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Veröffentlicht am 23.06.2024

Charakterstudien

Long Island
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Irland, Anfang der 1970er Jahre. Eilis reist nach langer Zeit das erste Mal zurück in ihr Heimatstädtchen Enniscorthy. Vor fast 20 Jahren hat sie es verlassen, um mit ihrem Mann Tony auf Long Island zusammenzuleben. ...

Irland, Anfang der 1970er Jahre. Eilis reist nach langer Zeit das erste Mal zurück in ihr Heimatstädtchen Enniscorthy. Vor fast 20 Jahren hat sie es verlassen, um mit ihrem Mann Tony auf Long Island zusammenzuleben. Sie haben die zwei inzwischen fast erwachsenen Kinder Rosella und Larry bekommen und wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Tonys Eltern und den Familien seiner Brüder, wobei Eilis in dem italienischstämmigen Clan eine Exotin geblieben ist.
Nun ist etwas vorgefallen und Eilis braucht Abstand und reist zu ihrer Mutter. Doch nicht nur die lebt noch in Enniscorthy, auch Jim, der örtliche Pub-Besitzer, mit dem EIilis bei ihrem letzten Besuch eine Liaison hatte, ist noch vor Ort und hat ihre überstürzte Abreise zu einem Mann, von dessen Existenz er nicht mal wusste, nie komplett verwunden …

Es könnte der Beginn einer großen Liebesgeschichte über zweite Chancen und neues Glück sein – oder? In diese Kategorie passt „Long Island“ allerdings nur sehr bedingt. Vor allem geht es um drei Menschen – Eilis‘ Jugendfreundin Nancy ist auch noch eine wichtige Figur – die ihre Zukunft nochmal neu in die Hand nehmen wollen. Sie alle sind in unterschiedlichen Lebenssituationen und müssen herausfinden, was ihnen wichtig ist und welchen Preis sie dafür bereit sind zu bezahlen. Ihr Gefühlsleben ist widersprüchlich, ihre Entscheidungen sind komplex und die Folgen ihres Handelns eventuell unumkehrbar.

Autor Colm Tóibin, der selbst in Enniscorthy geboren wurde, schildert lakonisch, wie es seinen Hauptfiguren einen Sommer lang ergeht. Und obwohl keiner der drei ein totaler Sympathieträger ist, hat mich dieser grandios geschriebene Roman nicht mehr losgelassen. Der Autor schafft es, das Innenleben seiner Protagonistinnen so interessant zu erzählen, dass er die Handlung vermeintlich ruhig dahinplätschern lassen kann. Er hat ein ausgeprägtes Gespür für seine Charaktere, deren verschiedene Facetten erst nach und nach zum Vorschein kommen – auf dem Präsentierteller wird hier nichts geliefert, offen kommuniziert auch viel zu wenig. Und so müssen sich die Figuren einiges selbst zusammenreimen – ein Schicksal, dass sie mit den Romanleserinnen teilen. Vermutlich hat mich gerade das so gefesselt.

Bedauert habe ich, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, „Brooklyn“ vorab zu lesen oder zumindest den Film zu schauen. In dieser Vorgeschichte schildert Tóibín Eilis‘ Auswanderung und ihren ersten Sommer mit Jim. Um die Figuren schneller einordnen zu können, ist die Lektüre sicher hilfreich – außerdem macht „Long Island“ dann vermutlich noch mehr Spaß. Doch auch so hat mir das Buch sehr gefallen und ich habe die Hoffnung, dass Tóibín nochmal von Eilis, Jim und Nancy hören lassen könnte. Auserzählt ist diese Geschichte noch nicht.

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Veröffentlicht am 03.06.2024

Tod einer Kritikerin

Mord stand nicht im Drehbuch
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Der Titel dieses Buches hat mich gleich an einen gemütlichen, britischen Sonntagnachmittagskrimi erinnert. Doch gemütlich fühlt sich der Ich-Erzähler ganz und gar nicht, er steht nämlich unter Mordverdacht. ...

Der Titel dieses Buches hat mich gleich an einen gemütlichen, britischen Sonntagnachmittagskrimi erinnert. Doch gemütlich fühlt sich der Ich-Erzähler ganz und gar nicht, er steht nämlich unter Mordverdacht. Eine berüchtigte Theaterkritikerin hat sein gerade erstmals in London aufgeführtes Stück „Mindgame“ gnadenlos verrissen und wird am Morgen danach in ihrem Haus ermordet. Alle Indizien scheinen gegen Anthony Horowitz zu sprechen – den Protagonisten, der den Namen des echten Autors trägt und untrennbar mit ihm verschmilzt. Jetzt kann nur noch Privatdetektiv Daniel Hawthorne helfen, dem Horowitz allerdings gerade die Zusammenarbeit aufgekündigt hat. Es sieht nicht gut aus für den Erdenker von Alex Rider …

„Mord stand nicht im Drehbuch“ ist der vierte Titel, in dem Anthony Horowitz über Anthony Horowitz schreibt bzw. so charmant wie gewitzt den Eindruck erweckt, seine Krimis wären autobiografisch. Die ersten beiden kenne ich noch nicht, aber den dritten „Wenn Worte töten“ habe ich sehr begeistert gelesen. Eventuell dazu beigetragen hat die Tatsache, dass der Handlungsort ein Literaturfestival ist und es immer wieder um den Literaturbetrieb geht. Dieser Folgeband hat dagegen die Theaterszene zum Thema. Ich habe etwas länger gebraucht, um damit warm zu werden, doch nach einem ruhigen Einstieg nimmt der Krimi sehr an Fahrt auf und schließlich befragt Hawthorne in bester Hercule-Poirot-Manier den scheinbar überschaubaren Kreis der möglichen Täterinnen und Täter. Dem Hauptverdächtigen Horowitz bleibt dabei wieder die Rolle des im Dunkeln tappenden Sidekicks – zum einen hat mich das amüsiert, zum anderen muss ich gestehen, auch nicht mehr Durchblick gehabt zu haben als die Hauptfigur. Die raffinierte Auflösung ließ dann aber keine Fragen mehr offen. Ein richtig guter, unterhaltsamer Krimi, in dem die nächsten Bände erfreulicherweise bereits angeteasert werden. Ich freue mich darauf!

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Veröffentlicht am 13.05.2024

Buchliebe auf den ersten Blick

Yellowface
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Buchliebe auf den ersten Blick: Das Cover, die Leseprobe, der Farbschnitt mit dem tropfenden Füller – ich wusste sofort, das muss ich lesen. Romane, die den Literaturbetrieb thematisieren, mag ich sowieso, ...

Buchliebe auf den ersten Blick: Das Cover, die Leseprobe, der Farbschnitt mit dem tropfenden Füller – ich wusste sofort, das muss ich lesen. Romane, die den Literaturbetrieb thematisieren, mag ich sowieso, pointiert-Satirisches ebenfalls und wenn dann noch Richtig und Falsch verschwimmen und die Protagonistin Leserinnen und Leser auf ihre mutmaßlich dunkle Seite zieht, finde ich das ziemlich spannend. „Yellowface“ bietet all das und ist darüber hinaus sehr unterhaltsam geschrieben.

Zum Inhalt: June Hayward und Athena Liu, beide 27 Jahre alt, kennen sich seit dem Studium in Yale, das beide mit einem klaren Ziel vor Augen verfolgt haben: Sie wollten erfolgreiche Autorinnen werden. Athena hat es ein paar Jahre später geschafft, June nicht. Zwar hat auch sie einen Verlag gefunden, der ihren Debütroman veröffentlicht hat, doch der Titel fand keine große Aufmerksamkeit und ist mehr oder weniger versandet. Nun hat June eine Schreibblockade und Athena einen Netflix-Deal, auf den sie mit ihrer früheren Kommilitonin anstoßen will. Dass Athena an diesem ausgelassenen Abend das Zeitliche segnet, ist ein tragischer Unfall. Dass June ein unveröffentlichtes Manuskript von ihr einsteckt, eine Kurzschlussreaktion. Dass sie es lektoriert, weiterentwickelt und schließlich als ihres veröffentlicht, ein Coup – aber wird sie tatsächlich damit durchkommen?

Autorin Rebecca F. Kuang ist ein temporeicher, überraschender und extrem origineller Roman gelungen. „Yellowface“ setzt sich amüsant-intelligent und erstaunlich ergebnisoffen mit Themen wie dem Autorendasein, geistigem Eigentum und kultureller Aneignung auseinander. Die Irrungen und Wendungen haben mich vielfach verblüfft und gefesselt. Kurz vorm Finale driftet der Roman dann etwas ab und wird noch eine ganze Ecke abgedrehter als vorher. Das Ende fand ich allerdings wieder sehr stimmig und der Geschichte würdig. Ein cooles Buch und einer meiner zwei Frühjahrs-Favoriten.

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Veröffentlicht am 11.02.2024

Wohlwollend und empathisch

Good Inside - Das Gute sehen
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Der Grundgedanke von Dr. Becky Kennedys Erziehungsratgeber ist schon im Titel genannt: Unsere Kinder sind „good inside“. Ab und zu mögen sie sich so verhalten, dass wir sie am liebsten auf den Mond schießen ...

Der Grundgedanke von Dr. Becky Kennedys Erziehungsratgeber ist schon im Titel genannt: Unsere Kinder sind „good inside“. Ab und zu mögen sie sich so verhalten, dass wir sie am liebsten auf den Mond schießen würden, trotzig, bockig, „schwierig“ – aber das ändert nichts an dieser grundsätzlichen Tatsache. Ich habe erst überlegt, ob das eine Binsenweisheit ist; vermutlich wird es kaum Eltern geben, die in einer Krisensituation gleich den kompletten Charakter ihres Nachwuchses in Frage stellen. Aber tatsächlich macht es etwas mit einem, wenn man erstmal durchatmet und sich diesen Fakt in Erinnerung ruft. Er führt zu der Verdeutlichung, dass das Kind einen nicht vorrangig auf die Palme bringen will, sondern inneren Nöten folgt – und ist das erstmal erkannt, besteht auch die Chance, diese zu verstehen. Die Autorin geht außerdem wohlwollend davon aus, dass ihre Leser*innen „good inside“ sind – nicht fehlerlos, aber lernwillig. Mir hat das beim Lesen einen gewissen Trost gespendet.
Dr. Kennedy arbeitet mit vielen Fallbeispielen, die ihren Ratgeber lebendig und anschaulich machen. Ich habe mich dennoch etwas schwer damit getan, mehrere Kapitel am Stück zu lesen, aber das mag der Tatsache geschuldet sein, dass ich einfach keine große Ratgeberleserin bin. „Good Inside“ ist auf jeden Fall ein Buch, in dem ich immer mal wieder blättern werde und das viel Inspiration zum achtsamen Umgang innerhalb der Familie bietet.

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Veröffentlicht am 28.04.2023

Beste Spannungs-Unterhaltung

One of the Girls
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Sechs Frauen verbringen vier Tage in einer Strandvilla auf einer griechischen Insel – das könnte ein launiger Sommerroman sein. Lucy Clarkes „One of the girls“ ist allerdings eher in Richtung Thriller ...

Sechs Frauen verbringen vier Tage in einer Strandvilla auf einer griechischen Insel – das könnte ein launiger Sommerroman sein. Lucy Clarkes „One of the girls“ ist allerdings eher in Richtung Thriller anzusiedeln: spannend, unvorhersehbar und voller Plot Twists.

Bella, Fen, Robyn, Eleanor und Ana kennen sich gar nicht alle untereinander, sind jedoch zur Feier des Junggesellinnenabschieds ihrer Freundin Lexi nach Griechenland gereist. Trauzeugin Bella will das perfekte Partywochenende organisieren, doch das gestaltet sich schwieriger als gedacht. Zwar geben sich Lexi zuliebe alle Mühe, doch unter der Oberfläche brodelt es: Gut gehütete Geheimnisse drohen, ans Licht zu kommen, eigene Pläne werden verfolgt. Und dass die Hen Party mit einem Todesfall endet, wird schon auf den ersten Seiten angeteasert. Eine vielversprechende Ausgangsbasis!

Die britische Autorin Lucy Clarke lässt in kurzen Kapiteln alle sechs Protagonistinnen zu Wort kommen, wodurch schnell klar wird, dass Außendarstellung und Gefühlsleben längst nicht immer übereinstimmen. Was sie jedoch voneinander verbergen, bleibt lange im Unklaren und die kursiven Einschübe, die das Wochenende im Rückblick bewerten, ohne etwas zu verraten, tun ihr Übriges. „One of the girls“ ist ein Pageturner, der sich kaum aus der Hand legen lässt. Die Gruppendynamik scheint sich stetig zu verändern und mit jeder Enthüllung rückt die angeteaserte Katastrophe ein Stück näher. Nebenbei geht es um Freundschaft, Versöhnung, Liebe, Rache und Reue. Und dann kam doch vieles ganz anders, als ich vermutet hatte. Ein absolut gelungener Spannungsroman!

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