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Veröffentlicht am 25.06.2024

Trauer und Wut und ganz viel Meer

Windstärke 17
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„𝘜𝘯𝘥 𝘪𝘤𝘩 𝘩𝘢𝘣𝘦 𝘯𝘶𝘳 𝘥𝘪𝘦𝘴𝘦𝘯 𝘞𝘶𝘵𝘬𝘭𝘶𝘮𝘱𝘦𝘯 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘪𝘦 𝘚𝘤𝘩𝘢𝘮 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘪𝘦 𝘵𝘰𝘵𝘦 𝘔𝘶𝘵𝘵𝘦𝘳 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘦𝘯 𝘨𝘢𝘯𝘻𝘦𝘯 𝘚𝘤𝘩𝘦𝘪ß, 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘢𝘴 𝘪𝘴𝘵 𝘴𝘰 𝘶𝘯𝘧𝘢𝘪𝘳, 𝘥𝘢𝘴𝘴 𝘪𝘤𝘩 𝘮𝘪𝘳 𝘥𝘦𝘯 𝘞𝘶𝘵𝘬𝘭𝘶𝘮𝘱𝘦𝘯 𝘢𝘮 𝘭𝘪𝘦𝘣𝘴𝘵𝘦𝘯 𝘢𝘶𝘴 𝘥𝘦𝘮 𝘉𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘳𝘢𝘶𝘴𝘴𝘤𝘩𝘯𝘦𝘪𝘥𝘦𝘯 𝘸𝘶̈𝘳𝘥𝘦. 𝘜𝘯𝘥 𝘪𝘤𝘩 𝘧𝘳𝘢𝘨𝘦 ...

„𝘜𝘯𝘥 𝘪𝘤𝘩 𝘩𝘢𝘣𝘦 𝘯𝘶𝘳 𝘥𝘪𝘦𝘴𝘦𝘯 𝘞𝘶𝘵𝘬𝘭𝘶𝘮𝘱𝘦𝘯 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘪𝘦 𝘚𝘤𝘩𝘢𝘮 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘪𝘦 𝘵𝘰𝘵𝘦 𝘔𝘶𝘵𝘵𝘦𝘳 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘦𝘯 𝘨𝘢𝘯𝘻𝘦𝘯 𝘚𝘤𝘩𝘦𝘪ß, 𝘶𝘯𝘥 𝘥𝘢𝘴 𝘪𝘴𝘵 𝘴𝘰 𝘶𝘯𝘧𝘢𝘪𝘳, 𝘥𝘢𝘴𝘴 𝘪𝘤𝘩 𝘮𝘪𝘳 𝘥𝘦𝘯 𝘞𝘶𝘵𝘬𝘭𝘶𝘮𝘱𝘦𝘯 𝘢𝘮 𝘭𝘪𝘦𝘣𝘴𝘵𝘦𝘯 𝘢𝘶𝘴 𝘥𝘦𝘮 𝘉𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘳𝘢𝘶𝘴𝘴𝘤𝘩𝘯𝘦𝘪𝘥𝘦𝘯 𝘸𝘶̈𝘳𝘥𝘦. 𝘜𝘯𝘥 𝘪𝘤𝘩 𝘧𝘳𝘢𝘨𝘦 𝘮𝘪𝘤𝘩, 𝘸𝘪𝘦 𝘭𝘢𝘯𝘨𝘦 𝘮𝘢𝘯 𝘮𝘪𝘵 𝘴𝘰 𝘦𝘪𝘯𝘦𝘮 𝘞𝘶𝘵𝘬𝘭𝘶𝘮𝘱𝘦𝘯 𝘪𝘮 𝘉𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘶̈𝘣𝘦𝘳𝘩𝘢𝘶𝘱𝘵 𝘶̈𝘣𝘦𝘳𝘭𝘦𝘣𝘦𝘯 𝘬𝘢𝘯𝘯.“ - 𝘚.128

Idas alkoholkranke Mutter ist gerade gestorben und ihre Welt steht Kopf. Zwischen Trauer, Wut und Schuldgefühlen versucht sie irgendwie weiter zu funktionieren, kommt aber irgendwann an den Punkt, wo nichts mehr geht. Sie kündigt die Wohung und entscheidet sich auf dem Weg nach Hamburg zu ihrer Schwester Tilda, kurzerhand einfach im Zug sitzen zu bleiben. Ohne Geld und nur mit einem kaputten Koffer landet sie letztendlich auf Rügen wo sie auf ziemlich selbstzerstörerische Art ihren Körper an sein Limit bringt. Nach einem Zusammenbruch wird sie von … , einem netten älteren Ehepaar, aufgenommen und kommt langsam wieder zur Ruhe. Auch die Freundschaft mit Laif trägt dazu bei. Die nächste Krise steht allerdings schon vor der Tür.
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Mit Ida als Protagonistin treffe ich auf eine alte Bekannte. Damals noch ein kleines Mädchen, ist aus ihr mittlerweile eine junge Erwachsene geworden. Eine Erwachsene mit wahnsinnig viel Wut…
Caroline Wahl beschreibt nicht einfach nur den Trauerprozess der mit dem Tod eines nahen Angehörigen einhergeht, sondern schafft es auch sehr gut den ambivalenten Gegühlen Idas bezüglich ihrer Mutter Ausdruck zu verleihen. …
Durch die jahrelange Co-Abhängigkeit und das damit einhergehende starke Bedürfnis Verantwortung für eine Person zu übernehmen, die eigentlich in der Lage sein müsste, sich um sich selbst zu kümmern bzw. durch die Umkehr der Verantwortung, ist Ida sehr gespalten. Sie möchte die Mutter vermissen, sie möchte sie lieben, aber andererseits ist sie enttäuscht, wütend (auf alle, aber vorallem auf sich selbst), hilflos. Sie hat nie gelernt mit diesen Gefühlen umzugehen und richtet die Wut gegen sich selbst.
Das was mir bei „22 Bahnen“ an emotionaler Tiefe gefehlt hat, holt Wahl mit der Fortsetzung definitiv auf. Ansonsten bleibt sie ihrem Stil treu und vor allem die immer wiederkehrende Zwiesprache der Protagonistin mit sich selbst, hat mir wahnsinnig gut gefallen.
„Windstärke 17“ ist ein wunderbarer Roman voll vom großen Emotionen, der eindrücklich zeigt, welche Auswirkung Traumata haben kann und wie schwer es ist auch für sich selbst Verantwortung zu übernehmen.
Ich kann hier eine riesengroße Empfehlung aussprechen und hoffe das noch viele weitere Bücher der Autorin folgen werden.

Veröffentlicht am 25.06.2024

Männerlose Gesellschaft

Die Schattenmacherin
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„Wir wollten Menschen sein. Keine Frauen.“ (S.183)

Dies wäre ein perfekter letzter Satz gewesen… sagt er doch soviel auf einmal, brüllt einem die Missstände förmlich ins Gesicht, erklärt, prangert an ...

„Wir wollten Menschen sein. Keine Frauen.“ (S.183)

Dies wäre ein perfekter letzter Satz gewesen… sagt er doch soviel auf einmal, brüllt einem die Missstände förmlich ins Gesicht, erklärt, prangert an und lässt doch wahnsinnig viel Interpretationsspielraum.

Aber beginnen wir am Anfang:
Es ist das Jahr 2068, die Menschheit ist knapp an ihrer Auslöschung vorbeigeschrammt, die Überlebenden sind ausschließlich weiblich.
Jahrzehnte zuvor hat erst die Klimakrise und später eine Seuche, die nur Männer befallen hat, für eine starke Minimierung gesorgt. Seitdem erfolgt die Fortpflanzung nur noch per Reagenzglas, die Bevölkerung zählt derzeit 283469 Personen.
Das Zusammenleben ist von starren Regeln begleitet („Wir machen die Regeln, wir halten uns an die Regeln, wir kennen die Konsequenzen. Und manchmal zerbrechen wir daran.“ (S.125)) und wird durch eine Führungselite kontrolliert. Dieser Elite steht Ruth vor, welche allerdings in einem Alter ist, in dem es Zeit wird, ihre Aufgabe abzugeben. Als Nachfolgerin wurde die junge Ania, welche männliche Personen nur aus Erzählungen kennt, gewählt und soll nun auf ihren Posten vorbereitet werden. Kein leichtes Unterfangen, da die beiden Frauen ein gänzlich unterschiedliches Wahrnehmen bezüglich der Welt, wie sie jetzt ist und wie sie vielleicht werden könnte, haben. Anias Bestreben die männlichen Personen zurück zu bringen, stößt bei Ruth auf taube Ohren und bringt sie letztendlich sogar in Lebensgefahr.
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Eine Welt ohne Männer… Utopie oder Dystopie? Dies lässt sich nur sehr individuell beantworten.
Im Mittelpunkt von „Die Schattenmacherin“ steht aber in meinen Augen die Frage: „Wäre die Welt eine bessere, wenn es keine Männer mehr gäbe?“ und die Antwort lautet in diesem Fall ganz klar Nein. Es geht nicht darum, ob eine rein weibliche Welt existieren könnte, denn daran habe ich keinen Zweifel, sondern viel eher darum ob Machtmissbrauch, Gewalt und Unterdrückung ein rein männliches Problem ist.
Die beschriebene Gesellschaft wirkt auf den ersten Blick sehr friedlich, achtet aufeinander und die Natur, bedingt aber auch sich unterzuordnen, nicht zu hinterfragen, sondern zu gehorchen. Individualität scheint nicht gewünscht, viel eher geht es um ein Funktionieren.
Dass das patriarchale System problembehaftet ist, steht nicht zur Diskussion und Gollackner schafft es sehr klar und nachvollziehbar darzulegen, warum vor allem die älteren Frauen nicht mal in Erwägung ziehen, dass man versuchen sollte wieder männliche Nachfahren zu gebären. Immer wieder wird das „Davor“ eingestreut… Misogynie, körperliche und sexuelle Gewalt, Ausbeutung sind Themen, die in der ganzen Überlegung nicht außen vor gelassen werden können. Zugleich wird aber auch die Fragestellung in den Raum geworfen, in wieweit bestimmte (männliche) Eigenschaften angeboren oder anerzogen sind.
„Wer wir sind, ist ein soziales Konstrukt, geformt und gefestigt von den Beziehungen, die wir eingehen.“ (S.76) oder halt von der Sozialisierung derer wir ausgesetzt sind.
Aber nicht nur das. Auch eine gewisse Notwendigkit oder einfach nur die Gelegenheit, kann dazu führen, dass man sich über andere erhebt.
„Um die Menschheit vorwärtszubringen, braucht es immer Opfer, und ja, es wird immer mit hohen moralischen Ansprüchen argumentiert, doch in Wirklichkeit ist es brutaler, nackter Verteilungskampf, und niemand kommt da ohne Blut an den Händen lebend raus.“ (S.181) -> Diese, von Ruth getätigte Aussage, führt gut vor Augen, dass das Problem ein ganz anderes ist und zwar die Entscheidungsgewalt in den Händen einer einzelnen Person, die durch die Entscheidungsbefugnisse, die sie sich genommen hat, wiederum zu Machtmissbrauch, wenn auch unter dem Deckmantel zum Wohle der Gemeinschaft zu handeln, neigt.
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Die Idee der männerlosen Gesellschaft, die Lilly Gollackner hier aufgreift, ist keinesfalls neu, sie schafft es aber auf gerade mal 192 Seiten soviel Komplexität einzubauen, dass ich mit vielschichtigen Fragen und einer gewissen Unentschlossenheit zurück bleibe. Ihr mitreißender Stil, ein konstanter Spannungsbogen und ein Plottwist sorgen ein für in tolles Leseerlebnis und eine Leseempfehlung meinerseits.

Veröffentlicht am 25.06.2024

Wenn nur das Wünschen bleibt

Wünschen
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»Ich muss oft daran denken, wie viel Liebe verloren geht, während schwule Kinder groß werden. Man beraubt uns der Möglichkeit, die Unschuld jugendlicher Verliebtheit zu erleben, weil man die ganze Zeit ...

»Ich muss oft daran denken, wie viel Liebe verloren geht, während schwule Kinder groß werden. Man beraubt uns der Möglichkeit, die Unschuld jugendlicher Verliebtheit zu erleben, weil man die ganze Zeit Angst hat und mit dem Stress beschäftigt ist, die Fassade aufrechtzuerhalten.« (S.272)

Obiefuna wächst im konservativen Nigeria der Neuzeit auf. Von klein an ist er anders, interessiert sich nicht wie die anderen Jungen für Fußball und Machtkämpfe, sondern tanzt lieber und entdeckt früh, dass er sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt. Er pflegt ein inniges Verhältnis zu seiner Mutter, welches ein jähes Ende findet, als der Vater ihn mit einem anderen Jungen erwischt. Er schickt ihn auf ein christliches Internat, wo „er wieder zu sich finden soll“.
Zwischen Religion und seinem Begehren fühlt sich Obiefuna hin und her gerissen, versucht sich anzupassen, tritt nicht für sich ein.
Während des Studiums scheint er sich endlich so zu akzeptieren, wie er ist. Während jedoch in Amerika die gleichgeschlechtliche Ehe erlaubt wird, stellt die nigerianische Regierung Homosexualität unter Strafe und sein Weltbild wird erneut in Frage gestellt.
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Chukwuebuka Ibeh ist ein tiefgründiges, detailiertes Portrait eines jungen Mannes gelungen, der auf der Suche nach Zugehörigkeit und Identität ist. Die innere Zerissenheit des Protagonisten Obienfuna ist quasi greifbar. Lange versucht er sich anzupassen, sich zu verleugnen und im Glauben Hilfe zu finden.
Seine Jugend ist geprägt von gegensätzlichen Erkenntnissen und Gewalt. Während er auf der einen Seite Erfahrungen mit anderen Jungen sammelt, wird ihm aus dem Elternhaus, dem Internat und auch aus dem Freundes- und Bekanntenkreis immer wieder suggeriert, dass sein Begehren falsch ist… dass er falsch ist. Die Unbeschwertheit, die das Erwachen seiner Sexualität mit sich bringt, wird ihm verwehrt. Er gibt vor jemand anderes zu sein, beteiligt sich sogar an „Vergeltungsaktionen“ gegenüber anderen homosexuellen jungen Männern, nur um nicht aufzufallen. Er lebt in der permanenten Angst „enttarnt“ zu werden.
Auch in späteren Jahren wird klar, dass es nicht leicht ist er selbst zu sein, vor allem unter dem Aspekt der gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten.
Für mich war es sehr erdrückend zu lesen, wie vor allem der Vater hier reagiert. Er versucht nicht mal auf seinen Sohn einzugehen, mit ihm zu sprechen und vielleicht ein bisschen zu verstehen, sondern akzeptiert nur seine vorgefertigte Meinung. Ab es aus Angst vor der Reaktion anderer ist oder wirklich seinen konservativen Einstellungen entspringt, lässt sich schwer sagen, ist aber auch absolut irrelevant. Anstatt sein Kind so zu akzeptieren, wie es ist, schickt er es weg… Die Mutter hingegen nimmt hier den Gegenpart ein, ist verständnisvoll und urteilt nicht, leider ist es Obienfuna selbst, der hier für die Entfremdung sorgt, weil er annimmt, dass sie die Meinung des Vaters teilt.
Ich denke der Roman ist ein gutes Abbild dessen, was es mit einem Kind macht, wenn es sich nicht akzeptiert fühlt, wie stark Selbstzweifel ausgebildet werden, wie einsam es sich fühlt und welche Auswirkungen dies auch auf das spätere Leben hat. Ibeh hat dies wahnsinnig einfühlsam beschrieben und ich kann euch dieses Debüt nur allen ans Herz legen.

Veröffentlicht am 25.06.2024

Spannender Roman nach wahren Begebenheiten

Wir waren nur Mädchen
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Hannie Schaft ist als „das Mädchen mit den roten Haaren“ in die Geschichte eingegangen.
Sie war Jurastudentin in Amsterdam, bis das Vorrücken der Nazionalsozialisten sie zur Flucht zwingt. Sie versteckt ...

Hannie Schaft ist als „das Mädchen mit den roten Haaren“ in die Geschichte eingegangen.
Sie war Jurastudentin in Amsterdam, bis das Vorrücken der Nazionalsozialisten sie zur Flucht zwingt. Sie versteckt ihre zwei jüdischen Freundinnen bei ihren Eltern in Haarlem und tritt dem Widerstand bei. Als eine der wenigen Frauen im bewaffneten Widerstand tötet sie hochrangige Nazis und Anhänger der Nationalsozialisten in den Niederlanden.
Nachdem ihr Freund und Mitkämpfer Jan Bonekamp im Todeskampf ihren Namen preisgibt und kurz darauf ihre Eltern verhaftet werden, ist sie gezwungen unterzutauchen. Ihre Wut und der Hungerwinter lassen sie unvorsichtig werden, was letztendlich zu ihrer Verhaftung führt.
Im Alter von 24 Jahren wird sie nach wochenlangen Verhören und Folter, in denen sie nichts preisgibt, kurz vor Ende der Belagerung, hingerichtet.
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Buzzy Jacksons Roman „Wir waren nur Mädchen“ basiert auf dem Leben der realen Hannie Schaft. Ihre Informationen zieht sie dabei aus Zeitzeugenberichten, Zeitungsartikeln und überlieferten Dokumenten und macht daraus eine spannende und bedrückende Erzählung.
Sehr eindrücklich fängt sie die Zeit des 2. Weltkrieges ein, erzählt von Tyrannei, Unterdrückung, Verfolgung, Deportation, von Hunger, Kälte und Mangel am Nötigsten. Sie erzählt von Resignation, dem Nicht-wahrhaben-wollen, der Überzeugung, dass alles gut wird und am Ende von der Fügung in die Einzelschiksale. Die Angst ist allgegenwärtig und spürbar.
Und dann ist da der Widerstand, eine Gruppe von Personen, die kämpfen, die sich widersetzen, die versuchen die Strukturen zu unterlaufen oder zumindest zu hemmen. Es sind Menschen, die aus tiefster Überzeugung handeln, die sich ihre Freiheit nicht nehmen lassen wollen, die versuchen dafür zu sorgen, dass sich alles zum besseren wendet. Die für Gerechtigkeit und Menschlichkeit einstehen, ungeachtet der persönlichen Konsequenzen. Sie tun viel Gutes und ich will nicht wissen, wie es geendet wäre, wenn es diese Menschen nicht gegeben hätte, aber sie töten auch… so sehr ich sonst mit dem Widerstand sympathisiere, ihren Mut und die Uneigennützigkeit bewundere, so sehr hinterfrage ich dieses Handeln. Immer wieder stellt sich mir die Frage: Wie weit darf man im Namen der Gerechtigkeit gehen und ist es menschlich und gerecht, Menschen zu töten (auch wenn sie die Bösen sind) um andere zu schützen? Inwieweit ist es gerechtfertigt auf Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren? Es lässt mich zwiegespalten zurück…
Fakt ist, es obliegt mir nicht im Rahmen der Rezension darüber zu urteilen, ob dies hätte sein müssen in der Erzählung, den es gehört dazu, es ist eine Tatsache, dass es so war und sollte demnach auch erzählt werden.
Um zurück zum Buch zu kommen: Jackson schafft es mich zu fesseln, sie erzählt Hannies Geschichte auf mitfühlende, eindringliche Art, lässt mich als Lesende die Gefühle von Hannie zumindest ansatzweise durchleben. Lässt mich bis zum Schluss hoffen, obwohl ich weiß wie es ausgeht. Es ist die Geschichte einer wahnsinnig mutigen Frau, die ihre Freunde und Familie schützen und verteidigen will und sich ihre Weiblichkeit zu Nutze macht, um ganz nah an die Männer heran zu kommen, die sie ausschalten will. Bis zum Schluss steht sie hinter ihrer Entscheidung, wiederseht sich und nimmt für ihre Sache sogar den Tod in Kauf.
Es ist ein Buch, dass einmal mehr klar macht, dass es so nie wieder werden darf, dass die schleichenden Prozesse aufzeigt, bis zu dem Zeitpunkt, wo es zu spät ist. Das untermauert, wie wichtig Widerstand ist und das zur richtigen Zeit kommt um zu mahnen und daran zu erinnern, dass es nie der richtige Weg ist Missstände hinzunehmen und abzuwarten.
Große Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 25.06.2024

Intensive Leseerfahrung

Eine Frau
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Der Roman „Una Donna“ (dtsch. Eine Frau) der italienischen Schriftstellerin Sibilla Aleramo erschien erstmalig 1906 und wurde nun vom Eisele Verlag neu verlegt.
Es ist eine Biographie der jungen Jahre ...

Der Roman „Una Donna“ (dtsch. Eine Frau) der italienischen Schriftstellerin Sibilla Aleramo erschien erstmalig 1906 und wurde nun vom Eisele Verlag neu verlegt.
Es ist eine Biographie der jungen Jahre der Autorin, welche schockiert, aber auch Mut macht:
Sibilla Aleramo, damals noch Marta Felicina Faccio, wird in Italien geboren und wächst die ersten Jahre relativ frei in Mailand auf. Ihr Verhältnis zum Vater ist sehr gut, er fördert ihren Intellekt. Das Verhältnis zur Mutter ist zeitlebens ambivalent. Zum einen verachtet sie sie für ihre Hilflosig- und Abhängigkeit, zum anderen überfällt sie ein starkes Verantwortungsgefühl ihr gegenüber.
Als sie 12 Jahre alt ist, nimmt der Vater eine Stelle als Geschäftsführer einer Glasfabrik in einem kleinem Dorf an. Die ganze Familie muss umziehen, ihre Schulbildung ist damit beendet, die Verfassung der Mutter nimmt rapide ab, der Vater selbst wird immer unzufriedener und unberechenbarer. Sie arbeitet als Buchhalterin in der Firma, die ihr Vater leitet, lernt dort einen jungen Mann kennen, der sie später vergewaltigt und der noch später ihr Ehemann werden wird.
Ihre romantische Vorstellung von Liebe wirft sie schnell über den Haufen und fügt sich ihrem Schicksal (was bleibt ihr auch anderes übrig). Erst mit der Geburt ihres Sohnes, lernt sie was bedingungslose Liebe bedeutet.
Die Ehe ist geprägt von Erniedrigung, sexuellen Übergriffen und Gewalt. Ihr Mann ist krankhaft eifersüchtig und es gibt lange Phasen in denen sie nicht mal das Haus verlassen darf und eingeschlossen wird in einem Zimmer. Nicht selten erlebt sie starke depressive Episoden, unternimmt trotz der starken Liebe zu ihrem Sohn im Alter von 20 Jahren einen Suizidversuch.
Immer wieder versucht sie ihren Mann zur Trennung zu überreden und verlässt ihn und den gemeinsamen Sohn 8 Jahre darauf endgültig.
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Um zu verstehen wie viel Kraft und Mut in diesem Entschluss steckt, muss man sich die Stellung der Frau in der damaligen Zeit vor Augen führen. Ohne Mann war sie mittellos, hatte keinen Anspruch auf ihr Kind. Frauen hatten damals keinerlei Rechte und waren eigentlich gezwungen in solchen Ehen auszuharren. Vor allem die Entscheidung ihren Sohn zu verlassen, muss ihr wahnsinnig schwer gefallen sein und zeigt ihre Verzweiflung, aber auch ihre Erwartung an ein selbstbestimmtes Leben. Sie zählt nicht umsonst als eine der Wegbereiterinnen des Feminismus in Italien.
Aleramo erzählt ihre Geschichte, aber es ist nicht nur ihre. Sie erzählt sie stellvertretend für so viele junge Frauen, die sich in gleichen oder ähnlicher Situation befanden und klagt damit auch das ganze patriarchale System an.
Erschreckend ist, dass das Buch so zeitlos ist… Es wurde vor über 100 Jahren geschrieben und hat an Aktualität nicht verloren. Sicher ist gerade bei uns einiges passiert, wenn wir über die Rechte von Frauen sprechen, aber es gibt so wahnsinnig viele Frauen, die in genau solchen Konstrukten nach wie vor gefangen sind, sei es aus politischen Vorgaben oder gesellschaftlichen Anforderungen heraus, die kein selbstbestimmtes, sicheres, gewaltfreies Leben führen können oder dürfen. Und selbst viele derer, die ausbrechen könnten, tun es nicht, weil ihre Sozialisation und die inneren Mauern, die Generatioen davor aufgebaut wurden, es einfach nicht zulassen.
Sibilla Aleramo hat mit diesem Werk ein sehr intensives und persönliches Buch geschrieben, welches die Lebensrealität einer Frau sichtbar macht und aufzeigt, dass der Weg zu Gleichberechtigung noch lange nicht zu Ende ist.
Von mir gibts eine große Leseempfehlung.