ausgeprägten Selbstmitleid. Ich hätte das Mädchen schütteln mögen, es anschreien „wehr dich, mach etwas, such dir neue Freunde, sag doch was!“ aber dieses Unverständnis scheint mir auch einfach dem Unwissen über derartige Verhältnisse und deren Auswirkungen geschuldet; steckt nicht viel Hochmut und Arroganz dahinter?
Das letzte Drittel fand ich wieder richtig stark. Ganz zart spinnt die junge Frau erste eigene Pläne, hoffnungsvoll scheint ihr Blick in die Zukunft. Sie ist in der Lage zu reflektieren und beginnt vorsichtig sich aus der Lethargie und dem Konstrukt der Handlungsunfähigkeit ihrer sozialen Herkunft zu befreien.
Sprachlich ist das Buch eine Wucht - klare Sätze mit einer ungeheuren Schlagkraft prägen große Teile der Geschichte und entwickeln einen regelrechten Sog, der mich für die Längen im Mittelteil entschädigte. Deniz Ohde legt hier einen aktuellen Bildungsroman vor der mich an Tara Westovers „Befreit“ denken ließ und vielen Menschen eine Stimme geben dürfte.