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Veröffentlicht am 10.07.2024

Ein erschreckender, brutaler Thriller mit klarer politischer Botschaft!

VIEWS
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Als großer Fan von Marc-Uwe Kling greife ich mittlerweile ziemlich wahllos zu allem, was er schreibt, in dem Wissen, dass es unbestreitbar scharfsinnig, gesellschaftskritisch, satirisch und lange nachhallen ...

Als großer Fan von Marc-Uwe Kling greife ich mittlerweile ziemlich wahllos zu allem, was er schreibt, in dem Wissen, dass es unbestreitbar scharfsinnig, gesellschaftskritisch, satirisch und lange nachhallen wird. So ist auch sein neuer Polit-Thriller "Views" wenige Tage nach dem Erscheinungstermin bei mir gelandet. Wie brisant, hochaktuell, erschütternd und brutal dieses Buch werden würde und was es mit mir anstellen würde - damit hab ich allerdings doch nicht so ganz gerechnet...

Dabei gibt eigentlich schon das Cover in Kombination mit dem Titel eine Warnung vor sensiblen Inhalten und weist wie dies häufig in sozialen Medien vor Videos zu sehen ist, die gegen Content-Richtlinien verstoßen, auf die heftigen Themen, die Brutalität und teilweise verstörende Inhalte hin. Also selbst schuld, dass ich aus Neugier trotzdem zu dem Buch gegriffen habe und wissen wollte, was sich hinter dem vorsichtshalber abgedunkelten, verschwommenen Cover verbirgt...

Beginnt man zu lesen, könnte man nach wenigen Kapiteln meinen, man liest einen typischen Krimi. Eine alleinerziehende BKA-Ermittlerin in ihren besten Jahren, ein rätselhafter Fall eines verschwundenen Mädchens und eine Truppe aus unterschiedlichen Polizei-Charakteren, die diesem gemeinsam auf den Grund gehen klingen erstmal ziemlich basic. Allerdings geht es nicht um ein beliebiges Verbrechen, sondern um die Vergewaltigung eines weißen Mädchens durch drei Geflüchtete und die Tat wurde gefilmt, verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Netz und löst eine Welle der Empörung, des Hasses, der rechten Hetze und Aufrufe zur Selbstjustiz aus. Recht schnell wird somit klar, dass der Fall nichts Geringeres ist als politischer Sprengstoff und das Ermittlungsteam auf einem Pulverfass sitzt, dass schon bald droht, das ganze Land in die Luft zu jagen....

"Seit Jahrzehnten beobachten alle, wie die Gesellschaft immer mehr Risse bekommt, und keiner kittet sie. Da darf man sich nicht wundern, wenn sie schließlich zerbricht."


So ist für Zeitdruck, politische Brisanz und Spannung schonmal gesorgt und der Plot nimmt nach 100 Seiten geradezu fieberhafte Züge an. Dazu passt auch die sehr geradlinige Erzählweise aus der Sicht der Ermittlerin, die sich flüssig, aber sehr sparsam und manchmal geradezu sachlich liest. Viel Zeit für Emotionen, Charakterentwicklung und die Darstellung von Nebenfiguren bliebt da nicht. Von der Erzählerin und Hauptfigur Yasira bekommt man trotz des klaren Fokus´ auf der Handlung dennoch mehr als einen flüchtigen Eindruck. Trotz fehlender Figurenzentrierung ist Yasira ausreichend mit Leben gefüllt, dass man bis zum Ende mit ihr mitfiebert. Nebenfiguren wie ihre Tochter oder ihre Kollegen wirken teilweise etwas stereotyp, aber da der Autor das Krimi-Genre sowieso nicht so ernst zunehmen scheint, lesen sich die Charakterisierung und die Darstellung der Polizei fast schon etwas satirisch. Denn auch wenn es in "Views" inhaltlich nur wenig zum Lachen gibt, scheint der ironische Humor des Autors an einigen Stellen immer mal wieder durch und verschafft gerngesehene Atempausen in diesem temporeichen, harten Buch!

"Ich weiß, es ist furchtbar unangemessen, wenn man in Betracht zieht, in welcher Mission wir gerade unterwegs sind, aber wenn wir nur noch singen, wenn es passt, dann singen wir ja gar nicht mehr."

Denn der grundlegende Verlauf der Geschichte ist so heftig wie unvorhersehbar. Zwar hatte ich in der ersten Hälfte der Geschichte schonmal eine grobe Idee, wohin sich die Geschichte bewegen könnte (aber auch nur, da ich die thematischen Spezialgebiete des Autors mittlerweile recht gut kenne...), die schlussendliche Auflösung hat mich aber total geschockt und kalt getroffen. Denn als dann etwa in der Hälfte der Geschichte noch eine Erkenntnis alles verändert und der Geschichte eine vollkommen neue Richtung gibt, eskaliert die Handlung komplett und man kann nur verblüfft und entsetzt dabei zusehen, wie der Autor den gesellschaftspolitischen Worst-Case bis zum bitteren Ende durchspielt. Da ich über diese wage Beschreibung nicht viel zum Buch sagen kann, ohne vieles vorwegzunehmen, kommt nun eine Spoilerwarnung für den Rest der Rezension.

Weiterlesen nur auf eigene Gefahr!


Mitten in den Ermittlungen, in denen der "aktive Heimatschutz", der Lena rächen möchte, erste unschuldige Opfer fordert, stellt sich Yasira aus Mangel an Hinweisen oder Spuren eine einzige essenzielle Frage: Was, wenn es überhaupt keine Vergewaltigung gab? Keine Täter? Kein Opfer? Kein Grund für die überschwappende Welle des Hasses, die das Land überrollt? Was, wenn das Video ein Fake ist? Ausgespielt, um das politische Klima anzuheizen und die Menschen gegeneinander aufzuhetzen? Was, wenn man aufgrund der aktuellen technischen Entwicklungen Bildern nicht mehr trauen kann? Und wer hätte daran Interesse???

"Haben Sie in all Ihren Businessplänen, Machbarkeitsstudien und Strategiemeetings auch nur einmal darüber nachgedacht, was Sie da eigentlich entfesseln?", fragt Yasira. "Haben Sie sich auch nur einmal nicht nur gefragt: ›Wie?‹, sondern auch ›Sollten wir überhaupt?‹? Haben Sie eine Vorstellung davon, was das mit der Welt macht, wenn man Bildern nicht mehr glauben kann?"


Der Autor schneidet hier also eine Vielzahl aktueller Fragestellungen an und greift nicht nur Themen wie die Gefahr des Hochkochens politischer Konflikte im Internet, die Radikalisierung von einzelnen Gruppen übers Darknet und das politische Klima der letzten Jahre auf, sondern stellt auch heraus, was es für unsere Gesellschaft bedeuten kann, wenn wir durch künstliche Bild und Videogenerierung durch KI und insbesondere Deepfakes Bildmaterial nicht mehr trauen können. Dadurch ist der Roman erschreckend aktuell und sendet eine klare politische Botschaft im Sinne einer Warnung, besser gestern als heute etwas gegen die zunehmende Spaltung des Landes zu unternehmen. Dementsprechend sind viele Szenen sehr heftig, geradezu brutal und machen absichtlich Angst, um wachrütteln zu können. Ob die letzte Eskalationsstufe am Ende in dieser Drastik notwendig gewesen wäre, um seine Botschaft zu vermitteln, wage ich zwar zu bezweifeln, sie hat ihre Wirkung allerdings nicht verfehlt.

"Es ist nicht alles Fake. (…) Echt ist die Empörung. Echt ist die Wut. Echt ist der Hass."


Das Ende der Geschichte ist sowieso eine Sache für sich.... Hier würde ich gerne eine Reklamation an den Verlag aussprechen, denn hier scheinen mindestens fünf Kapitel zu fehlen? Nein, im Ernst, was hat sich der Autor nur dabei gedacht, uns so ein Ende vorzusetzen?!? Klar, die wichtigsten Punkte sind geklärt, die Botschaft rübergebracht, aber ich habe noch SO VIELE FRAGEN!?!?! Was passiert mit Yasira? Kommt sie über das hinweg, was ihr angetan wurde? Kann sie weiterhin bei der Polizei arbeiten? Stimmte ihre Theorie zu Lena? Finden ihre KollegInnen die KI und können sie stoppen? Wie kommunizieren sie die Wendungen im Fall an die Öffentlichkeit? Wie entwickelt sich die politische Lage weiter? Kann die Eskalation im Land gestoppt werden? .... Marc Uwe Kling meinte in einem Interview, er habe sich an einem Epilog versucht, es habe ihn aber alles daran gelangweilt. Mag sein, dass dies das künstlerisch hochwertigere Ende war und es dieses kurze, aber harte Buch perfekt abschließt, aber hat mal einer an meine Nerven gedacht?!?! So sitze ich hier, emotional ausgelaugt und voller Weltschmerz und Zukunftsängste und schreibe diese Rezension. Ziehe ich dafür etwas an der Bewertung ab? Natürlich nicht!!!! Lest unbedingt alle dieses Buch!



Fazit


"Views" ist ein erschreckender, brutaler Thriller mit klarer politischer Botschaft! Lest unbedingt alle dieses Buch!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.06.2024

Ein scharfzüngiger und satirisch überspitzer Roman über kulturelle Aneignung, Rassismus, Zensur, Plagiate

Yellowface
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"Yellowface" ist eines dieser ganz besonderen Bücher, bei denen man zu Beginn gar nicht genau weiß, worum es gehen wird, währenddessen man jede Menge nachdenken muss und man nach dem Lesen Schwierigkeiten ...

"Yellowface" ist eines dieser ganz besonderen Bücher, bei denen man zu Beginn gar nicht genau weiß, worum es gehen wird, währenddessen man jede Menge nachdenken muss und man nach dem Lesen Schwierigkeiten hat, die richtigen Worte zu finden. R. F. Kuang tritt hier absichtlich in ein gesellschaftliches Minenfeld, fordert jede Menge Arbeit von den LeserInnen und regt zu Kontroversen an. Kurzum: Ein Jahreshighlight, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt!

Das Cover ist sehr schlicht gestaltet. Zu sehen sind ein paar geschwungene schwarze Augen, die vorwurfsvoll von einem knallgelben Hintergrund hochblicken und der Titel -Yellowface-, welcher die stereotypische, rassistisch aufgeladene Darstellung von Personen asiatischer Abstammung durch weiße Menschen beschreibt. Die Gestaltung ist eindringlich, aber ohne viel Schnickschnack und passt damit ganz hervorragend zum Buch selbst!

Erster Satz: "The night I watch Athena Liu die, we’re celebrating her TV deal with Netflix."

Rebecca Kuang steigt schon mit einem sehr starken Anfang in die Geschichte ein. Im ersten Kapitel erleben wir nicht nur den Tod von Athena Liu hautnah mit, sondern bekommen gleich einen Einblick in das angespannte Verhältnis der beiden Jungautorinnen und beobachten wie die Ich-Erzählerin ein Manuskript der frisch Verstorbenen entwendet. Im Folgenden wird in tagebuchartigem Stil sehr ungefiltert und pointiert erzählt, wie June aus Athenas Werk Kapital schlägt und sich dabei immer mehr in ein Netz aus Lügen, Erpressung, Twitter-Beschimpfungen, Plagiats- und Rassismusvorwürfen und moralisch fragwürdigen Entscheidungen verstrickt. Der tatsächliche Plot ist damit erfrischend originell, hat viele verschiedenen inhaltliche und erzähltechnische Ebenen und tritt definitiv auf bisher wenig ausgetretenen Wegen. Dass "Yellowface" zum absoluten Hypebuch des Frühsommers wurde, überrascht mich deshalb nicht im geringsten!

“It’s hard, after all, to be friends with someone who outshines you at every turn.”


Auch wenn es dabei vordergründig "nur" um Junes Alltag als Autorin geht, ist die Geschichte so nüchtern, scharfzüngig und satirisch überspitzt erzählt, dass sie mich von der ersten Seite an eingewickelt und eine enorme Spannung ausgeübt hat. Das liegt zum Einen am Schreibstil der Autorin, bei dem jedes Wort wohlkalkuliert an seinem Platz sitzt und der wirkte, als würde die Autorin mich versteckt in jedem Satz persönlich ansprechen um sicher zu stellen, dass ich noch aufmerksam zuhöre. Zum Anderen daran, dass man nie genau weiß, worauf sich die Geschichte zubewegen wird. Wird June mit ihrem Erfolg davonkommen? Wird sie auffliegen? Wird sie von einem digitalen Lynchmob überrollt? Treibt Athenas Geist sie in den Wahnsinn...? Die Geschichte könnte zu jedem Zeitpunkt in eine Vielzahl unterschiedlicher Richtungen und Genres abbiegen, was bei mir beim Lesen ein bisschen Unbehagen ausgelöst hat, aber gut zur ungewissen Atmosphäre der Geschichte passt. Mit den unvorhersehbaren Horror-, Thriller- und Krimiartigen Episoden in dem ansonsten sehr ruhigen, realistischen Roman stellt die Autorin eine gewagte Mischung zusammen, die aber wunderbar zusammenwirkt.

“But that's what I need right now: a child's blind faith that the world is so simple, and that if I didn't mean to do a bad thing, then none of this is my fault.”


Besonders spannend ist dabei, dass die Autorin die Geschichte aus der Ich-Perspektive einer unzuverlässigen Erzählerin schreibt, die von Beginn an den Erzählton manipuliert und Informationen einfügt oder vorenthält, je nachdem was am besten zu ihrem Narrativ passt. Dabei ist June als Hauptfigur ausreichend nachvollziehbar und menschlich charakterisiert, sodass man mit ihr mitfiebern kann, aber nicht liebenswert genug, um auf ihrer Seite zu stehen. Sie ist neidisch, aufmerksamkeitsgierig und hat furchtbare Angst davor, vergessen zu werden. Sie ist einsam, leidet unter Angststörungen und Minderwertigkeitskomplexe und wird von Schuldgefühlen zerfressen. Viele ihrer Gedanken und Handlungen triggern und stoßen negativ auf. Dennoch erwischt man sich immer wieder dabei, ihren Rechtfertigungen Glauben zu schenken, insgeheim zu hoffen, dass sie nicht erwischt wird und Mitleid mit ihr zu haben, wenn sie von der öffentlichen Hetzjagd und dem Psychoterror mürbe gemacht wird. Mit dem spannenden Hin und Her zwischen Ablehnung und Sympathie ihr gegenüber wird man als LeserIn dazu gebracht, seinen eigenen "White Gaze" zu hinterfragen.

“A writer needs to be read. I want to move people's hearts. I want my books in stores all over the world. I couldn't stand to be like Mom or Rory, living their little and self-contained lives with no great projects or prospects to propel them from one chapter to the next. I want the world to wait with bated breath for what I will say next. I want my words to last forever. I want to be eternal, permanent; when I'm gone, I want to leave behind a mountain of pages that scream, Juniper Song was here, and she told us what was on her mind.”


Denn zusätzlich zur reichhaltigen Atmosphäre des Romans bringt die Autorin eine Vielzahl unterschiedlicher hochaufgeladener Themen und Meinungen in ihrer Geschichte unter und benutzt dabei sowohl rassistische Vorurteile als auch absurde Übertreibungen von politischer Korrektheit, sodass einem bald der Kopf schwirrt und man gar nicht mehr weiß, wo in der Debatte man selbst steht und was man als richtig und falsch einordnet. Dazu nutzt Kuang neben June und dem Gegenwind aus dem Netz auch Nebenfiguren wie beispielsweise Athena, die zunächst als glänzender Kontrapunkt zur Protagonistin erscheint, mit der Zeit aber auch einiges an Glanz einbüßt. Wer dieses Buch liest, wird nicht darum herum kommen, sich intensiv mit Themen wie Kulturkampf, gesellschaftliche Unterdrückung, kulturelle Aneignung, Rassismus, Zensur oder Plagiaten auseinanderzusetzen und seine eigene Stellung mit den provokanten Extrempositionen des Buches abzugleichen.

"Writing is the closest thing we have to real magic. Writing is creating something out of nothing, is opening doors to other lands. Writing gives you power to shape your own world when the real one hurts too much.”


Auch wenn die Geschichte hier thematisch eher in die Breite als in die Tiefe geht, wird durch diese Bombardierung mit verschiedenen Sichtweisen klar: Ein Schwarz-Weiß-Denken ist bei solchen Themen unmöglich und auch nicht zielführend. Stattdessen wird man dazu angeregt, sich weiter mit den Themen zu beschäftigen und die Wahrheit abseits von Ideologien in der Mitte zu suchen. Ich bin mir sicher, dass 100 verschiedene LeserInnen aus diesem Buch 100 verschiedene Messages herauslesen werden. Für mich ist folgende Botschaft zentral: Die Autorin unterstreicht mithilfe ihrer Ich-Erzählerin, dass es immer darauf ankommt, wer die Geschichte aus welcher Perspektive erzählt und die Öffentlichkeit immer nur die Spitze des Eisbergs sieht. Dementsprechend sollte man sich mit schnellen Urteilen - vor allem auf Social Media - eher zurückhalten.

“Offline, writers are all faceless, hypothetical creatures pounding out words in isolation from one another. You can't peek over anyone's shoulder. You can't tell if everyone else is really doing as dandy as they pretend they are. But online, you can tune into all the hot gossip, even if you're not nearly important enough to have a seat in the room where it happens. Online, you can tell Stephen King to go fuck himself. Online, you can discover that the current literary star of the moment is actually so problematic that all of her works should be canceled forever. Reputations in publishing are built and destroyed constantly online.”


Zusätzlich zu den gesellschaftlich brisanten Fragestellungen bietet das Buch einen messerscharfen Einblick in die Medienwelt und liefert auch hier Stoff für ausführliche Debatten. Wer entscheidet, welche Geschichte die Welt als nächstes lesen soll? Wie entstehen Bestseller? Wer darf welche Geschichte schreiben? Wer hat welches Anrecht auf welche Ideen und Themen? Oder wie geht man als LeserIn mit problematischem Verhalten von AutorInnen um (ein Thema, das in der Blog-Community seit J.K. Rowling schon intensiv diskutiert wird). Je länger man liest, desto mehr stellt sich hier die Frage, ob man im digitalen Zeitalter Bücher von ihren AutorInnen überhaupt noch trennen und behaupten kann, dass Bücher nicht politisch sind! Mit Veröffentlichungsdruck, extremer Schnelllebigkeit, der Planbarkeit von Bestsellern, Imagekampagnen von AutorInnen und Identitätspolitik kommt die Verlagsbranche hier allgemein nicht besonders gut weg - was besonders ironisch ist, da "Yellowface" selbst aufgrund der geschilderten Mechanismen zum weltweiten Bestseller geworden ist. Man fragt sich unweigerlich, wie viel von der Autorin selbst und ihren Erfahrungen im Buch steckt, aber genau wie man nie erfahren wird, ob June hier die Wahrheit erzählt, werden wir das ebenfalls nie wissen und das spielt für die Wirkung der Geschichte auch keine Rolle: Für mich hat sich die Geschichte teilweise zu real angefühlt und an manchen Stellen auch ein bisschen überfordert - auf die bestmöglichste Weise.

"I think it's very dangerous to start censoring what authors should and shouldn't write. I'd hate to live in a world where we tell people what they should and shouldn't write based on the color of their skin. I mean, turn what you're saying around and see how it sounds. Can a Black writer not write a novel with a white protagonist? What about everyone who has written about World War Two, and never lived through it? You can critique a work on the grounds of literary quality, and its representations of history - sure. But I see no reason why I shouldn't tackle this subject if I'm willing to do the work. And as you can tell by the text, I did do the work. You can look up my bibliographies. You can do the fact-checking yourself. Meanwhile, I think writing is fundamentally an exercise of empathy. Reading lets us live in someone else's shoes. Literature builds bridges; it makes our world larger, not smaller. And as for the question of profit - I mean, should every writer who writes about dark things feel guilty about it? Should creatives not be paid for their work?”


So auch das Ende, das nach einem thrillerartigen Höhepunkt sehr viel offen lässt und der Geschichte eine weitere Meta-Ebene hinzufügt. Auch wenn ich mir etwas mehr Antworten gewünscht hätte, finde ich das tatsächliche Ende sehr gut gelöst. Denn auch wenn ich durch die Offenheit das Gefühl hatte, dass die Autorin nicht ganz sicher war, wie sie ihre Geschichte zu Ende bringen soll, passt dies perfekt zu June, die selbst feststellt: "I’ve written myself into a corner. The first two thirds of the book were a breeze to compose, but what do I do with the ending? Where do I leave my protagonist, now that there’s no clear resolution?" Das Ende lässt einen abermals zweifelnd zurück, ob die Erzählerin vertrauenswürdig ist und was wirklich passiert ist. Im Endeffekt spielt das aber keine Rolle: sie erzählt hier ihre Geschichte und wir können nicht anders, als ihrem Narrativ zu folgen und zu hoffen, mit unseren Urteilen der Wahrheit gerecht zu werden. So steht für mich fest: "Yellowface" ist kein perfekter Roman, aber definitiv ein vielschichtiger und anregender, der anders ist als alles, was ich bisher gelesen habe!

“The truth is fluid, there is always another way to spin the story.”



Fazit:

Ein scharfzüngiger und satirisch überspitzter Roman über kulturelle Aneignung, Rassismus, Zensur, Plagiate. R.F. Kuang wirft hier eine Menge wichtiger Fragen auf und erzählt gleichzeitig eine vielschichtige und hochspannende Geschichte über eine kontroverse Hauptfigur.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.06.2024

Ein scharfzüngiger und satirisch überspitzer Roman über kulturelle Aneignung, Rassismus, Zensur, Plagiate.

Yellowface
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"Yellowface" ist eines dieser ganz besonderen Bücher, bei denen man zu Beginn gar nicht genau weiß, worum es gehen wird, währenddessen man jede Menge nachdenken muss und man nach dem Lesen Schwierigkeiten ...

"Yellowface" ist eines dieser ganz besonderen Bücher, bei denen man zu Beginn gar nicht genau weiß, worum es gehen wird, währenddessen man jede Menge nachdenken muss und man nach dem Lesen Schwierigkeiten hat, die richtigen Worte zu finden. R. F. Kuang tritt hier absichtlich in ein gesellschaftliches Minenfeld, fordert jede Menge Arbeit von den LeserInnen und regt zu Kontroversen an. Kurzum: Ein Jahreshighlight, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt!

Das Cover ist sehr schlicht gestaltet. Zu sehen sind ein paar geschwungene schwarze Augen, die vorwurfsvoll von einem knallgelben Hintergrund hochblicken und der Titel -Yellowface-, welcher die stereotypische, rassistisch aufgeladene Darstellung von Personen asiatischer Abstammung durch weiße Menschen beschreibt. Die Gestaltung ist eindringlich, aber ohne viel Schnickschnack und passt damit ganz hervorragend zum Buch selbst!

Erster Satz: "The night I watch Athena Liu die, we’re celebrating her TV deal with Netflix."

Rebecca Kuang steigt schon mit einem sehr starken Anfang in die Geschichte ein. Im ersten Kapitel erleben wir nicht nur den Tod von Athena Liu hautnah mit, sondern bekommen gleich einen Einblick in das angespannte Verhältnis der beiden Jungautorinnen und beobachten wie die Ich-Erzählerin ein Manuskript der frisch Verstorbenen entwendet. Im Folgenden wird in tagebuchartigem Stil sehr ungefiltert und pointiert erzählt, wie June aus Athenas Werk Kapital schlägt und sich dabei immer mehr in ein Netz aus Lügen, Erpressung, Twitter-Beschimpfungen, Plagiats- und Rassismusvorwürfen und moralisch fragwürdigen Entscheidungen verstrickt. Der tatsächliche Plot ist damit erfrischend originell, hat viele verschiedenen inhaltliche und erzähltechnische Ebenen und tritt definitiv auf bisher wenig ausgetretenen Wegen. Dass "Yellowface" zum absoluten Hypebuch des Frühsommers wurde, überrascht mich deshalb nicht im geringsten!

“It’s hard, after all, to be friends with someone who outshines you at every turn.”


Auch wenn es dabei vordergründig "nur" um Junes Alltag als Autorin geht, ist die Geschichte so nüchtern, scharfzüngig und satirisch überspitzt erzählt, dass sie mich von der ersten Seite an eingewickelt und eine enorme Spannung ausgeübt hat. Das liegt zum Einen am Schreibstil der Autorin, bei dem jedes Wort wohlkalkuliert an seinem Platz sitzt und der wirkte, als würde die Autorin mich versteckt in jedem Satz persönlich ansprechen um sicher zu stellen, dass ich noch aufmerksam zuhöre. Zum Anderen daran, dass man nie genau weiß, worauf sich die Geschichte zubewegen wird. Wird June mit ihrem Erfolg davonkommen? Wird sie auffliegen? Wird sie von einem digitalen Lynchmob überrollt? Treibt Athenas Geist sie in den Wahnsinn...? Die Geschichte könnte zu jedem Zeitpunkt in eine Vielzahl unterschiedlicher Richtungen und Genres abbiegen, was bei mir beim Lesen ein bisschen Unbehagen ausgelöst hat, aber gut zur ungewissen Atmosphäre der Geschichte passt. Mit den unvorhersehbaren Horror-, Thriller- und Krimiartigen Episoden in dem ansonsten sehr ruhigen, realistischen Roman stellt die Autorin eine gewagte Mischung zusammen, die aber wunderbar zusammenwirkt.

“But that's what I need right now: a child's blind faith that the world is so simple, and that if I didn't mean to do a bad thing, then none of this is my fault.”


Besonders spannend ist dabei, dass die Autorin die Geschichte aus der Ich-Perspektive einer unzuverlässigen Erzählerin schreibt, die von Beginn an den Erzählton manipuliert und Informationen einfügt oder vorenthält, je nachdem was am besten zu ihrem Narrativ passt. Dabei ist June als Hauptfigur ausreichend nachvollziehbar und menschlich charakterisiert, sodass man mit ihr mitfiebern kann, aber nicht liebenswert genug, um auf ihrer Seite zu stehen. Sie ist neidisch, aufmerksamkeitsgierig und hat furchtbare Angst davor, vergessen zu werden. Sie ist einsam, leidet unter Angststörungen und Minderwertigkeitskomplexe und wird von Schuldgefühlen zerfressen. Viele ihrer Gedanken und Handlungen triggern und stoßen negativ auf. Dennoch erwischt man sich immer wieder dabei, ihren Rechtfertigungen Glauben zu schenken, insgeheim zu hoffen, dass sie nicht erwischt wird und Mitleid mit ihr zu haben, wenn sie von der öffentlichen Hetzjagd und dem Psychoterror mürbe gemacht wird. Mit dem spannenden Hin und Her zwischen Ablehnung und Sympathie ihr gegenüber wird man als LeserIn dazu gebracht, seinen eigenen "White Gaze" zu hinterfragen.

“A writer needs to be read. I want to move people's hearts. I want my books in stores all over the world. I couldn't stand to be like Mom or Rory, living their little and self-contained lives with no great projects or prospects to propel them from one chapter to the next. I want the world to wait with bated breath for what I will say next. I want my words to last forever. I want to be eternal, permanent; when I'm gone, I want to leave behind a mountain of pages that scream, Juniper Song was here, and she told us what was on her mind.”


Denn zusätzlich zur reichhaltigen Atmosphäre des Romans bringt die Autorin eine Vielzahl unterschiedlicher hochaufgeladener Themen und Meinungen in ihrer Geschichte unter und benutzt dabei sowohl rassistische Vorurteile als auch absurde Übertreibungen von politischer Korrektheit, sodass einem bald der Kopf schwirrt und man gar nicht mehr weiß, wo in der Debatte man selbst steht und was man als richtig und falsch einordnet. Dazu nutzt Kuang neben June und dem Gegenwind aus dem Netz auch Nebenfiguren wie beispielsweise Athena, die zunächst als glänzender Kontrapunkt zur Protagonistin erscheint, mit der Zeit aber auch einiges an Glanz einbüßt. Wer dieses Buch liest, wird nicht darum herum kommen, sich intensiv mit Themen wie Kulturkampf, gesellschaftliche Unterdrückung, kulturelle Aneignung, Rassismus, Zensur oder Plagiaten auseinanderzusetzen und seine eigene Stellung mit den provokanten Extrempositionen des Buches abzugleichen.

"Writing is the closest thing we have to real magic. Writing is creating something out of nothing, is opening doors to other lands. Writing gives you power to shape your own world when the real one hurts too much.”


Auch wenn die Geschichte hier thematisch eher in die Breite als in die Tiefe geht, wird durch diese Bombardierung mit verschiedenen Sichtweisen klar: Ein Schwarz-Weiß-Denken ist bei solchen Themen unmöglich und auch nicht zielführend. Stattdessen wird man dazu angeregt, sich weiter mit den Themen zu beschäftigen und die Wahrheit abseits von Ideologien in der Mitte zu suchen. Ich bin mir sicher, dass 100 verschiedene LeserInnen aus diesem Buch 100 verschiedene Messages herauslesen werden. Für mich ist folgende Botschaft zentral: Die Autorin unterstreicht mithilfe ihrer Ich-Erzählerin, dass es immer darauf ankommt, wer die Geschichte aus welcher Perspektive erzählt und die Öffentlichkeit immer nur die Spitze des Eisbergs sieht. Dementsprechend sollte man sich mit schnellen Urteilen - vor allem auf Social Media - eher zurückhalten.

“Offline, writers are all faceless, hypothetical creatures pounding out words in isolation from one another. You can't peek over anyone's shoulder. You can't tell if everyone else is really doing as dandy as they pretend they are. But online, you can tune into all the hot gossip, even if you're not nearly important enough to have a seat in the room where it happens. Online, you can tell Stephen King to go fuck himself. Online, you can discover that the current literary star of the moment is actually so problematic that all of her works should be canceled forever. Reputations in publishing are built and destroyed constantly online.”


Zusätzlich zu den gesellschaftlich brisanten Fragestellungen bietet das Buch einen messerscharfen Einblick in die Medienwelt und liefert auch hier Stoff für ausführliche Debatten. Wer entscheidet, welche Geschichte die Welt als nächstes lesen soll? Wie entstehen Bestseller? Wer darf welche Geschichte schreiben? Wer hat welches Anrecht auf welche Ideen und Themen? Oder wie geht man als LeserIn mit problematischem Verhalten von AutorInnen um (ein Thema, das in der Blog-Community seit J.K. Rowling schon intensiv diskutiert wird). Je länger man liest, desto mehr stellt sich hier die Frage, ob man im digitalen Zeitalter Bücher von ihren AutorInnen überhaupt noch trennen und behaupten kann, dass Bücher nicht politisch sind! Mit Veröffentlichungsdruck, extremer Schnelllebigkeit, der Planbarkeit von Bestsellern, Imagekampagnen von AutorInnen und Identitätspolitik kommt die Verlagsbranche hier allgemein nicht besonders gut weg - was besonders ironisch ist, da "Yellowface" selbst aufgrund der geschilderten Mechanismen zum weltweiten Bestseller geworden ist. Man fragt sich unweigerlich, wie viel von der Autorin selbst und ihren Erfahrungen im Buch steckt, aber genau wie man nie erfahren wird, ob June hier die Wahrheit erzählt, werden wir das ebenfalls nie wissen und das spielt für die Wirkung der Geschichte auch keine Rolle: Für mich hat sich die Geschichte teilweise zu real angefühlt und an manchen Stellen auch ein bisschen überfordert - auf die bestmöglichste Weise.

"I think it's very dangerous to start censoring what authors should and shouldn't write. I'd hate to live in a world where we tell people what they should and shouldn't write based on the color of their skin. I mean, turn what you're saying around and see how it sounds. Can a Black writer not write a novel with a white protagonist? What about everyone who has written about World War Two, and never lived through it? You can critique a work on the grounds of literary quality, and its representations of history - sure. But I see no reason why I shouldn't tackle this subject if I'm willing to do the work. And as you can tell by the text, I did do the work. You can look up my bibliographies. You can do the fact-checking yourself. Meanwhile, I think writing is fundamentally an exercise of empathy. Reading lets us live in someone else's shoes. Literature builds bridges; it makes our world larger, not smaller. And as for the question of profit - I mean, should every writer who writes about dark things feel guilty about it? Should creatives not be paid for their work?”


So auch das Ende, das nach einem thrillerartigen Höhepunkt sehr viel offen lässt und der Geschichte eine weitere Meta-Ebene hinzufügt. Auch wenn ich mir etwas mehr Antworten gewünscht hätte, finde ich das tatsächliche Ende sehr gut gelöst. Denn auch wenn ich durch die Offenheit das Gefühl hatte, dass die Autorin nicht ganz sicher war, wie sie ihre Geschichte zu Ende bringen soll, passt dies perfekt zu June, die selbst feststellt: "I’ve written myself into a corner. The first two thirds of the book were a breeze to compose, but what do I do with the ending? Where do I leave my protagonist, now that there’s no clear resolution?" Das Ende lässt einen abermals zweifelnd zurück, ob die Erzählerin vertrauenswürdig ist und was wirklich passiert ist. Im Endeffekt spielt das aber keine Rolle: sie erzählt hier ihre Geschichte und wir können nicht anders, als ihrem Narrativ zu folgen und zu hoffen, mit unseren Urteilen der Wahrheit gerecht zu werden. So steht für mich fest: "Yellowface" ist kein perfekter Roman, aber definitiv ein vielschichtiger und anregender, der anders ist als alles, was ich bisher gelesen habe!

“The truth is fluid, there is always another way to spin the story.”



Fazit:

Ein scharfzüngiger und satirisch überspitzer Roman über kulturelle Aneignung, Rassismus, Zensur, Plagiate. R.F. Kuang wirft hier eine Menge wichtiger Fragen auf und erzählt gleichzeitig eine vielschichtige und hochspannende Geschichte über eine kontroverse Hauptfigur.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.05.2024

Ein herzliches und mitreißendes Figurenporträt

Eine Frage der Chemie (Schmuckausgabe)
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Ich habe "Eine Frage der Chemie" begonnen, nachdem ich von einer älteren Dame in einer Buchhandlung in ein total nettes Gespräch verwickelt wurde und sie mir leidenschaftlich erklärt hat, wieso es ihr ...

Ich habe "Eine Frage der Chemie" begonnen, nachdem ich von einer älteren Dame in einer Buchhandlung in ein total nettes Gespräch verwickelt wurde und sie mir leidenschaftlich erklärt hat, wieso es ihr absolutes Lieblingsbuch ist. Leider weiß ich nicht mal den Namen der Dame, sonst könnte ich mich nun bei Ihr öffentlich für ein unerwartetes Jahreshighlight bedanken! So eine herzliche, mitreißende und bedeutsame Geschichte!

Chemistry is inseparable from life—by its very definition, chemistry is life. But like your pie, life requires a strong base. In your home, you are that base. It is an enormous responsibility, the most undervalued job in the world that, nonetheless, holds everything together.”

Das Cover der deutschen Ausgabe zeigt eine Frau mit typischer 60er Frisur, die mit in die Hüften gestemmten Händen vor dem nostalgisch ausgegrauten Hintergrund einer Küche selbstbewusst in die Kamera blickt. Obwohl die Hauptmotive passen, bin ich kein Fan des Covers und finde das Originalcover deutlich zutreffender. Denn hier ist zum Einen keine echte Person zu sehen und zum Anderen ist die Frau blond und damit näher an Elizabeths Zotts Aussehen im Buch. Auch den Originaltitel, "Lessons in Chemistry" finde ich etwas gelungener als die Übersetzung "Eine Frage der Chemie". Aber wir wollen uns ja nicht mit Äußerlichkeiten aufhalten...

“When it came to equality, 1952 was a real disappointment.”

Die Geschichte beginnt zunächst mitten im Leben von Elizabeth Zott, zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereits eine Tochter hat und erfolgreiche TV-Köchin ist. Nach diesem kurzen Vorgriff, setzt der Roman allerdings wieder früher in ihrem Leben an und greift in einer chronologischen Erzählung auf, wie sie als Wissenschaftlerin, die in der Forschung Karriere machen und eigentlich nie Kinder bekommen wollte, an diesen Punkt gelangt ist. Mit der sehr figurenzentrierten Erzählung, die einen großen Teil des Lebens der Figur abdeckt, ohne auf ein klares Ziel hinzusteuern, hat mich der Stil der Geschichte ein wenig an Taylor Jenkins Reids Bücher erinnert, die oft ebenso biografisch und mitreißend sind, ohne eine konkrete Rahmenhandlung zu benötigen. Auch hier ging das Konzept trotz der lockeren Erzählweise für mich voll auf: ich habe Elizabeth sehr gerne durch alle Stationen ihres Lebens begleitet und konnte das Buch kaum aus der Hand legen, so sehr haben mich ihr Schicksal, ihre Entschlossenheit und Herzensgüte emotional berührt!

And as humans, we’re by-products of our upbringings, victims of our lackluster educational systems, and choosers of our behaviors. In short, the reduction of women to something less than men, and the elevation of men to something more than women, is not biological: it’s cultural. And it starts with two words: pink and blue. Everything skyrockets out of control from there.”
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Dabei schaffte es Bonnie Garmus überraschenderweise ein Wohlfühlbuch zu schreiben, obwohl eigentlich alles andere als Wohlfühlthemen behandelt werden. Denn zwar erzählt die Autorin hier eine Liebesgeschichte zwischen zwei außergewöhnlichen Persönlichkeiten und schreibt von Freundschaft, Feminismus, Empowering, Mitgefühl und weiblicher Größe - es geht allerdings auch um Sexismus, Tod, sexuelle Übergriffe, Depressionen, Verlust, Schicksalsschläge, Diskriminierung, Traumata und ungewollte Schwangerschaft. Elizabeths Weg ist alles andere als geradlinig und einfach und so wird ein schmerzhaft realistisches Bild der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und Grausamkeit gegenüber Frauen gezeichnet. Elizabeths bestärkende Botschaft an andere Frauen, sich trotzdem nicht unterkriegen zu lassen und gegen den Strom zu schwimmen, um die eigenen Ziele zu erreichen, ist damit umso gewichtiger und regt zum Nachdenken über Geschlechtergerechtigkeit, -stereotype und Gleichberechtigung an. Denn wenn Elizabeth sich in den 1960ern nicht hat stoppen lassen, was soll dann uns heute davon abhalten, durchzustarten und Ungerechtigkeiten des Patriarchats hinter uns zu lassen...?

“It was a form of naïveté, he thought, the way she continued to believe that all it took to get through life was grit. Sure, grit was critical, but it also took luck, and if luck wasn’t available, then help. Everyone needed help. But maybe because she’d never been offered any, she refused to believe in it.”

Ganz im Zentrum der Geschichte steht dabei die Hauptfigur, Elizabeth Zott. Die junge Chemikerin ist nicht nur mit überdurchschnittlicher Schönheit und Intelligenz, sondern auch mit einem beharrlichen Dickkopf und einer gesellschaftlichen Naivität gesegnet, von der man nicht genau weiß, ob sie gewisse Dinge aus Sturheit absichtlich übersieht oder man sie eher im autistischen Spektrum verorten muss. Selbstbewusst, entschlossen, kühl, hochintelligent, systematisch - auf den ersten Blick sieht man vor allem ihre Genialität und ihre Einstellung, die ihrer Zeit eindeutig voraus ist und für die sie von ihren Mitmenschen gleichwohl bewundert wie beneidet wird. Erst auf den zweiten Blick sehen wir, was die vielen Hürden und Rückschläge mit ihr machen und sehen den Menschen hinter der vorbildhaften Heldin. So wird sie zu einer überaus lebendige Figur, deren Porträt man gerne folgt und von der man sich am Ende des Buches fast sicher ist, dass es sie tatsächlich gegeben haben muss.

“Having a baby, Elizabeth realized, was a little like living with a visitor from a distant planet. There was a certain amount of give and take as the visitor learned your ways and you learned theirs, but gradually their ways faded and your ways stuck. Which she found regrettable. Because unlike adults, her visitor never tired of even the smallest discovery; always saw the magic in the extraordinary.”

Der tatsächliche Schreibstil der Autorin ist passend zu ihrer Hauptfigur nüchtern, humorvoll direkt und manchmal sogar etwas trocken. Die meiste Zeit wird direkt aus Elizabeths Sicht erzählt, Bonnie Garmus wechselt aber ab und zu auch in die Perspektive von Nebenfiguren wie Chemiker Calvin, ihre Nachbarin und Freundin Harriet Sloan, ihre Tochter Madeline, ihr Chef Walter Pine oder sogar ihr Hund Halbsieben. Was letzteres angeht bin ich normalerweise eher skeptisch, aber die Autorin hat dies auf sehr charmante und glaubhafte Art und Weise gelöst, die die Geschichte und deren herzliche Atmosphäre ergänzt. Auch die Nebenfiguren sind differenziert gezeichnet und bringen alle Fehler und Tugenden mit sich. So nimmt die Geschichte mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle und weckt mal Wut und Abscheu über die Verbohrtheit mancher Menschen, mal tiefes Mitgefühl und Erleichterung und gegen Ende dominieren Freude, Stolz und Liebe für die Figuren und die Autorin für diese tolle Geschichte!!! Zwar fand ich das Ende ein kleines bisschen konstruiert und habe es außerdem kommen sehen, da ich das Buch ansonsten aber liebe und das Konzept voll aufgegangen ist, vergebe ich dennoch 5 Sterne!

“Whenever you feel afraid, just remember. Courage is the root of change - and change is what we're chemically designed to do. So when you wake up tomorrow, make this pledge. No more holding yourself back. No more subscribing to others' opinions of what you can and cannot achieve. And no more allowing anyone to pigeonhole you into useless categories of sex, race, economic status, and religion. Do not allow your talents to lie dormant, ladies. Design your own future. When you go home today, ask yourself what YOU will change. And then get started.”

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Fazit:

Ein herzliches und mitreißendes Figurenporträt über das Leben, Chemie, Freundschaft, Feminismus, Empowerment, Mitgefühl und weibliche Größe!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.05.2024

Ein herzliches und mitreißendes Figurenporträt

Eine Frage der Chemie
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Ich habe "Eine Frage der Chemie" begonnen, nachdem ich von einer älteren Dame in einer Buchhandlung in ein total nettes Gespräch verwickelt wurde und sie mir leidenschaftlich erklärt hat, wieso es ihr ...

Ich habe "Eine Frage der Chemie" begonnen, nachdem ich von einer älteren Dame in einer Buchhandlung in ein total nettes Gespräch verwickelt wurde und sie mir leidenschaftlich erklärt hat, wieso es ihr absolutes Lieblingsbuch ist. Leider weiß ich nicht mal den Namen der Dame, sonst könnte ich mich nun bei Ihr öffentlich für ein unerwartetes Jahreshighlight bedanken! So eine herzliche, mitreißende und bedeutsame Geschichte!

Chemistry is inseparable from life—by its very definition, chemistry is life. But like your pie, life requires a strong base. In your home, you are that base. It is an enormous responsibility, the most undervalued job in the world that, nonetheless, holds everything together.”

Das Cover der deutschen Ausgabe zeigt eine Frau mit typischer 60er Frisur, die mit in die Hüften gestemmten Händen vor dem nostalgisch ausgegrauten Hintergrund einer Küche selbstbewusst in die Kamera blickt. Obwohl die Hauptmotive passen, bin ich kein Fan des Covers und finde das Originalcover deutlich zutreffender. Denn hier ist zum Einen keine echte Person zu sehen und zum Anderen ist die Frau blond und damit näher an Elizabeths Zotts Aussehen im Buch. Auch den Originaltitel, "Lessons in Chemistry" finde ich etwas gelungener als die Übersetzung "Eine Frage der Chemie". Aber wir wollen uns ja nicht mit Äußerlichkeiten aufhalten...

“When it came to equality, 1952 was a real disappointment.”

Die Geschichte beginnt zunächst mitten im Leben von Elizabeth Zott, zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereits eine Tochter hat und erfolgreiche TV-Köchin ist. Nach diesem kurzen Vorgriff, setzt der Roman allerdings wieder früher in ihrem Leben an und greift in einer chronologischen Erzählung auf, wie sie als Wissenschaftlerin, die in der Forschung Karriere machen und eigentlich nie Kinder bekommen wollte, an diesen Punkt gelangt ist. Mit der sehr figurenzentrierten Erzählung, die einen großen Teil des Lebens der Figur abdeckt, ohne auf ein klares Ziel hinzusteuern, hat mich der Stil der Geschichte ein wenig an Taylor Jenkins Reids Bücher erinnert, die oft ebenso biografisch und mitreißend sind, ohne eine konkrete Rahmenhandlung zu benötigen. Auch hier ging das Konzept trotz der lockeren Erzählweise für mich voll auf: ich habe Elizabeth sehr gerne durch alle Stationen ihres Lebens begleitet und konnte das Buch kaum aus der Hand legen, so sehr haben mich ihr Schicksal, ihre Entschlossenheit und Herzensgüte emotional berührt!

And as humans, we’re by-products of our upbringings, victims of our lackluster educational systems, and choosers of our behaviors. In short, the reduction of women to something less than men, and the elevation of men to something more than women, is not biological: it’s cultural. And it starts with two words: pink and blue. Everything skyrockets out of control from there.”
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Dabei schaffte es Bonnie Garmus überraschenderweise ein Wohlfühlbuch zu schreiben, obwohl eigentlich alles andere als Wohlfühlthemen behandelt werden. Denn zwar erzählt die Autorin hier eine Liebesgeschichte zwischen zwei außergewöhnlichen Persönlichkeiten und schreibt von Freundschaft, Feminismus, Empowering, Mitgefühl und weiblicher Größe - es geht allerdings auch um Sexismus, Tod, sexuelle Übergriffe, Depressionen, Verlust, Schicksalsschläge, Diskriminierung, Traumata und ungewollte Schwangerschaft. Elizabeths Weg ist alles andere als geradlinig und einfach und so wird ein schmerzhaft realistisches Bild der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und Grausamkeit gegenüber Frauen gezeichnet. Elizabeths bestärkende Botschaft an andere Frauen, sich trotzdem nicht unterkriegen zu lassen und gegen den Strom zu schwimmen, um die eigenen Ziele zu erreichen, ist damit umso gewichtiger und regt zum Nachdenken über Geschlechtergerechtigkeit, -stereotype und Gleichberechtigung an. Denn wenn Elizabeth sich in den 1960ern nicht hat stoppen lassen, was soll dann uns heute davon abhalten, durchzustarten und Ungerechtigkeiten des Patriarchats hinter uns zu lassen...?

“It was a form of naïveté, he thought, the way she continued to believe that all it took to get through life was grit. Sure, grit was critical, but it also took luck, and if luck wasn’t available, then help. Everyone needed help. But maybe because she’d never been offered any, she refused to believe in it.”

Ganz im Zentrum der Geschichte steht dabei die Hauptfigur, Elizabeth Zott. Die junge Chemikerin ist nicht nur mit überdurchschnittlicher Schönheit und Intelligenz, sondern auch mit einem beharrlichen Dickkopf und einer gesellschaftlichen Naivität gesegnet, von der man nicht genau weiß, ob sie gewisse Dinge aus Sturheit absichtlich übersieht oder man sie eher im autistischen Spektrum verorten muss. Selbstbewusst, entschlossen, kühl, hochintelligent, systematisch - auf den ersten Blick sieht man vor allem ihre Genialität und ihre Einstellung, die ihrer Zeit eindeutig voraus ist und für die sie von ihren Mitmenschen gleichwohl bewundert wie beneidet wird. Erst auf den zweiten Blick sehen wir, was die vielen Hürden und Rückschläge mit ihr machen und sehen den Menschen hinter der vorbildhaften Heldin. So wird sie zu einer überaus lebendige Figur, deren Porträt man gerne folgt und von der man sich am Ende des Buches fast sicher ist, dass es sie tatsächlich gegeben haben muss.

“Having a baby, Elizabeth realized, was a little like living with a visitor from a distant planet. There was a certain amount of give and take as the visitor learned your ways and you learned theirs, but gradually their ways faded and your ways stuck. Which she found regrettable. Because unlike adults, her visitor never tired of even the smallest discovery; always saw the magic in the extraordinary.”

Der tatsächliche Schreibstil der Autorin ist passend zu ihrer Hauptfigur nüchtern, humorvoll direkt und manchmal sogar etwas trocken. Die meiste Zeit wird direkt aus Elizabeths Sicht erzählt, Bonnie Garmus wechselt aber ab und zu auch in die Perspektive von Nebenfiguren wie Chemiker Calvin, ihre Nachbarin und Freundin Harriet Sloan, ihre Tochter Madeline, ihr Chef Walter Pine oder sogar ihr Hund Halbsieben. Was letzteres angeht bin ich normalerweise eher skeptisch, aber die Autorin hat dies auf sehr charmante und glaubhafte Art und Weise gelöst, die die Geschichte und deren herzliche Atmosphäre ergänzt. Auch die Nebenfiguren sind differenziert gezeichnet und bringen alle Fehler und Tugenden mit sich. So nimmt die Geschichte mit auf eine Achterbahnfahrt der Gefühle und weckt mal Wut und Abscheu über die Verbohrtheit mancher Menschen, mal tiefes Mitgefühl und Erleichterung und gegen Ende dominieren Freude, Stolz und Liebe für die Figuren und die Autorin für diese tolle Geschichte!!! Zwar fand ich das Ende ein kleines bisschen konstruiert und habe es außerdem kommen sehen, da ich das Buch ansonsten aber liebe und das Konzept voll aufgegangen ist, vergebe ich dennoch 5 Sterne!

“Whenever you feel afraid, just remember. Courage is the root of change - and change is what we're chemically designed to do. So when you wake up tomorrow, make this pledge. No more holding yourself back. No more subscribing to others' opinions of what you can and cannot achieve. And no more allowing anyone to pigeonhole you into useless categories of sex, race, economic status, and religion. Do not allow your talents to lie dormant, ladies. Design your own future. When you go home today, ask yourself what YOU will change. And then get started.”

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Fazit:

Ein herzliches und mitreißendes Figurenporträt über das Leben, Chemie, Freundschaft, Feminismus, Empowerment, Mitgefühl und weibliche Größe!

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  • Erzählstil
  • Handlung
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