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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 20.12.2023

Modern und tiefgründig!

Chrysalis
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Eine Chrysalis ist ein, sich in der Metarmophose befindendes Insekt.

Eine Puppe.

Was für ein toller und passender Titel für diesen wahnsinnig faszinierenden Debütroman von Anna Metcalfe!

Mit einer ganz ...

Eine Chrysalis ist ein, sich in der Metarmophose befindendes Insekt.

Eine Puppe.

Was für ein toller und passender Titel für diesen wahnsinnig faszinierenden Debütroman von Anna Metcalfe!

Mit einer ganz besonderen Konstruktion: Metcalfe beschreibt ihre eigentliche Protagonistin von außen aus der Perspektive von drei verschiedenen Ich-Erzählerinnen. So sehe ich diese junge Frau nur durch die Augen der anderen drei. Ich weiß nie, was wirklich in ihr vorgeht, was ihre Motivation ist.
Diese Erzählform greift das inhaltliche Thema, dieses von außen bewertet und beobachtet werden, bereits stilistisch auf.

Ich schließe aus den Erzählungen von

Elliot - die Freundschaft plus aus dem Fitnessclub
Bella - ihre Mutter, die sie alleine großgezogen hat
Susie - die sich für ihre beste Freundin hält

dass sie eine junge, attraktive Frau ist, die sich aus einer toxischen Beziehung befreit hat und die sich jetzt die Kontrolle über ihren Körper und ihr Leben wiederholen möchte.
Sie beginnt erst ihren Körper zu verändern. Er soll stark, fast überirdisch perfekt und mächtig werden, wie eine unantastbare Skulptur.

„Ihr Körper faszinierte mich. Er war übermenschlich, überentwickelt, muskulös und fest. Ihre glatte Haut war straff und scheinbar dicker als die anderer Menschen.“

Dann kappt sie ihre zwischenmenschlichen Beziehungen nach und nach, denn Gefühle machen angreifbar und verletzlich.
Ihr Transformation vermarktet sie zunehmend erfolgreich in Social Media.

Inhaltlich wagt sich Metcalfe an viele, feministische und gesellschaftliche Themen, ohne dass sie die Wertung vorgibt. Durch den Aufbau des Romans bleiben die Ereignisse und der Blick immer subjektiv bei dem/der jeweiligen Erzähler
in. Das lässt mir viel Luft für eigenen Interpratationen und Metcalfe lässt mir viel Spielraum um zwischen den Zeilen zu lesen.

Die Erzähler*innen fungieren teilweise als Gegensatz zur Protagonistin, was besonders durch den Helferkomplex von Susie deutlich wird.
Die Protagostin nimmt sich konsequent was sie will ohne Rücksicht auf Konventionen, aber auch ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer.

Literarisch bewegt sich Metcalfe auf sehr hohem Niveau, ihre Prosa ist auf den Punkt, fesselnd und wirkmächtig.

„Das Ende war immer gleich: Das Mädchen wurde vernichtet und in anderer Gestalt wiedergeboren.“

Absolut zeitgemäß, interessant und ungewöhnlich!

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Veröffentlicht am 09.07.2023

Stark erzählte Gesellschaftskritik aus Nigeria

Das Glück hat seine Zeit
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Der Debütroman „Bleib bei mir“ von Adébáyò schlug bei mir ein wie eine Bombe, ich war gefesselt von der Erzählkraft dieser jungen Autorin aus Nigeria.
Natürlich wollte ich ihren neuen Roman „Das Glück ...

Der Debütroman „Bleib bei mir“ von Adébáyò schlug bei mir ein wie eine Bombe, ich war gefesselt von der Erzählkraft dieser jungen Autorin aus Nigeria.
Natürlich wollte ich ihren neuen Roman „Das Glück hat seine Zeit“ auch unbedingt lesen.
Und auch hier lässt mich die großartige Erzählstimme von Adébáyò über die Seiten fliegen und trifft mich genau in mein Herz.

Ayòbámi Adébáyò schreibt in ihrem zweiten auf deutsch erschienenen Roman wesentlich politischer und gesellschaftskritischer als noch in „Bleib bei mir“.
Mit ihren Figuren thematisiert sie sehr kontrastreich die krassen Unterschiede zwischen arm und reich in diesem zerrissenen Land. Aber auch die Unterschiede zwischen Mann und Frau.

Nigeria ist mit über 200 Millionen Einwohnern das bevölkerungsstärkste Land Afrikas und von großer, nicht konfliktfreier, kulturellen Vielfalt geprägt.

Adébáyò schildert mit ihrem Figuren vor allem die finanziellen und gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den Menschen. Die Familie von Wuraola ist sehr privilegiert und die junge Frau ist auf dem Weg in eine glänzende Zunkunft. Sie wird bald eine Ärztin sein und ihrem Verlobten, ebenfalls aus sehr privilegiertem Haus, heiraten.
Trotzdem ist Wuraola nicht frei. Strenge gesellschaftliche Normen, die für Frauen ihres Standes gelten, und die Anforderungen ihrer Mutter Yeye engen sie ein.

Am anderen Ende der gesellschaftlichen Skala steht der 15-jährige Eniola. Seine Familie ist mittellos, seit sein Vater durch die Willkür des Staates seine Stelle als Lehrer verloren hat. Eine staatliche Absicherung oder soziales Netz gibt es nicht und arbeitlos zu werden ist ohne weitere berufliche Perspektive oft ein Grund für Selbstmord. Eniolas Vater fällt in eine Depression und ist nicht mehr in der Lage die Familie zu versorgen. Eine gute Schulbildung, die in Nigeria nur über kostenplichtig Privatschulen zu erhalten ist, rückt in weite Ferne.

Deutlich beschreibt Adébáyò die Auswirkungen der wirtschaftlichen Not auf die Familien und übt Kritik an einem System, das seine Hilfbedürftigsten seinem Schicksal überlässt. Staatliche Willkür und politische Korruption lässt das Land ausbluten.
Die Auswirkungen von starren und traditionellen Geschlechterrollen, thematisiert und kritisiert Adébáyò anhand ihrer starken weiblichen Figuren wie Wuraola und ihrer Mutter Yeye und ziehen sich durch den ganzen Roman.

Beide Familien lässt Adébáyò im Laufe der Handlung aufeinandertreffen und ich ahne früh: hier hat das Glück keine Zeit…


Adébáyò schafft es wieder mich mit ihrem großem Schreibtalent in den Bann ihres Romans zu ziehen. Thematisch hat mir „Bleib bei mir“ persönlich vielleicht besser gefallen, die stärkere politische Botschaft hat eindeutig „Das Glück hat seine Zeit“.

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Veröffentlicht am 07.06.2024

Faszinierend und tiefgründig

Das Verschwinden
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Nach „Die Schattenmacherin“ von Lilliy Gollackner war das für mich bereits der zweite Roman in kurzer Zeit, in dem eine Welt beschrieben wird, in dem die Männer komplett verschwunden sind.
Ein Szenario, ...

Nach „Die Schattenmacherin“ von Lilliy Gollackner war das für mich bereits der zweite Roman in kurzer Zeit, in dem eine Welt beschrieben wird, in dem die Männer komplett verschwunden sind.
Ein Szenario, dass ich unglaublich spannend finde und das großes Potential für aufregende Literatur bietet.
Und während der dystopische Roman von Gollackner mich nicht so wirklich abgeholt hat, fand ich „Das Verschwinden“ sehr, sehr faszinierend und tiefgründig.

Sandra Newman, von der letztes Jahr der dystopische Roman „Julia“ erschienen ist, verlässt auch in „Das Verschwinden“ den Boden der Realität.
Von einem Moment auf den anderen verschwinden alle Männer auf der ganzen Welt. Damit sind alle Menschen mit einem Y-Chromosom gemeint, denn auch kleine Jungen, und sogar männliche Ungeborene und Transfrauen verschwinden einfach so spurlos und ohne Erklärung.

Newman nutzt mehrere Protagonistinnen, anhand deren Geschichten sie den Moment des Verschwinden der Männer und die verwirrende Zeit danach beschreibt. Ich würde sagen, die meiste Screentime hat Jane, die Ich-Erzählerin. Sie ist gerade mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn zelten, als beide verschwinden und sie allmählich realisiert, dass sich die Welt komplett verändert hat.

Ich lese in dystopischen Romanen eigentlich total gerne welche Auswirkungen das jeweilige Setting auf das Zusammenleben, die Infrastruktur und das Leben der Einzelnen hat. Gerade als Bauingenieurin würde es mich natürlich interessieren, wie die Infrastuktur und Versorgung der Menschen weiter aufrecht erhalten wird. Aber mir ist natürlich schon klar, dass das für die meisten Leserinnen nicht das spannende Thema ist.
Wahrscheinlich entscheiden sich deswegen auch die meisten Autor
innen gegen ein breites Auswalzen von pragmatischen Details.
So auch Newman. Sie konzentriert sich ganz auf die Geschichten ihre Figuren und wie sie in ihrer Vergangenheit von Männern geprägt und beeinflusst wurden.

Das finde ich sehr stark und ich liebe den feministischen Ansatz daran. Richtig Spannung kommt im Roman auf, als im Internet verstörende und mysteriöse Videos von gequälten Männer und Jungen auftauchen, in denen viele ihre verschwundenen Verwandten und Bekannte erkennen. Ein Fake?

Ich bin etwas beunruhigt, als ich feststelle, dass ich nur noch wenige Seiten zu lesen habe, aber die Geschichte keine Anzeichen einer Auflösung zeigt. Aber Newman führt den Plot sehr souverän und zu meiner vollen Zufriedenheit zu einem gleichermaßen unerwarteten wie vieldeutigen Ende!

Ich finde den Schluss sehr gelungen, dennoch reicht es bei mir nicht ganz für ein Lesehighlight. Es sind mir zwischenzeitlich zuviele Figuren und zuviele inhaltliche und erzähltechnische Ansätze, die mich gedanklich zerfransen.

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Veröffentlicht am 20.03.2024

Kurz aber gehaltvoll!

Der ehrliche Finder
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Ich LIEBE die Romane von Lize Spit! Ich liebte die krasse und unglaublich abgefahrene Geschichte von „Und es schmilzt“ und ich liebte die Spannung und die psychologische Tiefe von „Ich bin nicht da“. ...

Ich LIEBE die Romane von Lize Spit! Ich liebte die krasse und unglaublich abgefahrene Geschichte von „Und es schmilzt“ und ich liebte die Spannung und die psychologische Tiefe von „Ich bin nicht da“. Jetzt waren diese beiden Roman dicke Wälzer, die sich für den Plotaufbau und die Figurentwicklung viel Zeit nahmen.
Als ich die Seitenzahl von „Der ehrliche Finder“ sah, war ich kurz skeptisch, ob auf dieser Kurzstrecke die Erzählkraft von Spit zur Entfaltung kommt.

Aber jetzt, nachdem ich den Schluss mit Gänsehaut gelesen habe, weiß ich, dass es funktioniert hat.

Als Protagonisten hat sich Spit diesmal einen vorpubertären Außenseiterjungen ausgesucht: Jimmy, der seine Freizeit gerne mit dem Sammeln von Flippo Chips und dem Ausdenken von Fantasiegeschichten verbringt. Dann kommt Tristan in seine Klasse, ein Flüchtlingskind aus dem Kosovo, das neben Jimmy gesetzt wird. Auf den wenigen Seiten skizziert Spit die Kindheit der beiden Außenseiter und die Geschichte einer Freundschaft, die beide über ihre Einsamkeit und Ausgrenzung hinweghilft.

Mir gefällt es sehr, wie unglaublich subtil Spit unterschwelligen Fremdenhass themasiert und wie nuanciert sie die nicht ganz immer reine Gedankenwelt Jimmy beschreibt.
Natürlich braut sich ein Unheil über der Freundschaft zusammen, denn der großen Familie von Tristan droht die Abschiebung…

„Der ehrliche Finder“ ist nicht krass und abgefahren, dennoch gelingt es Spit wieder mit kleinen, eigentlich unspektakulären Alltagsereignissen eine Spannkraft zu erzeugen, die mich immer auf die großen Knall warten lässt, der unweigerlich kommen muss.

Falls du noch kein Buch dieser belgischen Autorin gelesen hast, eignet sich „Der ehrliche Finder“ optimal als Einstieg, denn es lässt sich super in einem Rutsch durchlesen und schließt mit einem intensiven Abgang!

Ich freue mich bereits auf weiteren Stoff von Spit, aber dann hoffentlich wieder in größerer und länger anhaltender Seitenzahl.

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Veröffentlicht am 16.03.2024

Spannende Unterhaltung in ungewöhnlichem Sound

Tiere
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Ich habe die letzten Wochen auffallend viele Romane aus dem Niederländischen gelesen. Ob das mit dem diesjährigen Gastland der Buchmesse Leipzig zu tun hat? Viel wahrscheinlicher handelt es sich aber einfach ...

Ich habe die letzten Wochen auffallend viele Romane aus dem Niederländischen gelesen. Ob das mit dem diesjährigen Gastland der Buchmesse Leipzig zu tun hat? Viel wahrscheinlicher handelt es sich aber einfach um gute Literatur, denn die meisten dieser Romane haben mir auffallend gut gefallen!

Auch „Tiere“, der Debütromans des niederländischen Autors, Musikers und Podcasters Gijs Wilbrink, fand ich äußerst ungewöhnlich und ansprechend. Gerade habe ich den Roman nach einem absolut fulminanten und aufregenden Showdown beendet.

Wenn du ländlich wohnst, oder gewohnt hast, kennst du vielleicht auch diese Familien. Diese berüchtigten Familien, die immer am Rand stehen und über die zahlreiche Gerüchte im Umlauf sind. Die haben doch Dreck am Stecken und war da nicht was mit Drogen?
Eine solche Familie, oder besser ein solcher Clan, sind die Kellers, die auf einem abgelegenen Bauernhof im Achterhoek leben. Landwirtschaft wird in dem infrastrukturell schwachen Landstrich schon lange nicht mehr betrieben, in den Scheunen hält Scharrel (= Charles) Keller Nerze in nicht ganz so artgerechter Haltung.
Was sonst noch auf dem Hof getrieben wird, will keiner so genau wissen.

Die junge Protagonistin Isa (= Bella, Isabella) hat leidlich den Absprung geschafft und studiert leidlich in der nahegelegenen Großstadt und hat neue Freund*innen gefunden. Aber ihr Leben hat sie nicht im Griff, sie kifft permanent und ihre Studienleistungen sind nicht leidlich sondern….unterdurchschnittlich. Ob es daran liegt, dass ihre Mutter in der Schwangerschaft mit ihr morphiumsüchtig war?

Isa erfährt von ihrer Mutter, dass ihr Vater seit Tagen vermisst wird und notgedrungen kehrt sie in ihr kleines Heimatdorf zurück. Die Suche verläuft natürlich äußerst planlos und mündet in einer Spurensuche in der Vergangenheit.

“Es ist alles so sinnlos, Mama, oder? Wie machen das die Leute im Fernsehen, die immer genau wissen, was zu tun ist?«

Das könnte jetzt alles ziemlich düster und nihilistisch sein, ist aber nicht. Wilbrink beschreibt das Millieu drastisch und ungeschönt, aber immer mit Blick versöhnliche und menschliche Elemente, die es trotz der Härte und Verlorenheit in dieser Familie gibt.

Anfangs brauchte ich eine Weile um in den etwas ungewohnten, aber sehr reizvollen Erzählstils Wilbrinks einzutauchen und die Verwandschaftsverhältnisse aufzudröseln (zu spät entdeckt: ganz hinten ist ein Stammbaum), aber die Mühe hat sich für mich gelohnt. Wilbrink lässt die Stimmung dieser verlorenen und aufgegebenen Menschen und Landstriche lebendig werden. Er erzählt von dem schweren Erbe, das schwierige und prekäre Familienverhältnisse jungen Menschen unverschuldet aufbürdet. Von Schwestern, die durch Gewalt und Schweigen entzweit wurden und von Eltern und Kindern, die die Vergangenheit hinter sich lassen müssen, um sich wieder anzunähern.

Wenn dich vereinzelte explizite Schilderungen von Tierquälerei nicht abschrecken und die Lust auf niederländische Literatur hast, ist „Tiere“ auf jeden Fall ein spannender Tipp für dich!

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