Schwimm dich frei
Ida verliert nach dem Tod ihrer Mutter den Boden unter den Füßen. Statt zu ihrer Schwester Tilda und deren Freund Viktor zu fahren, bleibt sie im Zug sitzen, bis zur Endstation. Sie landet in Stralsund, ...
Ida verliert nach dem Tod ihrer Mutter den Boden unter den Füßen. Statt zu ihrer Schwester Tilda und deren Freund Viktor zu fahren, bleibt sie im Zug sitzen, bis zur Endstation. Sie landet in Stralsund, findet einen Job und nach einem Zusammenbruch auch ein Zuhause bei ihrem Chef Knut und dessen Frau Marianne. Hier begegnet ihr Leif, der auf die Insel zurückgekehrt ist, um seinen dementen Opa zu pflegen. Durch zahlreiche Gespräche kommen sie sich näher.
Dies ist der zweite Band nach »22 Bahnen« und diesmal steht Ida, Tildas kleine Schwester im Mittelpunkt. Sie ist damals mit elf bei der alkoholkranken Mutter zurückgeblieben, als Tilda mit Viktor in Berlin neu durchstarten konnte. Ida wollte nicht weg, das Leben mit ihrer Mutter war belastend (gelinde ausgedrückt). Doch Ida erinnert sich auch an die wenigen schönen Momente mit ihrer Mutter, daher quälen sie Schuldgefühle, jede Nacht verfolgt sie der gleiche Traum: Sie findet ihre Mutter und es ist zu spät.
Die Autorin versteht es, mit einem erfrischend neuartigen Schreibstil die Dinge gnadenlos auf den Punkt zu bringen. Vieles steht zwischen den Zeilen der knapp gehaltenen Sprache, ich konnte Idas Verzweiflung hinter ihrer stoisch ruhigen Art rütteln spüren. Sie unterscheidet sich vom Charakter ihrer Schwester, die sich durch Zahlen zu erden versuchte. Ida braucht höhere Kicks um durch ihre eigene Schale dringen zu können, wirft sich in die Fluten und schwimmt bis zur Verausgabung. Die Autorin gibt auch den Nebenfiguren Raum und Platz. Marianne und Knut, ein älteres Ehepaar, die Ida so etwas wie Ersatzeltern werden. Ein Familienleben, das sie nie gehabt hat. Doch Ida kann (noch) nicht vertrauen, spricht in kleinen Happen über ihre Vergangenheit, öffnet sich und schließt sofort wieder ihre Türen. Marianne ist geduldig, gerade dadurch schafft sie es, Ida aus der Reserve zu locken. Schließlich ist da Leif, ein junger Mann, der sich um seinen dementen Opa kümmert. »Ich bin nicht der, den du brauchst«, sagt er und ist es dann doch.
Ich bin durch die Seiten geflogen und habe mit allen mitgelitten. Ein Werk, das ausdrucksstark ist, weil die Figuren leben. Der Schluss ist knapp, abrupt – ein paar Dinge bleiben offen, wie das Verhältnis von Knut und Marianne zu ihrer eigenen Tochter Mandy, denn ihr Auftauchen bringt wenig Licht ins Dunkel, möglicherweise Potenzial für eine Fortsetzung? Es macht in meinen Augen Sinn, zuerst Band 1 zu lesen, da auch Tilda und Viktor hier vorkommen, die sich weiterentwickelt haben.
Der Entwicklungsprozess der Figuren gefiel mir besonders, Leif war eine Überraschung für mich. Und Ida, zu sagen, dass sie ihre Dämonen bekämpft hat, wäre zu viel gesagt. Dennoch gibt es Lichtblicke für sie, weit am Horizont.
Ein Buch der Liebe und Hoffnung und ein fantastisches Leseerlebnis.