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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein so wichtiger Anstoß!

Der Bastard von Istanbul
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Armanoush, entwurzelt und auf der Suche nach ihrer Vergangenheit und Asya, die die ihre am liebsten auslöschen würde; zwei junge Frauen, hin und hergerissen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Tradition ...

Armanoush, entwurzelt und auf der Suche nach ihrer Vergangenheit und Asya, die die ihre am liebsten auslöschen würde; zwei junge Frauen, hin und hergerissen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Tradition und Moderne, überwinden ein altes, kulturelles Trauma.

Elif Shafak beweist in „Der Bastard von Istanbul“ wieder einmal großes erzählerisches Talent. Kunstvoll verwebt sie die Geschichten der Türken und Armenier miteinander und legt Stück für Stück eine gemeinsame Vergangenheit frei, die den Hass der Gegenwart Lügen straft und tief mit Istanbul, dieser besonderen Stadt, die niemandem und allen gehört, verflochten ist. Kritisch, doch mit viel Empathie und Zärtlichkeit betrachtet Shafak ihre Figuren und deren Verhalten; umso unfassbarer erscheint mir die Tatsache, dass die Autorin damals wegen dieses Romans (zum Glück erfolglos) von der türkischen Regierung verklagt wurde. Ein dunkles Stück Geschichte gilt es noch aufzuarbeiten und der Autorin gelingt mit diesem Roman ein Anstoß, der nicht urteilt aber aufzeigt - wichtig, bitte lesen!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Eine sprachliche Wucht!

Streulicht
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Ich bin in Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ ab der ersten Seite versunken und habe mich heimisch gefühlt; entgegen vieler Kritiken, die ich zuvor gelesen hatte und die es als etwas schwierig bezeichneten, ...

Ich bin in Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ ab der ersten Seite versunken und habe mich heimisch gefühlt; entgegen vieler Kritiken, die ich zuvor gelesen hatte und die es als etwas schwierig bezeichneten, in den Roman hineinzufinden. Vielleicht liegt es am ähnlichen Alter und dem mir wohl bekannten Sound einer 90er-Jahre-Kindheit; ich hatte sofort das Gefühl eine alte Freundin wieder zu treffen, Geschichten aus Kindertagen von damals zu hören. Während die Erzählung zu Beginn noch etwas vor sich hin plätschert nimmt sie ab ca. Seite 50 Fahrt auf und das Bild verdüstert sich zusehends. Stück für Stück offenbart sich eine Welt frei von jeglicher Sicherheit mit einem trinkenden, unwichtige Dinge hortenden Vater, einer stoisch alles aushaltenden Mutter, einem ignoranten Umfeld, in dem kaum gesprochen wird, ein stilles Kind nichts zu Hoffen und noch weniger zu Erwarten hat. Mich schmerzte das Hadern des Mädchens mit seiner Herkunft, allem voran mit seinem ungewöhnlichen Namen, dem „Geheimnamen“, der nicht genannt werden darf und den auch wir Leser*innen nicht erfahren, dem nicht richtigen Gesicht, dem man das Fremde ansehen könnte. Wie ist es möglich, dass Eltern bei dem Kind eine solche Entfremdung von der eigenen Identität nicht bemerken oder einfach so hinnehmen, fragte ich mich, und die Antwort lautet wohl, weil sie ihre eigene nicht (aner)kennen, ihr keine Bedeutung beimessen. Tiefe Einsamkeit und ein beständiges Gefühl des Fremdseins begleitet die Ich-Erzählerin, das auch von den beiden engsten Freunden nicht aufgefangen wird - im Gegenteil wird auch hier immer nur betont sie sei ja nicht wie „die anderen (Ausländer)“, was sie genau dazu macht. Alles gilt ihr persönlich, alles kommt ihr so nah und verdrängt sie an den Rand, wo ihr nichts als Zusehen und Hinnehmen bleibt.

Bei aller Empathie und Verständnis für den schwierigen Background der Protagonistin habe ich mich doch (besonders im Mittelteil) schwer getan mit dem wirklich stark ausgeprägten Selbstmitleid. Ich hätte das Mädchen schütteln mögen, es anschreien „wehr dich, mach etwas, such dir neue Freunde, sag doch was!“ aber dieses Unverständnis scheint mir auch einfach dem Unwissen über derartige Verhältnisse und deren Auswirkungen geschuldet; steckt nicht viel Hochmut und Arroganz dahinter?
Das letzte Drittel fand ich wieder richtig stark. Ganz zart spinnt die junge Frau erste eigene Pläne, hoffnungsvoll scheint ihr Blick in die Zukunft. Sie ist in der Lage zu reflektieren und beginnt vorsichtig sich aus der Lethargie und dem Konstrukt der Handlungsunfähigkeit ihrer sozialen Herkunft zu befreien.

Sprachlich ist das Buch eine Wucht - klare Sätze mit einer ungeheuren Schlagkraft prägen große Teile der Geschichte und entwickeln einen regelrechten Sog, der mich für die Längen im Mittelteil entschädigte. Deniz Ohde legt hier einen aktuellen Bildungsroman vor der mich an Tara Westovers „Befreit“ denken ließ und vielen Menschen eine Stimme geben dürfte.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Was für eine geniale, verrückte Idee!

Die Hauptsache
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Was für eine geniale, verrückte Idee!
Ganz ehrlich - ich habe noch nichts vergleichbares gelesen. Irgendwo zwischen Science-Fiction, Fantasy und brutaler Realität angesiedelt wirft Hilary Leichters Debütroman ...

Was für eine geniale, verrückte Idee!
Ganz ehrlich - ich habe noch nichts vergleichbares gelesen. Irgendwo zwischen Science-Fiction, Fantasy und brutaler Realität angesiedelt wirft Hilary Leichters Debütroman unweigerlich und ziemlich schnell die Frage auf, ob wir eigentlich alle einen gewaltigen Dachschaden haben. Gefühlsmäßig hin und her gerissen zwischen hysterischem Kichern und ungläubigem Kopfschütteln bewegte ich mich durch diese rasante, aberwitzige Odyssee durch eine (vordergründig) fiktive Arbeitswelt. Die Protagonistin hat nicht nur diverse Aushilfsjobs sondern passend dazu auch 18 feste Freunde, für jede Lebens- und Gemütslage einen, logisch. Sie pendelt von einer Stelle zur nächsten und entlarvt dabei so manche Absurdität unserer Arbeitsmoral, treibt sie auf die Spitze und reibt uns schonungslos die eigene Austauschbarkeit unter die Nase.

Hoch engagiert ist unsere namenlose Protagonistin, effizient und fleißig und - ob als Vertretung einer vom Aussterben bedrohten Seepockenart oder engagierte Aushilfskraft eines Mörders - immer auf der Suche nach Selbstoptimierung, dem großen Sinn des Seins, eben der Hauptsache.

Die Geschichte liest sich wie ein tiefschichtiges Märchen, das immer noch eine weitere Ebene verbirgt; ich hätte mir jeden zweiten Satz anstreichen mögen. Und während ich lese und nebenbei auf mein Smartphone starre und lese und wieder aufs Handy kucke beschleicht mich so ein merkwürdiges Gefühl, als ob es um mich ginge, nur um mich; das Surreale fühlt sich plötzlich sehr real an. Hilary Leichters Roman stimmt mich nachdenklich und wird mich sicher noch eine Weile beschäftigen.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein wertvolles Zeitdokument!

Unter der Mitternachtssonne
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Paul Seesequasis, Angehöriger des Stammes der „Willow Cree“, porträtiert in diesem Bildband acht indigene Gemeinschaften Kanadas vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre hinein. Was als ...

Paul Seesequasis, Angehöriger des Stammes der „Willow Cree“, porträtiert in diesem Bildband acht indigene Gemeinschaften Kanadas vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 1970er Jahre hinein. Was als kleines Social-Media-Projekt begann, entwickelte sich bald zu einem erstaunlich großen Erfolg. Unzählige Menschen nahmen mit Seesequasis Kontakt auf weil sie einen Ort erkannten, einem Foto eine Geschichte oder einem Gesicht einen Namen geben konnten und so fügten sich Stück für Stück immer neue Puzzleteile zu einem wertvollen Zeitdokument zusammen - ein kleiner Ausschnitt davon liegt nun in Form dieses faszinierenden Buches vor.

Begleitend zu den Fotos erzählt der Autor Anekdoten, streift verschiedene Biografien und berichtet über wichtige Ereignisse - dabei legt er sein Augenmerk bewusst nicht
hauptsächlich auf das Leid und die Ausbeutung der Völker, sondern auf deren beeindruckende Stärke, ihre Integrität und die Fähigkeit, sich ständig weiterzuentwickeln und neuen Gegebenheiten anzupassen. Auch der außergewöhnliche Kreativität der Menschen und ihrer ab den 1960er Jahren recht aktiven Künstlerszene widmet der Autor ein umfangreiches Kapitel.

Besonders beeindruckend finde ich die tiefe Naturverbundenheit der alten Stämme und die stark intuitive Art ihre Kinder zu erziehen und für sich zu sorgen. Ich habe oft das Gefühl, wir sind durch den schnellen Fortschritt und Wandel mittlerweile so weit davon entfernt, dass wir diese Intuition, diese Verbindung zu unserer Umwelt kaum noch (be)greifen können - solche Bücher tragen wunderbarerweise dazu bei, die Erinnerung an unseren Ursprung zu bewahren.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein schillerndes Mosaik!

Mädchen, Frau etc. - Booker Prize 2019
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Heute erscheint die deutschsprachige Ausgabe von Bernardine Evaristos „Mädchen, Frau, etc.“, das 2019 mit dem Booker Price ausgezeichnet wurde. Natürlicherweise schraubt eine solche Auszeichnung die ...

Heute erscheint die deutschsprachige Ausgabe von Bernardine Evaristos „Mädchen, Frau, etc.“, das 2019 mit dem Booker Price ausgezeichnet wurde. Natürlicherweise schraubt eine solche Auszeichnung die Erwartungen an das Buch in die Höhe und beeinflusst unterschwellig auch die eigene Meinung - entweder liest man das Buch dadurch schon mit positiveren Augen (im Sinne von „das Buch muss einfach gut sein“) oder die Erwartungen sind dermaßen hoch, dass sie im Grunde nicht erfüllbar sind. Beides ist mir schon passiert und ich habe mich dann (durchaus mit leichtem Bedauern) gefragt, inwiefern ich das Buch unvoreingenommen anders wahrgenommen hätte.

„Mädchen, Frau, etc.“ hat es mir jedoch leicht gemacht, mich ganz unbefangen in das Lesevergnügen zu stürzen, da ich im Grunde kaum etwas über den Roman wusste. Wie ein Mosaik fügt die Autorin 12 Frauenleben zu einer spannenden Komposition zusammen - alle Geschichten sind miteinander verwoben und doch steht jede einzigartig für sich selbst. Einwanderung, Integration, Inklusion, Identität, Mutterschaft und Weiblichkeit - all diese zentralen Themen haben ihren verdienten Platz in diesem Roman gefunden und machen ihn zu einem wichtigen Beitrag der zeitgenössischen Literatur.

Evaristos sprachlicher Stil hat mir sehr gefallen - ich finde ihn frisch, ja fast ein bisschen frech und sehr modern. Daumen hoch von mir für dieses tolle, wichtige Buch!

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