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Veröffentlicht am 02.07.2024

Porträt eines schwierigen Erwachsenwerdens

Geschichte der Unordnung
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Ein Grundstück im Wald, eine geborgene Kindheit, verständnisvolle Eltern, die fördern anstatt zu fordern… Insgesamt sehr gute Voraussetzungen für ein glückliches, gesundes Aufwachsen.
Doch dann stirbt ...

Ein Grundstück im Wald, eine geborgene Kindheit, verständnisvolle Eltern, die fördern anstatt zu fordern… Insgesamt sehr gute Voraussetzungen für ein glückliches, gesundes Aufwachsen.
Doch dann stirbt der Vater bei einem Unfall und alles ändert sich. Die Mutter versinkt in einer tiefen Depression, das Kind ist auf sich allein gestellt, sucht Liebe und Zuneigung, findet jedoch nur Einsamkeit.
Auch der spätere Erwachsene kommt von diesem Verlust bzw. den Folgen, die dieser hinterlassen hat nicht los, verliert sich in Alkohol, Drogen und falschen Freunden, sucht nach Anerkennung und gerät schlussendlich in den Strudel einer ausgewachsenen Panikstörung.
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„Was bedeutet Verlust einer Bezugsperson in früher Kindheit? Welche Auswirkungen hat es auf das spätere Leben? Wie kann man einen Umgang damit erlernen, wenn man keine Vorbilder hat und nicht darüber gesprochen wird?“ Diesen und anderen Fragen geht Simon Elson in „Geschichte der Unordnung“ auf den Grund.
Der Titel ist hier sehr treffend, denn genau das ist es. Es ist eine Erfahrung, die ein geordnetes Leben aus der Bahn werfen kann. Die für Chaos sorgt, welches anhält, weil keine Möglichkeit zum Wiedererlangen der Ordnung da ist. Und die das gesamte Leben beeinflusst. Die Geschichte zeigt, was es bedeuten kann ein Leben zu führen, wenn im Inneren Unordnung herrscht.
Sehr ehrlich und reflektiert beschreibt Elson sein Erleben, hinterfragt Dinge, zieht Schlüsse. Aus der Erzählung geht klar hervor, dass er sein Leben lang nur eins wollte: gesehen werden und das um jeden Preis. Er schafft es tiefes Mitgefühl für den kleinen Jungen, der er irgendwie noch immer zu seien scheint, zu erzeugen, auch wenn viele seiner Handlungen unüberlegt und selbstzerstörerisch sind. Ebenso lässt er Verständnis für die Mutter entstehen, was ich bemerkenswert finde, denn trotz der absolut falschen Umgangsweise mit dem ganzen Thema und in diesem Zusammenhang auch mit dem Kind, wird klar, dass sie einfach nicht anders konnte.
Elsons Roman ist ein sehr gelungenes Porträt und eine vielschichtige Betrachtung von Tod, Trauer, Verlust und Trauma.
Von mir gibts definitiv eine Leseempfehlung, seid aber achtsam, wenn ihr euch die Themen oder die Beschreibung einer Panikattacke triggert.

Veröffentlicht am 27.06.2024

Vielschichtige Betrachtung einer Dorfgemeinschaft

Hinter verschlossenen Türen
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„Le Case bringt dich zur Welt, und dann vernichtet es dich.“ - S.298

Le Case ist ein kleines Bergdorf in Italien. Die Zeit scheint still zu stehen, die Bewohner sind alle etwas eigenbrödlerisch. Es wäre ...

„Le Case bringt dich zur Welt, und dann vernichtet es dich.“ - S.298

Le Case ist ein kleines Bergdorf in Italien. Die Zeit scheint still zu stehen, die Bewohner sind alle etwas eigenbrödlerisch. Es wäre ganz idyllisch, würde nicht eine Mischung aus Neid, Missgunst und Intrigen die Stimmung im Dorf überschatten.

Sehr viel mehr als dies kann ich als Zusammenfassung gar nicht bieten, da Naspini die Geschichte aus so vielen Perspektiven und Zeitebenen beschreibt, dass es mir schwerfällt eine Haupthandlung zu bestimmen und ohne Spoiler wiederzugeben. Ich hab daher im 3. Slide mal den Klappentext angehangen, auch wenn ich der Meinung bin, dass er nicht mal ansatzweise eine Übersicht gibt.
Es ist vielmehr so, dass der Autor ein sehr komplexes Bild zwischenmenschlicher Beziehungen zeichnet, dass es anfangs erstmal zu entwirren gilt. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich zurecht gefunden habe und wusste in welcher Zeit und bei welchen Personen ich mich gerade befinde.
Gerade die multiperspektivische Gestaltung macht aber am Ende auch den Reiz aus und ich finde es super gut gelungen, wie sich die Einzelerzählungen nach und nach zu einem Ganzen zusammenfügen. Ich stell mir auch den Schreibprozess dazu überaus schwierig vor und kann davor nur den Hut ziehen. Das der Roman hier und da seine Längen hat, ist denk ich nicht verwunderlich, wenn man versucht ein so umfassendes Bild zu erschaffen.
Naspini bildet nicht nur Einzelschicksale ab, sondern erschafft eine Betrachtung der Gesellschaft als solche. Hier komme ich auch zu dem Punkt an dem ich ehrlich gesagt zwiegespalten bin. Der Roman enthält rassistische, ableistische, frauen- und queerfeindliche Äußerungen und da bin ich nunmal gar kein Fan von. Mir ist schon klar, dass es Menschen gibt, die so denken und ich bin mir auch bewusst, dass eine umfassende Abbildung von Gesellschaftsstrukturen diese nicht einfach auslassen können, dennoch finde ich es schwierig und hätte mir hier eine Stellungnahme des Autors gewünscht. Auch die Übersetzerinnen hatten ihren Struggel damit, was im Nachwort klar wird. Sie haben sich bewusst dafür entschieden die Äußerungen zu übersetzen (wenn auch in abgeschwächter Version) um das Gesamtbild zu erhalten.
Alles in allem ein sehr guter Roman, der vor allem durch seinen Aufbau und Naspinis Schreibstil besticht und dessen Ende ich fantastisch fand, da es alles nochmal über den Haufen wirft.
Ein Blick hinter verschlossene Türen, der sich auf jeden Fall lohnt.

Veröffentlicht am 27.06.2024

Feministische Dystopie

Das Verschwinden
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Es ist der 26. August, 19:14 Uhr (pazifischer Standardzeit) als weltweit alle Personen mit einem Y-Chromosom einfach verschwinden. Während die einen ihre Freiheit feiern, das Ende des Patriarchats willkommen ...

Es ist der 26. August, 19:14 Uhr (pazifischer Standardzeit) als weltweit alle Personen mit einem Y-Chromosom einfach verschwinden. Während die einen ihre Freiheit feiern, das Ende des Patriarchats willkommen heißen, trauern die anderen um ihre Männer und männlichen Kinder.
Kurze Zeit später tauchen Video-Streams auf, die die Verschwundenen zeigen, völlig apathisch in einem trostlosen, dystopischen Umfeld. Die einen sagen es ist Fake, die anderen halten es für echt und suchen nach einem Weg, die Menschen zurück zu holen.
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Sandra Newman erschafft in „Das Verschwinden“ gleich zwei dystopische Welten getrennt nach dem chromosomalen Geschlecht. Während Personen mit XY-Chromosomen eindeutig in einem Horrorszenario dargestellt werden, erleben die Personen mit XX-Chromosomen die Geschehnisse wesentlich differenzierter. Es kommt zum Zusammenbruch wichtiger Industrie- und Infrastrukturbereiche, was man durchaus als Gesellschaftskritik hinsichtlich der Frauenquote in männlich dominierten Berufszweigen lesen kann. Überdies kommt es zu Machtkämpfen, den Kampf um Ressourcen… Es gibt aber auch eine Verbesserung der Lebensqualität. Weibliche Kinder können unbehelligt auf den Straßen spielen, wachsen sehr viel freier auf, Erwachsene haben keine Bedenken nachts durch die Gegend zu laufen.
Sehr gut dargestellt fand ich die gegensätzlichen Wahrnehmungen. Vor allem die Trauer von vielen Betroffenen wird gut rüber gebracht und zeigt, dass nicht alles Gold ist was glänzt.
Newman erzählt die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Da wäre unter anderem die verurteilte Sexualstraftäterin, die Alkoholikerin, die Polizistenmörderin, eine, wie ich finde, durchaus interessante Auswahl an Protagonistinnen. Neben dem Blick auf die aktuellen Geschehnisse, wird den Lesenden auch immer wieder Einblick in die Vergangenheit der Handelnden gewährt und ich fand diese Einblicke, diese Geschichten in der Geschichte, sehr spannend und wertvoll im Gesamtkontext.
Sprachlich hat mich der mich voll überzeugt, auch inhaltlich fand ich ihn, durch die Vielfalt an intersektionalen feministischen Themen, interessant.
Das Ende hat mir mal wieder nicht so zugesagt bzw. weiß ich noch nicht so genau, was ich davon halte. Es kam zu abrupt, war zu undurchsichtig und würde ich damit nicht spoilern, liese mich zu allerhand Spekulationen hinreißen.
Alles in allem eine große Empfehlung für Freund*innen der fiktionalen, dystopischen, feministischen Literatur.

Veröffentlicht am 27.06.2024

Toller Familienroman mit viel Tiefe

Black Cake
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Nach jahrelanger Funkstille treffen die Geschwister Benny und Byron bei der Beerdigung ihrer Mutter wieder aufeinander. Neben der Trauer hat die Mutter einen traditionellen Black Cake, den sie sich teilen ...

Nach jahrelanger Funkstille treffen die Geschwister Benny und Byron bei der Beerdigung ihrer Mutter wieder aufeinander. Neben der Trauer hat die Mutter einen traditionellen Black Cake, den sie sich teilen sollen, wenn die Zeit dafür gekommen ist, sowie eine Tonbandaufnahme, die ihre Familiengeschichte aufrollt und die bisher gelebte Realität auf den Kopf stellt, hinterlassen.
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Mit „Black Cake“ ist Wilkerson ein tiefgreifendes Familienporträt einer amerikanischen Einwandererfamilie gelungen. Neben innerfamiliären Problematiken (Umgang der Eltern mit Bennys Bisexualität, Nichterfüllen der elterlichen Erwartungen im Bezug auf die berufliche Entwicklung) werden Rassimus (Byrons Übergehen bei Beförderungen, Polizeikontrollen), Diskriminierung , Umweltschutz und Frauenrechte thematisiert.
Auch der Blick in die Vergangenheit zeigt Missstände auf. Angefangen bei der Rolle asiatischer Einwanderer karibischer Inseln, über Zwangsheirat, bis hin zu strukturellem Rassismus gegenüber Arbeitskräften auf den britischen Inseln und der damals gängigen Praxis von Zwangsadoptionen bei ledigen Müttern.
Es wird ein unglaublich weit gefächertes Themenspektrum aufgemacht, was aber zu keiner Zeit überladen wirkt.
Zudem erzählt Wilkerson die Geschichte aus vielfältigen Blickwinkeln, u.a. die der Kinder, des Anwalts, der besten Freundin, des Großvaters, der Adoptiveltern, und erschafft so eine komplexe Wahrnehmung der Geschichte. Durch die zeitliche Abgrenzung in damals und jetzt ist es zu jeder Zeit möglich dem Geschriebenen zu folgen.
Im Fazit ein gelungener Roman mit Tiefgang, der nicht nur wichtige Problematiken aufgreift, sondern auch die Frage hinterlässt, was wir über unsere Familiengeschichte alles wissen.
Große Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 25.06.2024

Tiefe Einblicke in die Geschichte von Simbabwe

Haus aus Stein
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Zamani wächst ohne weitere familiäre Bindung bei seinem Onkel auf. Die Mutter ist während Gukurahundi getötet wurden, zum Vater besteht kein Kontakt. Als der Onkel stirbt, zieht Zamani zur Untermiete bei ...

Zamani wächst ohne weitere familiäre Bindung bei seinem Onkel auf. Die Mutter ist während Gukurahundi getötet wurden, zum Vater besteht kein Kontakt. Als der Onkel stirbt, zieht Zamani zur Untermiete bei Familie Mlambo ein, freundet sich mit deren Sohn an und wird bald als Familienmitglied gesehen.
Bukhosi, der Sohn der Familie, schließtsich, wie auch Zamani der Mthwakazi-Bewegung an und verschwindet auf einer Kundgebung spurlos. Anstatt den Eltern die Wahrheit zu erzählen, sieht Zamani die Chance endlich eine richtige Familie zu haben und tut alles um als Ersatzsohn anerkannt zu werden. Unter dem Deckmantel der Hilfe bei der Suche nach dem verschwundenen Sohn, drängt sich Zamani immer mehr auf, nährt den Alkoholismus seines „Ersatzvaters“ Abednego, um sich die Familiengeschichte zu erschließen, und nutzt dessen Gewaltausbrüche um seiner „Ersatzmutter“ Agnes näher zu kommen und auch ihr Informationen zu entlocken.
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Novuyo Rosa Tshuma erschafft mit ihrem Roman einen tiefen Einblick in die Geschichte von Simbabwe.
Die Erzählung über den toxischen, höchst berechnenden, Zamani bildet dabei nur den Rahmen, der zwar spannend zu lesen ist, für mich aber nicht die Essenz des Werkes ausmacht. Durch seine, zweifelsohne hartnäckige Vehemenz, die auch nicht vor Verrat und Erpressung zurückschreckt, entlockt er seinen selbstgewählten „Ersatzeltern“ deren Geschichte, die geprägt ist von Gewalt, Unterdrückung, Verlust. (Eventuell könnte man sein Handeln auch als Metapher für die Geschichte Simbawes betrachten)
Gerade diese Sequenzen, die von Krieg, Völkermord, Vertreibung, Enteignung und Flucht, von Armut und Lebensmittelknappheit, sowie auch über die Auswirkungen in die Gegenwart berichten, zeigen ein umfassendes, realistisches Abbild der jüngeren Geschichte des „Haus aus Stein“, lassen mich als Lesende tief in die grausamen Geschehnisse eintauchen und machen den wahren Kern des Gesellschaftsromans aus.
Die Autorin zeigt anhand der Einzelschicksale von Abednego und Agnes die Politik der letzten Jahrzehnte auf, die menschenverachtend und von Angst geprägt ist und thematisiert ein weiteres Problem: Das Schweigen. Die Geschehnisse werden sowohl von den Herrschenden, als auch von der Bevölkerung tabuisiert und totgeschwiegen, was zu der Weiterreichung transgenerationaler Traumata führt.
Schon allein aus diesem Grund halte ich das Buch für sehr wichtig, da es genau mit diesem Schweigen bricht, da es die Geschichte sichtbar macht und zur Aufarbeitung beiträgt. Es gab in der letzten Zeit sehr wenige Bücher, die mich so berührt und weitreichend haben recherchieren lassen.
Ein sprach- und bildgewaltiger Roman, dem ich viel Aufmerksamkeit wünsche und euch ans Herz legen möchte. Ganz große Empfehlung.