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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein richtig guter, stark erzählter Roman!

Portrait
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Wer sind wir ohne die Reflexion durch andere, was bliebe von uns übrig ohne sie?

Jürgen Bauers „Portrait“ zeichnet das Leben eines Mannes nach, der nirgendwo reinpasst. Als zarter „Großkopferter“ auf ...

Wer sind wir ohne die Reflexion durch andere, was bliebe von uns übrig ohne sie?

Jürgen Bauers „Portrait“ zeichnet das Leben eines Mannes nach, der nirgendwo reinpasst. Als zarter „Großkopferter“ auf den heimischen Bauernhof so wenig wie später, nach seiner Flucht in die Großstadt, als Homosexueller in die feine Gesellschaft Wiens, wo er bald ein kräftezehrendes Doppelleben zwischen Juristerei und Schwulenkneipe führt. Der Roman ist in drei zeitliche Abschnitte eingeteilt. Von Georgs Kindheit nach dem zweiten Weltkrieg in einem kleinen Dorf im Nirgendwo erzählt seine Mutter Mariedl; sehr authentisch und in tiefstem österreichischen Dialekt (ja, durchaus eine Herausforderung für mich Nordlicht aber ich habe sie gemeistert 💪🏻) lässt sie das Bild eines Knaben vor meinen Augen entstehen, der früh spürt, dass er anders tickt und der engstirnigen Dorfgemeinschaft entfliehen muss, um seinen Weg zu finden. Auf ebendiesem begegnet er dem jungen Gabriel, der sein Liebhaber und heimlicher Gefährte in den folgenden Jahren wird. Doch während dieser in die pulsierende Schwulenszene Wiens der 70er Jahre eintaucht und das Leben mit ganzem Körpereinsatz (und zum Soundtrack David Bowies) aufsaugt, bleibt Georg gefangen in der spießigen Hülle, die er seinem Leben, ja, sich selbst überstülpt. Im wilden, ungestümen Temperament Gabriels spiegelt sich umso stärker Georgs Zurückgezogenheit, die Unfähigkeit, sich seinem Selbst zu stellen. Im letzten Teil kommt Sara zu Wort, eine erfolglose, vom Partner misshandelte Opernsängerin, die ihm freundschaftlich zugetan ist und in dem schwächlichen, lenkbaren Georg den idealen Ehemann für sich erkennt; und ihm ihrerseits mit einer Zweckehe gesellschaftliche Sicherheit bieten kann.

Von diesen drei Seiten nähern wir uns Georg, ziehen immer engere Kreise und bekommen seinen Umriss deutlich zu fassen aber nie wirklich ihn selbst; während die Figuren um ihn herum schillern und vor Lebendigkeit strahlen, bleibt er seltsam verschwommen, entgleitet immer wieder ins Leere - wir sehen das Negativ, nicht aber das wirkliche Bild. Georg schwankt passiv im eigenen Leben umher, der Charakter nur hie und da durchblitzend, blass bleibend neben den Erzählstimmen und fast nicht greifbar für mich als Leserin. So bleibt in mir eine große Zuneigung für die drei Erzähler*innen und ihre zärtliche Liebe zurück und leises Bedauern über das vertane Glück Georgs, der seinen Platz nie finden konnte und dem am Ende nicht einmal die eigenen Erinnerungen bleiben. Ein richtig guter, stark erzählter Roman!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein packender Heimatkrimi im besten Sinne!

Wolf
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Ein kleines Dorf im Schwarzwald Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Menschen leben ein einfaches, karges Leben, ohne größere Überraschungen oder Träumereien. Als wie aus dem Nichts ein geheimnisvoller Junge ...

Ein kleines Dorf im Schwarzwald Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Menschen leben ein einfaches, karges Leben, ohne größere Überraschungen oder Träumereien. Als wie aus dem Nichts ein geheimnisvoller Junge auftaucht sind die Dorfbewohner verzückt. Eine engelsgleiche Ruhe und Geduld geht von dem jungen Gabriel aus, seine geradezu überirdische Schönheit zieht jeden in den Bann und es zeigt sich, dass der Knabe heilende Fähigkeiten hat, die auf eine besondere Bildung hindeuten. Doch der junge Mann, der keine Erinnerungen mehr an seine Herkunft hat, bleibt den Einwohnern ein Mysterium und als gleich zwei Frauen sich in ihn verlieben beginnt der Wind sich zu drehen. Die reine, gute Seele Gabriels löst in den Herzen der Dörfler Missgunst aus, sät Eifersucht und Zwietracht und fordert das eine oder andere Opfer.

„Ohne sich selbst schuldig zu machen, ist er es, der bei anderen die Sünde auslöst oder zumindest sündige Wünsche und Sehnsüchte hervorlockt. [...] Der Bursche gleich einem Tier, das von Geburt an lauter und rein ist wie jede Gotteskreatur und dabei allein von seinem Instinkt getrieben wird. Selbst das wildeste Tier tut ja nichts Böses. Der Wolf zum Beispiel handelt nicht böse wenn er das Lamm reißt, es liegt in seiner Natur.“ S. 124/125

Ein packender Heimatkrimi im besten Sinne ist Marie Brunntaler mit „Wolf“ gelungen. Die Sprache ist etwas altertümlich und einfach gehalten, dabei aber sehr lebendig und perfekt zum Setting der Geschichte passend; sie führte mich an der Hand mitten hinein in das Leben an diesem abgeschiedenen Ort, wo eigene Gesetze herrschen. Von Anfang an liegt eine leicht bedrohliche Spannung über der Geschichte, der ich mich nicht entziehen konnte und die sich Stück für Stück entlädt bis am Ende nur eine Frage übrig bleibt - wer ist gut und wer ist böse? Der feine Blick der Autorin auf die archaischsten Wesenszüge der Menschen in all ihren Facetten ohne ins Klischeehafte abzudriften hat mich beeindruckt. Ein ganz tolles, besonderes Buch!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Absolute Begeisterung!

Untertauchen
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Eine Mutter verschwindet spurlos und taucht 16 Jahre später wieder auf. Ein junges Mädchen läuft von zu Hause weg, aus Angst seinen geliebten Eltern etwas anzutun. Der Bonak, eine bösartige Kreatur, ...

Eine Mutter verschwindet spurlos und taucht 16 Jahre später wieder auf. Ein junges Mädchen läuft von zu Hause weg, aus Angst seinen geliebten Eltern etwas anzutun. Der Bonak, eine bösartige Kreatur, sucht die Menschen in ihren tiefsten Ängsten heim. Und über allem liegt der reißende Fluss, hält die einzelnen Fäden und führt sie schicksalhaft zusammen. „Untertauchen“ von Daisy Johnson begibt sich auf die Suche nach Antworten auf existenzielle Fragen; was bedeutet Familie, Identität und Sexualität? Können wir unserer Herkunft und Geschichte entwachsen und Erlösung finden von unserer Schuld? Der Roman ist in drei zeitliche Abschnitte unterteilt; „Das Cottage“ erzählt die Gegenwart, „Der Fluss“ die Vergangenheit (rastlos und ständig in Bewegung), „Die Jagd“ widmet sich dem Raum dazwischen. Erzählt wird außerdem abwechselnd aus der Ich-Perspektive von Gretel und Margot/Marcus. Diese verschiedenen Erzählstränge verlangen dem/der Lesenden einiges an Konzentration ab. Einmal jedoch den Anspruch abgelegt jeden Satz und Gedanken sofort in Gänze verstehen zu wollen, fiel es mir nicht weiter schwer, am Ball zu bleiben - im Laufe der Geschichte rutscht alles irgendwie an seinen Platz. Die bildhafte, poetische Sprache des Romans hat mich sehr berührt und gefesselt - an dieser Stelle gilt auch ein großes Lob der Übersetzerin Birgit Pfaffinger. Die intensiven Naturbeschreibungen und die der Einsamkeit entsprungene, eigenbrötlerische Art der Protagonisten, sowie das Selbstverständnis, mit welchem die Autorin die Gefühls- und Gedankenwelt, die Verletzbarkeit der Figuren zu erfassen vermag erinnerten mich an „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens.

Ein tolles, ein besonderes Buch und eine absolut begeisterte Empfehlung von mir für jeden, der sich auf eine sprachlich wunderschöne, phantasievolle, manchmal auch melancholische und herzzerreißend traurige, märchenhaft anmutende Erzählung einlassen mag.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Sprachlich wunderschön, bildhaft, intensiv, beklemmend, beeindruckend, lehrreich, emotional, spannend

Heimkehren
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Yaa Gyasis „Heimkehren“ zeichnet die Lebenswege zweier Schwestern nach die, wenn auch aus einer Quelle entsprungen, wie loderndes Feuer und fließendes Wasser unterschiedlicher nicht verlaufen könnten. ...

Yaa Gyasis „Heimkehren“ zeichnet die Lebenswege zweier Schwestern nach die, wenn auch aus einer Quelle entsprungen, wie loderndes Feuer und fließendes Wasser unterschiedlicher nicht verlaufen könnten. Während die jüngere Effia Ende
des 18. Jahrhunderts einen englischen Sklavenhändler heiratet und ihre Nachkommen im heutigen Ghana bleiben und zeitlebens von der Sklaverei profitieren, wird die ältere Esi als Sklavin nach Amerika verkauft, wo deren Nachfahren fortan ausgebeutet werden
und erbittert für ihr Recht kämpfen müssen.

Der Roman ist in 14 Abschnitte eingeteilt, jeder Abschnitt widmet sich der jeweils nachfolgenden Generation; im Wechsel begleiten wir beide Familienzweige bis in die heutige Zeit und bekommen so einen ungeschönten Einblick in die Geschichte
der Sklaverei, deren Auswirkungen und Traumata auf ein ganzes Volk bis in die Gegenwart.

„Sie würden nur eine Art von Fesseln gegen eine
andere austauschen, physische Fesseln, die um Handgelenke und Knöchel gelegt wurden, gegen unsichtbare, die die Gedanken banden.“ (S. 134)

Zu sagen, es sei ein schönes Buch, fühlt sich falsch an. Sprachlich wunderschön, bildhaft, intensiv, beklemmend, beeindruckend, lehrreich, emotional, spannend und bei aller Grausamkeit auch hoffnungsvoll - das alles ist „Heimkehren“ aber definitiv und ich habe es in den letzten zwei Tagen quasi inhaliert. Tatsächlich hatte ich beim Lesen öfter den Gedanken „ach, so hing dass also zusammen“, wie ein Crashkurs Geschichtsunterricht und hätte manches Mal laut schreien mögen. Ich möchte bei der Thematik unbedingt am Ball bleiben und bald auch das
vielgerühmte Buch von Colson Whitehead über die „Underground Railroad“ lesen, das hier auch Erwähnung findet.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Mein Lieblingsbuch der Autorin!

Ehre
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„Männer besaßen Ehre. [...] Frauen besaßen keine Ehre, sie besaßen Scham.“ (S. 31).

„Ehre“ ist so ein Buch, das dich verändert zurücklässt, ein kostbares Juwel in der Welt der Geschichten. Es ist ...

„Männer besaßen Ehre. [...] Frauen besaßen keine Ehre, sie besaßen Scham.“ (S. 31).

„Ehre“ ist so ein Buch, das dich verändert zurücklässt, ein kostbares Juwel in der Welt der Geschichten. Es ist die Chronik eines Ehrenmordes - die Geschichte einer Familie, dessen traditionsgebundenes Leben gute Absichten hat und Glück suggeriert, jedoch verbrannte Erde hinterlässt, kalte Herzen und zerstörte Träume.

Die Zwillingsschwestern Pembe und Jamila werden als letzte von acht Töchtern in eine kurdische Familie am Euphrat hineingeboren. Sie wachsen behütet, aber immer mit dem Wissen um ihre Unzulänglichkeit als Mädchen auf und sind sich gegenseitig Freude genug bis das Leben die Schwestern trennt - und das Schicksal sie wieder zusammen führt.

Mit unheimlich viel Empathie und Liebe für all ihre Figuren führt uns Elif Shafak in das Auge des Orkans und legt den Finger dahin, wo es weh tut. Und das tat es wortwörtlich - mir wurde beim Lesen manchmal die Brust eng und mein Hals war wie zugeschnürt. Dabei beherrscht die Autorin es auf einzigartige Weise, alte Traditionen und Werte sprachlich mit der Moderne zu verknüpfen, ohne dabei je an Authentizität zu verlieren. Ein für mich sehr besonderes Buch aber es fällt mir aufgrund des emotionalen Themas schwer, eine allgemeine Leseempfehlung auszusprechen.

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