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Veröffentlicht am 05.06.2024

Von der Fragilität der menschlichen Seele

Chirú
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Mein Spontankauf von Michela Murgia lässt mich nach einer ersten Ratlosigkeit ziemlich begeistert zurück. Sprachlich ist es in meinen Augen schlicht herausragend und schwer mit anderen mir bekannten Autor*innen ...

Mein Spontankauf von Michela Murgia lässt mich nach einer ersten Ratlosigkeit ziemlich begeistert zurück. Sprachlich ist es in meinen Augen schlicht herausragend und schwer mit anderen mir bekannten Autor*innen vergleichbar; die Übersetzerin Julika Brandestini hat hier richtig gute Arbeit geleistet. Virtuos spielt die Autorin mit der Sprache in der ich deutlich zu spüren meine, dass es eine andere als die meine ist, ein anderer Rhythmus und Klang. Sie besticht durch glasklare Einblicke in die Gefühlswelt der Protagonistin und eine beeindruckend wache, schonungslose Sicht auf das eigene Handeln und Fühlen sowie das Verhalten anderer.

Eleonora, eine erfolgreiche Theaterschauspielerin, ist 38 als sie den 18jährigen Musikstudenten Chirú trifft und sich seiner annimmt. Ihre Beweggründe bleiben dabei erst einmal ziemlich unklar, fast schwammig, und mir fiel es in der ersten Hälfte des Buches schwer, die Beziehung der beiden einzuordnen und das Lehrerin-Schüler-Verhältnis zu begreifen. Diese beiden Begriffe sind für mich stark geprägt durch die Schule und eher kindliche Hobbies wie Sport oder Musikunterricht, doch hier handelt es sich vielmehr um eine Art Gesellschaftskunde, eine Einführung in die (höhere) Gesellschaft, die Bildung des noch formbaren Charakters. Die gehobenen Kreise, in denen besonders Eleonora sich bewegt, spielen dabei eine zentrale Rolle; sind mir aber bisweilen so fremd, dass es seine Zeit brauchte, bis ich mich an die Dialoge gewöhnt und auch Sympathien für die Protagonisten entwickelt hatte.

Was macht uns und unser Handeln aus, macht uns zu dem, was wir heute sind? Welche Rolle spielt die Liebe, die Verletzung, welche die Ablehnung? Dieser schmale Grat, das Ausbalancieren von Glück und Gefahr, dem der Mensch sich in den Beziehungen zu anderen aussetzt; der Fragilität der menschlichen Seele widmet Michela Murgia sich in „Chirú“ mit Bravour. Sicher nicht mein letztes Buch der Autorin!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ich liebe diese Verrückten!

Vater unser
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Wie cool war das denn bitte gerade? Hab Angela Lehners „Vater Unser“ in einem Rutsch durchgelesen und bin ziemlich angetan von diesem Debüt, was mich kaum mehr wundert, denn anscheinend bin ich a. innerlich ...

Wie cool war das denn bitte gerade? Hab Angela Lehners „Vater Unser“ in einem Rutsch durchgelesen und bin ziemlich angetan von diesem Debüt, was mich kaum mehr wundert, denn anscheinend bin ich a. innerlich selbst Österreicherin oder b. war ich früher selbst Österreicherin oder c. mag ich einfach die österreichische Literatur unheimlich gerne.

Familienzusammenführung (und Aufarbeitung) in der Klappse - klingt etwas surreal und crazy, ist es auch, dabei aber auch sehr herzerwärmend, berührend, traurig und humorvoll. Eva Gruber wird ins Spital eingeliefert, weil sie behauptet eine Kindergartengruppe erschossen zu haben, was schon ein starkes Stück ist und durchaus neugierig auf die Dame und deren Geschichte macht. Dort trifft sie dann zufällig auf ihren magersüchtigen, wirklich arg bedauernswerten Bruder Bernhard, zu dem sie vor Ewigkeiten den Kontakt abgebrochen hat und spätestens jetzt schwant einem so langsam, dass in der Familie vielleicht nicht alles perfekt lief. Wir begleiten die junge Protagonistin nun zurück in die Vergangenheit, begleiten ein sensibles Mädchen in sein fragiles Elternhaus; dabei bleibt immer etwas unklar was Sein und was Schein und wer hier eigentlich verrückt ist, die Grenzen zwischen Gesund und Krank verschwimmen, chapeau für diesen gelungenen Kniff, liebe Angela Lehner. Seit „Einer flog über das Kuckucksnest“ habe ich keine so liebenswert gezeichneten Verrückten mehr erlebt, eine große Leseempfehlung von mir.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein so wichtiger Anstoß!

Der Bastard von Istanbul
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Armanoush, entwurzelt und auf der Suche nach ihrer Vergangenheit und Asya, die die ihre am liebsten auslöschen würde; zwei junge Frauen, hin und hergerissen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Tradition ...

Armanoush, entwurzelt und auf der Suche nach ihrer Vergangenheit und Asya, die die ihre am liebsten auslöschen würde; zwei junge Frauen, hin und hergerissen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Tradition und Moderne, überwinden ein altes, kulturelles Trauma.

Elif Shafak beweist in „Der Bastard von Istanbul“ wieder einmal großes erzählerisches Talent. Kunstvoll verwebt sie die Geschichten der Türken und Armenier miteinander und legt Stück für Stück eine gemeinsame Vergangenheit frei, die den Hass der Gegenwart Lügen straft und tief mit Istanbul, dieser besonderen Stadt, die niemandem und allen gehört, verflochten ist. Kritisch, doch mit viel Empathie und Zärtlichkeit betrachtet Shafak ihre Figuren und deren Verhalten; umso unfassbarer erscheint mir die Tatsache, dass die Autorin damals wegen dieses Romans (zum Glück erfolglos) von der türkischen Regierung verklagt wurde. Ein dunkles Stück Geschichte gilt es noch aufzuarbeiten und der Autorin gelingt mit diesem Roman ein Anstoß, der nicht urteilt aber aufzeigt - wichtig, bitte lesen!

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Eine sprachliche Wucht!

Streulicht
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Ich bin in Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ ab der ersten Seite versunken und habe mich heimisch gefühlt; entgegen vieler Kritiken, die ich zuvor gelesen hatte und die es als etwas schwierig bezeichneten, ...

Ich bin in Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ ab der ersten Seite versunken und habe mich heimisch gefühlt; entgegen vieler Kritiken, die ich zuvor gelesen hatte und die es als etwas schwierig bezeichneten, in den Roman hineinzufinden. Vielleicht liegt es am ähnlichen Alter und dem mir wohl bekannten Sound einer 90er-Jahre-Kindheit; ich hatte sofort das Gefühl eine alte Freundin wieder zu treffen, Geschichten aus Kindertagen von damals zu hören. Während die Erzählung zu Beginn noch etwas vor sich hin plätschert nimmt sie ab ca. Seite 50 Fahrt auf und das Bild verdüstert sich zusehends. Stück für Stück offenbart sich eine Welt frei von jeglicher Sicherheit mit einem trinkenden, unwichtige Dinge hortenden Vater, einer stoisch alles aushaltenden Mutter, einem ignoranten Umfeld, in dem kaum gesprochen wird, ein stilles Kind nichts zu Hoffen und noch weniger zu Erwarten hat. Mich schmerzte das Hadern des Mädchens mit seiner Herkunft, allem voran mit seinem ungewöhnlichen Namen, dem „Geheimnamen“, der nicht genannt werden darf und den auch wir Leser*innen nicht erfahren, dem nicht richtigen Gesicht, dem man das Fremde ansehen könnte. Wie ist es möglich, dass Eltern bei dem Kind eine solche Entfremdung von der eigenen Identität nicht bemerken oder einfach so hinnehmen, fragte ich mich, und die Antwort lautet wohl, weil sie ihre eigene nicht (aner)kennen, ihr keine Bedeutung beimessen. Tiefe Einsamkeit und ein beständiges Gefühl des Fremdseins begleitet die Ich-Erzählerin, das auch von den beiden engsten Freunden nicht aufgefangen wird - im Gegenteil wird auch hier immer nur betont sie sei ja nicht wie „die anderen (Ausländer)“, was sie genau dazu macht. Alles gilt ihr persönlich, alles kommt ihr so nah und verdrängt sie an den Rand, wo ihr nichts als Zusehen und Hinnehmen bleibt.

Bei aller Empathie und Verständnis für den schwierigen Background der Protagonistin habe ich mich doch (besonders im Mittelteil) schwer getan mit dem wirklich stark ausgeprägten Selbstmitleid. Ich hätte das Mädchen schütteln mögen, es anschreien „wehr dich, mach etwas, such dir neue Freunde, sag doch was!“ aber dieses Unverständnis scheint mir auch einfach dem Unwissen über derartige Verhältnisse und deren Auswirkungen geschuldet; steckt nicht viel Hochmut und Arroganz dahinter?
Das letzte Drittel fand ich wieder richtig stark. Ganz zart spinnt die junge Frau erste eigene Pläne, hoffnungsvoll scheint ihr Blick in die Zukunft. Sie ist in der Lage zu reflektieren und beginnt vorsichtig sich aus der Lethargie und dem Konstrukt der Handlungsunfähigkeit ihrer sozialen Herkunft zu befreien.

Sprachlich ist das Buch eine Wucht - klare Sätze mit einer ungeheuren Schlagkraft prägen große Teile der Geschichte und entwickeln einen regelrechten Sog, der mich für die Längen im Mittelteil entschädigte. Deniz Ohde legt hier einen aktuellen Bildungsroman vor der mich an Tara Westovers „Befreit“ denken ließ und vielen Menschen eine Stimme geben dürfte.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Was für eine geniale, verrückte Idee!

Die Hauptsache
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Was für eine geniale, verrückte Idee!
Ganz ehrlich - ich habe noch nichts vergleichbares gelesen. Irgendwo zwischen Science-Fiction, Fantasy und brutaler Realität angesiedelt wirft Hilary Leichters Debütroman ...

Was für eine geniale, verrückte Idee!
Ganz ehrlich - ich habe noch nichts vergleichbares gelesen. Irgendwo zwischen Science-Fiction, Fantasy und brutaler Realität angesiedelt wirft Hilary Leichters Debütroman unweigerlich und ziemlich schnell die Frage auf, ob wir eigentlich alle einen gewaltigen Dachschaden haben. Gefühlsmäßig hin und her gerissen zwischen hysterischem Kichern und ungläubigem Kopfschütteln bewegte ich mich durch diese rasante, aberwitzige Odyssee durch eine (vordergründig) fiktive Arbeitswelt. Die Protagonistin hat nicht nur diverse Aushilfsjobs sondern passend dazu auch 18 feste Freunde, für jede Lebens- und Gemütslage einen, logisch. Sie pendelt von einer Stelle zur nächsten und entlarvt dabei so manche Absurdität unserer Arbeitsmoral, treibt sie auf die Spitze und reibt uns schonungslos die eigene Austauschbarkeit unter die Nase.

Hoch engagiert ist unsere namenlose Protagonistin, effizient und fleißig und - ob als Vertretung einer vom Aussterben bedrohten Seepockenart oder engagierte Aushilfskraft eines Mörders - immer auf der Suche nach Selbstoptimierung, dem großen Sinn des Seins, eben der Hauptsache.

Die Geschichte liest sich wie ein tiefschichtiges Märchen, das immer noch eine weitere Ebene verbirgt; ich hätte mir jeden zweiten Satz anstreichen mögen. Und während ich lese und nebenbei auf mein Smartphone starre und lese und wieder aufs Handy kucke beschleicht mich so ein merkwürdiges Gefühl, als ob es um mich ginge, nur um mich; das Surreale fühlt sich plötzlich sehr real an. Hilary Leichters Roman stimmt mich nachdenklich und wird mich sicher noch eine Weile beschäftigen.

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