Aufwühlendes Sinnbild einer hassgetriebenen Digitalgesellschaft
Was wir nicht kommen sahenJede zweite Person schränkt ihre Internetnutzung wegen digitalen Hasses ein. Diese von Katharina Seck im Nachwort von „Was wir nicht kommen sahen“ zitierte Umfrage verarbeitet auf drastische Weise einen ...
Jede zweite Person schränkt ihre Internetnutzung wegen digitalen Hasses ein. Diese von Katharina Seck im Nachwort von „Was wir nicht kommen sahen“ zitierte Umfrage verarbeitet auf drastische Weise einen – im Extremfall tödlichen – Missstand in unserer Gesellschaft in Romanform.
Die 18-jährige Ada bekommt jenen Hass, der sich vor allem gegen junge Frauen richtet, als Streamerin mit voller Härte zu spüren. Bis in den Selbstmord treibt sie eine digitale Hetzkampagne gegen ihre Person. Wie konnte es soweit kommen? Was hat man als Eltern übersehen? Diese Frage treibt Adas Jennys Mutter an, die sich auf Spurensuche begibt – in die tiefsten, unvorstellbaren Abgründe von Twitch, Instagram und Co.
Emotional packend schildert Katharina Seck die Ereignisse aus Adas, Jennys und der Perspektive des anonymen Mobs im Internet. Auf unvergleichbare, erschütternde Weise gelingt es ihr, die Gefühlswelt der Protagonisten und Protagonistinnen offenzulegen. Das ist als Leserin oft nicht leicht zu verkraften und zehrt an den Grenzen der emotionalen Belastbarkeit.
Umso wichtiger ist allerdings der ungeschönte Blick auf die harte Realität und was diese aus jenen macht, die ihr zum Opfer fallen. Noch immer sind es vorrangig (junge) Frauen, auf die sich jene Hetzkampagnen und der digital verbreitete Hass entladen, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Diesen Umstand arbeitet Seck in ihrem Roman wunderbar heraus – bis es wehtut und die Fassungslosigkeit der Wut weicht. Wut auf ein System mit patriarchalen Strukturen, das Täter begünstigt und in dem das „Nein“ aus dem Mund einer Frau wenig wert ist. Wut auf Behörden, Politik und Institutionen, die einem digitalen, rechtsfreien Raum, in dem Hass und Diskriminierung ungezügelt gedeihen und sich verbreiten können, weiter nichts an Regulatorien entgegensetzen. Gerade jene Wut kann und sollte der Anstoß für Initiativen und erste, wenn auch kleine Schritte zur Veränderung sein, die es so dringend braucht.
Gerade die Authentizität der Figuren, die sich in „Was wir nicht kommen sahen“, in all ihrer Verletzlichkeit präsentieren, macht es leicht, mitzufühlen und in ihrem Sinne auf eine Veränderung zu hoffen und für eine solche aufzustehen. In unser aller Sinn.
Fazit:
Seck ist mit „Was wir nicht kommen sahen“ ein kleines Meisterwerk gelungen, das die Gefahren der sozialen Medien und einer gespaltenen, auf Wut und Hass programmierten Gesellschaft eindringlich, hochemotional und ohne Umschweife zeigt. Eine Pflichtlektüre für alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten. Jugendliche, Eltern, Lehrer und – vor allem – politische Entscheidungsträger, die an den Hebeln der gesetzlichen Veränderung sitzen.