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Veröffentlicht am 11.06.2024

Ein grundsolides Debüt, das ich gerne gelesen habe.

So ist das nie passiert
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Willa ist achtunddreißig und hat zwei Wünsche, dass ihre Schwester Laika zurückkommt, die mit dreizehn spurlos verschwand und Kinder. Seit einundzwanzig Jahren glaubt Willa immer wieder ihre kleine Schwester ...

Willa ist achtunddreißig und hat zwei Wünsche, dass ihre Schwester Laika zurückkommt, die mit dreizehn spurlos verschwand und Kinder. Seit einundzwanzig Jahren glaubt Willa immer wieder ihre kleine Schwester zu sehen. Ihr Verlust hat Willa zerrissen.

Damals hatten die Eltern Willa aufs Internat geschickt. Dort wurde sie einem anderen Mädchen Robyn zugeteilt, die sie alles wissen ließ was sie für das Leben im Internat brauchte. Die Trauer über Laikas Verlusst ließ Willa nicht schlafen, so dass sie Robyn bat, sich zu ihr zu legen. Willa fand Trost bei Robyn und sie wurden ein Paar. Die Sommerferien verbrachte Willa bei Robyn, während ihr Vater sich der Presse stellte und ihre Mutter in Gin ertrank. Robyns Dad brachte ihr stundenlang das Töpfern bei und ermutigte sie, als sie schon aufgeben wollte. Sie erschuf eine Schale, die gebrannt und glasiert wurde und war sehr stolz. Er war so anders als ihr eigener Vater, der von irgendwas beherrscht wurde und immer Druck erzeugte.

Sie erinnert sich an den Tag, als Laika am elterlichen Tisch saß und das Fleisch nicht essen wollte. Ihr Vater legte ihnen vor und der rote Fleischsaft vermischte sich mit Laikas Erbsen. Ihr Vater aß das Fleisch gerne englisch und so aßen es dann alle. Laik versuchte die Erbsen vor dem Saft zu retten, da sah er sie schon komisch an. Was los sei, wollte er wissen und Laika sagte es ihm. Sie sprach im Gegenteil zu Willa immer alles aus, was ihn zur Weißglut brachte. Da erzählte er die Geschichte dieses Lämmchens, wie es getötet wurde und forderte Laika auf zu essen. Er ließ sie vierundzwanzig Stunden vor ihrem Teller sitzen, dann warf ihre Mutter im Foyer mit den Jadefiguren und Vasen aus der Xing-Dynastie um sich. Laika durfte ihren Platz verlassen und Mutter trug am nächsten Tag wieder das langärmelige Kleid.

Fazit: Sarah Easter Collins hat ein grundsolides Debüt geschaffen. Sie hat mich kapitelweise aus der Gegenwart in die Vergangenheit geführt und mir die Sichtweisen von Willa, Laika und Robyn nahegebracht. Ich erkannte Stück für Stück welche Geheimnisse in Willas Familie schlummern. Der tyrannische, narzistische Vater, der Frau und Töchter beherrscht. Wie er die anpassungsfähigere Willa benutzt um Laika zu strafen. Willas Schuldgefühle sind riesig als Laika verschwindet. Alle Charaktere sind überzeugend gezeichnet, so hätte es sein können, doch so ist es nie passiert. Obwohl ich lange Geschichten nicht so mag, bin ich problemlos durch dieses fesselnde Buch geflogen. Das habe ich sehr gerne gelesen.

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Veröffentlicht am 10.06.2024

Anne Pauly schreibt so modern, aufgeschlossen und reflektiert

Bevor ich es vergesse
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Nachdem sie die Habseligkeiten ihres Vaters aus dem Krankenhaus zusammen gepackt haben, sitzen sie vor dem Bestattungsunternehmer Monsieur Lecreux junior. Während des Gesprächs gerät ihr Bruder in Bestform ...

Nachdem sie die Habseligkeiten ihres Vaters aus dem Krankenhaus zusammen gepackt haben, sitzen sie vor dem Bestattungsunternehmer Monsieur Lecreux junior. Während des Gesprächs gerät ihr Bruder in Bestform und schreit Monsieur an, dass er sich mit dessen Gewinnspanne nicht einverstanden zeige, das alles sei Halsabschneiderei. Als sie entscheidet, dass sie sich durchaus einen Eichensarg statt einer Kieferkiste leisten könne, macht ihr Bruder gute Miene zum bösen Spiel und beschwert sich erst auf der Straße darüber, wie herablassend sie ihn behandelt hat und wie dumm dastehen lassen. So kennt sie ihn, das hat et er von seinem Vater, dieses cholerische und zwingt sie mit seiner Art in die Situation ihrer Mutter. Soweit ist es also zwischen ihnen gekommen.

Sie fährt allein in das Haus ihres Vaters um auszusortieren, sich von Dingen zu trennen, die niemand mehr will. Die vielen Telefonate fallen ihr ein, wenn er sie angerufen hat. Dann ist er die Treppe hinabgestürzt und hat sich die Stirn angeschlagen. Ein folgendes Subduralhämatom hatte ihn ins Krankenhaus gezwungen. Aus Wut über seine Alkoholausfälle ging sie nicht ans Telefon und hat sich vor Selbstvorwürfen zerfressen. Dann ging sie wieder hin um den Schaden einer umgekippten Urinflasche zu beseitigen, den Küchentisch von verwesenden chinesischen Instandnudeln zu befreien und aus der Plastiktüte am Fußende seines Bettes abgelaufenen Joghurt und vergammeltes Obst zu entsorgen. Sie schrie, dann seufzte sie laut, verdrehte die Augen und fiel in das alte Verhaltensmuster mit ihm, in das alte Spiel.

Er drängte und drängte, und ich gab nach, erst unter Protest, dann mit einer ganz und gar katholischen Selbstverleugnung. Aber es endete stets damit, dass ich diesen so verletzlichen Körper, dessen Unberechenbarkeit und Brutalität ich so lange gefürchtet hatte, umarmte, küsste und pflegte. S. 55

Fazit: Diese Geschichte habe ich sehr gemocht. Anne Pauly schreibt so modern, aufgeschlossen und reflektiert. Sie hat dem Thema Abschied nehmen und Verzeihen genau die richtige Prise Humor hinzugefügt. Dass der Vater die Familie terrorisiert hat, verblasst im Laufe der Erzählung und dadurch schafft die Autorin Platz für einen charakterstarken Mann, der schon in frühen Jahren durch seine Armut gebeutelt wurde und deshalb weniger Chancen hatte, als andere. Und, der zu einer Zeit aufwuchs, in der „Männer sich noch wie Männer benahmen“, ihren Frust hinuntersoffen, keine Gefühle zeigten und die Angst rausbrüllten, die sie sonst zu ersticken drohte. Vor allem hat die Autorin hat gezeigt, dass der Mensch, trotz aller fehlerhaften Verhaltensweisen, im Kern auch diese liebenswerten Seiten hat.

Dieses Debüt wurde verständlicherweise mit dem französischen Publikumspreis, als bestes Buch des Jahres ausgezeichnet.

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Veröffentlicht am 07.06.2024

Ein gelungenes Debüt mit schöner bildhafter Sprache

Die Tage des Wals
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1938 strandet ein Wal an einer der walisischen Inseln. Zu den wenigen gebliebenen Einwohnern gehört Manod, mit ihrer zwölfjährigen Schwester Llinos und ihrem Vater Tod. Die Mutter ist schon vor Jahren ...

1938 strandet ein Wal an einer der walisischen Inseln. Zu den wenigen gebliebenen Einwohnern gehört Manod, mit ihrer zwölfjährigen Schwester Llinos und ihrem Vater Tod. Die Mutter ist schon vor Jahren gegangen, kurz nach Llinos Geburt. Man fand sie in der Nähe des Festlands, das bei gutem Wetter acht Kilometer weit weg ist, bei schlechtem sechzehn.

Die Leute sind verunsichert wegen dem Wal. Für die meisten ist es ein schlechtes Zeichen, deshalb versuchen einige Fischer ihn mit Wasser zu kühlen und mit Seilen ins Meer zurück zu ziehen. Niemand kann erklären warum der Wal die Orientierung verloren hat.

Manods Vater redet selten mit ihr oder ihrer Schwester. Sie hört ihn manchmal nachts mit seinem geliebten Hund murmeln. Am Tag fährt er mit seinen Kisten raus und fängt Hummer. Llinos ist ein seltsames Mädchen, sie spricht nur keltisch und weigert sich Englisch zu lernen und dann sammelt sie noch Tierknochen, die sie in Gläsern im Vorratsschrank aufbewahrt, wo sich Manod regelmäßig davor erschreckt.

Mit dem Sterben des Wals finden Joan und Edward den Weg auf die Insel. Sie wollen mehr über die Brauchtümer der Inselbewohner herausfinden. Wollen ein Buch über deren Leben, Nahrung, Arbeit und Handwerk schreiben. In der englischsprachigen Manod finden sie eine verlässliche Übersetzerin und wecken Sehnsüchte.

Fazit: Elizabeth O´Connor hat eine Ich-Erzählung geschrieben. Die Sprache ist ruhig und unaufgeregt. Ihre Protagonistin ist eine anpassungsfähige junge Erwachsene, die die Insel verlassen möchte, weil die einzige Möglichkeit, die ihre Heimat ihr bietet ist, zu heiraten und auch hier ist die Auswahl begrenzt. Zugleich zeigt die Erzählung, wie es ist, wenn privilegierte Menschen in diese alten Volksgruppen eindringen und unter dem Deckmantel von, „Wir geben euch ein Gesicht“, das beschwerliche Leben der Einwohner romatisch verklären, oder unwahres verbreiten, nur um ihre Sichtweise besser vermarkten zu können. Die Autorin hat in mir starke Gefühle erzeugt und mich Dank ihrer bidhaften Sprache in den Bann der Geschichte gezogen. Ein sehr gelungenes Debüt, dem ich viele Leser*innen wünsche.

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Veröffentlicht am 06.06.2024

Was für eine schöne, trotz aller Tragik, humorvolle Geschichte

Solange wir schwimmen
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Alice, pensionierte Labortechnikerin schwimmt regelmäßig im Hallenbad, in den himmellosen Katakomben der Stadt, wo es ein wenig nach Clor riecht. Hier ziehen sie alle ihre Bahnen, der Blumenverkäufer, ...

Alice, pensionierte Labortechnikerin schwimmt regelmäßig im Hallenbad, in den himmellosen Katakomben der Stadt, wo es ein wenig nach Clor riecht. Hier ziehen sie alle ihre Bahnen, der Blumenverkäufer, die Sportasse, die Langsamschwimmer, die Genießer, der Parteivorsitzende und Alice. Sie halten sich an die Regeln des Bademeisters, meistens. Vor dem Schwimmen heiß duschen. Badekappe tragen. Keine Pflaster. Keine offenen Wunden. Ruhe halten. Alle ziehen ihre gewohnten Bahnen. Die Seitenschwimmerin auf Bahn zwei, der ältere Herr mit der aufgequollenen Nase Bahn sechs, die Frau vom Lottogeschäft Bahn acht, der Schuhmacher Bahn vier und Alice Bahn drei. Am Nachmittag sieht es wieder anders aus und am Abend kurz vor Schluss kommt Sue von gegenüber, zieht sich um, duscht, springt ins Wasser und muss schon wieder raus, weil der Bademeister „letzte Runde!“ ruft.

Im Wasser sind sie alle gleich. Im Wasser kommen sie zu sich, die 35-Bahnen Schwimmer ebenso, wie die 68-Bahnen Schwimmer, ganz gleich, wer sie an Land sind.

An dem Tag als der Riss ganz unten in Bahn vier entsteht, glauben die meisten noch, dass sie sich irren, aber wenige Tage danach, weigern sich schon die ersten Bahn vier zu benutzen. Zuerst tuschelt man leise hinter vorgehaltener Hand über Bahn vier und weil sich niemand so recht vorstellen kann was in ihrem geliebten Schwimmbad vor sich geht, beginnen die ersten Spekulationen. Die Schwimmbadfrequentierer nehmen den Riss mit nach Hause, lassen zu, dass er sie während ihrem Alltag begleitet und ihnen im nächtlichen Traum erscheint. Und während die Verwaltung anfängt sich des Risses anzunehmen, vergisst Alice den Namen ihres Mannes und verliert den ihrer Tochter.

Fazit: Was für eine schöne Geschichte. Julie Otsuka erzählt mir auf humorvolle und menschenfreundliche Art von den unterschiedlichsten Leuten, denen allen gemein ist, sich beim Schwimmen zu regenerieren und anschließend wie neu zu fühlen. Sie erzählt davon, wie wir dazu neigen uns von den Widrigkeiten des Lebens durch den Wolf drehen zu lassen. Und sie erzählt was am Ende eines gelebten Lebens bleibt, von dem Menschen, der es bewältigt hat. Fein erspürt sie eine Mutter-Tochter-Beziehung , in der die Mutter die Tochter etwas mehr geliebt zu haben scheint. Und sie erschließt mit großem Feingefühl, was Demenz für die Betroffenen und ihre Angehörigen bedeutet, wie sie heranschleicht, jede Erinnerung löscht und jeden Lebenssinn nimmt. Ein ganz fein gemachtes Buch über das ich verständlicherweise, schon so viel gutes gelesen habe.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Ein hitziges, meisterhaft gelungenes Debüt

Hitze
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Léonard verbringt die Ferien mit seiner Familie auf dem Campingplatz in Südfrankreich. Die Nächte bleibt er allein in einem Zelt unweit seiner Eltern, die Tage treibt er sich am Strand rum. Es ist ein ...

Léonard verbringt die Ferien mit seiner Familie auf dem Campingplatz in Südfrankreich. Die Nächte bleibt er allein in einem Zelt unweit seiner Eltern, die Tage treibt er sich am Strand rum. Es ist ein Jahrhundertsommer, dessen Affenhitze keiner entkommt. Die coolen Jungs in seinem Alter laufen mit blankem Oberkörper und lassen ihre Bizeps zucken. Leo lässt lieber den Schweiß an sich herunterrinnen, als sein Shirt auszuziehen, so groß ist die Scham, den Blicken der anderen nicht gerecht zu werden. Während sein jüngerer Bruder Adrien Mädchen küsst und seine Eltern ausgelassen Bingo und Tanzabende genießen, hält Leo sich bedeckt im Hintergrund. Am abendlichen Strand ist immer Party. Leo möchte wie die anderen tanzen können, möchte so selbstsicher wie Oscar, die scharfe Luce küssen.

Leo entscheidet sich, von der Party in sein Zelt zu schleichen, macht auf dem Kinderspielplatz Halt, weil er eine einsame Gestalt auf einer der Schaukeln sitzen sieht. Er erkennt Oscar, der seinen Kopf in die Seile der Schaukel gesteckt hat und sich jetzt dreht. Leo steht wie festgewachsen da, schaut Oscar fasziniert bei seinem Treiben zu. Sein Blick trifft den Oscars und er spürt mehr als dass er sieht, wie Oscar sein Leben ausatmet. Sein Körper wird schlaff, die Schaukel dreht sich zurück. Oscar rutscht auf den Boden, kippt nach vorne und bleibt mit dem Gesicht im Sand liegen.

Bald fährt Leo wieder nach Hause. Die letzten vierundzwanzig Stunden versucht er niemandem aufzufallen, drückt sich im Waschhaus herum und spült akribisch das Familiengeschirr, aber dann wird die Lust auf ein Mädchen gewaltig.

Fazit: Was für eine Szenerie, die Welt dieser jungen fast Erwachsenen, die Victor Jestin erschaffen hat. Ich spüre die tiefe Unsicherheit, die den Protagonisten und sein Umfeld quält. Leo möchte den anderen gerecht werden aber es scheint ihm nicht zu gelingen. Er bleibt in seinem selbst gewählten Schneckenhaus und wird zunehmend aggressiv. Die Eltern nerven ihn mit Erwartungen an einen „normalen“Jungen. Leos Überforderung mit sich, den anderen und seiner besonderen Situation hält ihn in seinen Obsessionen gefangen. Der Autor hat den Verhaltenscodex junger Menschen so gut eingefangen. Die Vorstellung sexuell performen zu müssen oder sich als Versager*in zu fühlen und der Häme aller ausgesetzt zu sein, erinnert mich schmerzlich an meine eigene Jugend. Die Sprache hat mich mitgenommen. Hier ist kein Wort zuviel, keine Szene überflüssig. Ein wirklich hitziges, meisterhaft gelungenes Debüt.

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