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Veröffentlicht am 25.08.2024

Wasser zeigt die Verbindungen zwischen Orten und Zeiten

Am Himmel die Flüsse
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"Am Himmel die Flüsse", das neue Buch der britisch-türkischen, international aufgewachsenen und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerin Elif Shafak, ist ein ganz besonderes literarisches ...

"Am Himmel die Flüsse", das neue Buch der britisch-türkischen, international aufgewachsenen und mit vielen Literaturpreisen ausgezeichneten Schriftstellerin Elif Shafak, ist ein ganz besonderes literarisches Werk.

Es geht um die Verbundenheit von allem und allen auf dieser Welt, metaphorisch dargestellt durch das Wasser, das in seinen vielfältigen Formen, ob als Wassertropfen, unterirdischer Fluss oder überwältigende Sturzflut, menschliche Schicksale und Zeiten miteinander verknüpft.

Beginnend mit der Geschichte des Herrschers Assurbanipal im antiken Ninive begleiten wir schließlich den hochbegabten, aber in bitterste Not hineingeborenen Arthur, den "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere", auf seinem Lebensweg in der Zeit der Industrialisierung, genauso wie im Jahr 2014 die 9-jährige Narin auf dem Weg zu ihrer Taufe ins Lalischtal, begleitet von ihrer liebevollen, geschichtenerzählenden Großmutter, sowie eine junge Hydrologin in London im Jahr 2018... und einen Wassertropfen auf seiner Reise durch die Weltregionen und die Jahrtausende.

Was macht für mich ein literarisches Meisterwerk aus?

Erstens die ganz besonders schöne, poetische Sprache: ein Buch, das schon mit seiner Wortwahl ein besonderer Lesegenuss ist und mit treffend gewählten Sprachbildern die Fantasie anregt. Davon findet sich ganz viel in diesem Buch, hier ein paar Beispiele:

"Die Kinder entwurzelter Eltern sind in den Stamm des Erinnerns hineingeboren."

"Arthur weiß inzwischen, dass die Grenzen zwischen Klassen in Wirklichkeit die Grenzen auf einer Landkarte sind. Wenn man in einer reichen und privilegierten Familie zur Welt kommt, erbt man einen Plan, auf dem der weitere Weg vorgezeichnet ist, der Abkürzungen und Nebenwege enthält, und der die üppig grünen Täler, in denen man rasten kann, ebenso nennt wie die schwierigen Stellen, die man besser umgeht. Wer die Welt ohne eine solche Karte betrifft, dem fehlt es an guter Orientierung. Der kommt viel leichter von seinem Weg ab, weil er auf vermeintliche Haine und Gärten zugeht, um schließlich festzustellen, dass er in Sumpf und Moor gelandet ist."

"Endlich habe ich meine Berufung gefunden: Es ist meine Pflicht, das Zerbrochene zusammenzufügen, den Menschen zu helfen, sich an das zu erinnern, was jahrhundertelang vergessen war, und das, was irgendwo auf dem Weg durch jene Zeit verloren gegangen war, wiederzufinden. Ich möchte wie die Themse sein. Ich werde mich um alles Weggeworfene, Beschädigte, Vergessene kümmern."

Mit solchen Sprachbildern ist das Buch voll.

Zweitens die komplexen, gut recherchierten und miteinander verbundenen Themen:

Beim Lesen dieses Buches kann man nebenbei sehr viel lernen. Zwar sind die Figuren fiktiv, doch das, was diese erleben oder ihnen zustößt, beruht überwiegend auf sehr sorgfältig recherchierten historischen Tatsachen (wie die Autorin im Nachwort auch selbst detailliert beschreibt). Dieses Buch hat mir Wissen über so unterschiedliche Gebiete wie das alte Mesopotamien, London zur Zeit der beginnenden Industrialisierung, das Wassergedächtnis, die vergrabenen unterirdischen Flüsse von London, Paris und vielen weiteren Metropolen (auch in Wien gibt es solche), den Völkermord an den Eziden in der Geschichte des osmanischen Reiches sowie durch den IS, Organhandel, die Klimakrise auch als Wasserkrise, die Problematik des Verschleppens von Kunstschätzen in ferne Museen und vieles mehr vermittelt, einfach so nebenbei beim Lesen.

Drittens das Bewusstsein für soziale und kulturelle Unterschiede, Benachteiligungen und Privilegien und wie sie die Möglichkeiten der einzelnen Menschen und ihre Weltsicht prägen. Das Buch zeigt etwa an vielen Beispielen (siehe z.B. das mittlere Zitat oben) auf, wie die eigene soziale Schicht und der eigene kulturelle und familiäre Hintergrund Türen öffnet oder schließt, wie schwierig es sein kann, diesem Hintergrund zu entfliehen und wie wenig Bewusstsein auf Seiten der Privilegierten dafür oft besteht, sowohl historisch als auch in der heutigen Zeit. Damit bietet das Buch viel Stoff zum kritischen Reflektieren und auch für Diskussionen mit anderen und eignet sich dadurch auch besonders gut für gemeinsame Leserunden.

Viertens authentisch gezeichnete, tiefgründige und facettenreiche Figuren und eine spannend erzählte Geschichte. Dieses Buch hat mich gepackt, wie schon länger keines mehr, und als ich die liebevoll gezeichneten Figuren einmal kennen gelernt hatte, war ich sehr schnell emotional tief mit ihnen und ihrem Schicksal verbunden, habe mitgefiebert und wollte unbedingt wissen, wie es weitergeht. Bis zum Ende, das die verschiedenen Handlungsstränge noch einmal geschickt miteinander verwebt, war das Buch absolut fesselnd.

Es handelt sich hierbei also um ein literarisches Meisterwerk, wie ich schon länger keines mehr gelesen habe. Im Klappentext findet sich die Aussage des Schriftstellers Hanif Kureishi, es handle sich bei Elif Shafak um "eine der besten Schriftstellerinnen der Welt" - dem kann ich absolut zustimmen und werde definitiv noch weitere Bücher von ihr lesen.

Empfehlen kann ich das Buch allen, die sich für wirklich gute Literatur und/oder für die angesprochenen Themen interessieren, dieses Buch ist wirklich ein besonderer Lesegenuss.

Nötig ist allerdings, sich innerlich auch für sehr schwierige Themen menschlicher Grausamkeit zu wappnen: diese hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, es gibt sie leider bis heute, und sie kommen auch detailliert im Buch vor.

Das macht beim Lesen gerade deshalb emotional besonders betroffen, weil es aufgrund der gut recherchierten wahren Hintergründe eben nicht möglich ist, sich mit der Vorstellung, es sei nur eine Geschichte, davon zu distanzieren: schreckliche Dinge werden Menschen, Tieren und der Natur durch andere Menschen angetan, bis zum heutigen Tag, und Elif Shafak spricht das klar und mutig an.

Es ist also trotz der schönen, poetischen Sprache und der spannenden Geschichte nicht nur ein reiner Lesegenuss, sondern macht auch sehr nachdenklich und sensibilisiert für das Leid der Welt und für das, was Menschen, Tieren und Natur angetan wird, bis zum heutigen Tage. Damit kann es aber auch aufrütteln, sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für eine bessere Welt einzusetzen.

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Veröffentlicht am 06.08.2024

Was müssen wir über unsere Familiengeschichte wissen, um eine glückliche Zukunft haben zu können?

Juli, August, September
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In "Juli, August, September" von Olga Grjasnowa begleiten wir Lou, eine junge Frau in den 30ern, durch diese drei Monate in einem Jahr ihres Lebens in der jetzigen Zeit. Im Juli ist Lou in Deutschland, ...

In "Juli, August, September" von Olga Grjasnowa begleiten wir Lou, eine junge Frau in den 30ern, durch diese drei Monate in einem Jahr ihres Lebens in der jetzigen Zeit. Im Juli ist Lou in Deutschland, wo sie mit ihrem Mann Sergej und der gemeinsamen kleinen Tochter Rosa lebt.

Lou ist Galeristin und schreibt an einem Buch, Sergej ist ein berühmter Pianist, viel auf Konzerten und wenig zu Hause. Die Familie ist von ihrer Herkunft jüdisch, Lou ist mit ihrer Mutter als Kind aus Russland nach Deutschland emigriert, auch ihr Mann ist jüdisch und hat Wurzeln in Russland. Die weitere Verwandtschaft lebt mehrheitlich in Israel.

Sergej und Lou beschäftigt die Frage, ob und wie sie ihrer kleinen Tochter Rosa das Jüdisch-Sein vermitteln können, das sie selbst kaum aktiv religiös praktizieren, aber ihnen doch als kulturelles und familiäres Erbe wichtig ist... und sie aber gleichzeitig davor schützen können, sich zu sehr zu exponieren. Bisher sind sie dem Thema eher durch Vermeidung begegnet, werden aber laufend vor Herausforderungen diesbezüglich gestellt, etwa, als eine Kindergartenfreundin ihrer Tochter ein Anne-Frank-Bilderbuch zeigt.

Im August trifft Lou, gemeinsam mit ihrer Mutter und mit Rosa, ihre Verwandten zur 90er-Feier ihrer Großtante auf Mallorca.

Im September begibt sie sich schließlich spontan in einem weiteren Land auf Spurensuche, um ihre Familiengeschichte und Herkunft - und vielleicht auch sich selbst und ihren momentanen psychischen Zustand - besser zu verstehen.

Das erste und letzte Drittel des Buches habe ich sehr spannend gefunden. In der Mitte - das ist der Teil, in dem hauptsächlich das Familientreffen auf Mallorca beschrieben wird - hatte es für mich gefühlt Längen (trotz der insgesamt angenehm kurz gehaltenen Kapitel), die aber wiederum möglicherweise gut das Gefühl der Langeweile, Unverbundenheit und Sich-Gegenseitig-Nicht-Verstehens der verschiedenen Familienmitglieder widerspiegeln.

Die Charaktere wirken mehrheitlich getrieben, unzufrieden und im Leben nicht sehr angekommen. Das gilt für Lou selbst genauso wie für ihren derzeitigen Ehemann, ihren geschiedenen Ex-Mann als auch für die Mehrheit der beschriebenen Verwandten. Man lebt so dahin, mit all seinen Problemen, Fragen, Zweifeln und Neurosen... und tut sich oft schwer damit, sich wirklich ehrlich miteinander zu unterhalten und sich tiefgründig aufeinander einzulassen.

Damit ist der Autorin eine gelungene Charakterisierung der psychischen Herausforderungen vieler Menschen der heutigen Zeit gelungen und sie zeigt am Beispiel einer jüdischen Familie, wie alte Geschichten und Traumata bis heute nachwirken und wie schwierig es ist, miteinander darüber zu sprechen und sie zu überwinden.

Ein treffendes Zitat dafür, das die Themen des Buches insgesamt gut zusammenfasst, findet sich auf S. 182, da sagt Lou zu ihrem Mann: "Ich weiß nicht mehr, warum wir das alles tun. Wir geben uns so viel Mühe für eine Religion, obwohl wir nicht an Gott glauben, für eine Vergangenheit, an der kaum etwas gut war, für eine Zukunft, die maximal ungewiss ist, und für eine Identität, die wir selbst nicht mehr verstehen."

Insgesamt war es ein angenehm zu lesendes Buch, das spannende Fragen aufwirft und zum Nachdenken anregt. Zum Beispiel über das Spannungsfeld Recht auf Schweigen über die eigene Geschichte (der älteren Verwandten) vs. legitimes Bedürfnis der jüngeren Generation, offene Fragen zu klären und damit vielleicht auch mehr Klarheit über die eigene Identität und Familienposition zu bekommen.

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Veröffentlicht am 28.07.2024

Transgenerationale Traumatisierung im Lichte des aktuellen Zeitgeschehens

Sobald wir angekommen sind
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Micha Lewinskys Romandebüt "Sobald wir angekommen sind" spielt in der aktuellen Zeit, in der in Mitteleuropa eigentlich immer noch viel Sicherheit und materieller Wohlstand vorhanden sind, aber die multiplen ...

Micha Lewinskys Romandebüt "Sobald wir angekommen sind" spielt in der aktuellen Zeit, in der in Mitteleuropa eigentlich immer noch viel Sicherheit und materieller Wohlstand vorhanden sind, aber die multiplen Krisen die Psychen vieler Menschen angreifen und für tiefgreifende Angst und Verunsicherung sorgen. Umso mehr gilt das für jene, die sowieso schon die Last transgenerationaler Traumata tragen, so wie den Hauptprotagonisten Ben Oppenheim, den wir in diesem Roman kennen lernen.

Ben steht eigentlich ganz gut im Leben, er lebt in Zürich, hat eine mittelmäßig erfolgreiche Karriere als Roman- und Drehbuchautor hinter sich, zwei halbwüchsige Kinder und eine Frau, mit der er in Trennung lebt und sich aus finanziellen Gründen - zwei familientaugliche Wohnungen sind im teuren Zürich für die Familie nicht leistbar - abwechselnd gemäß dem Nestmodell bei den Kindern in der ehemals gemeinsamen Wohnung aufhält. Materiell geht es der Familie nicht schlecht und im Hintergrund gibt es auch noch Bens vermögenden Vater, der bei Bedarf immer wieder mal mit kleineren Finanzspritzen aushilft. Und auch faktisch ist in der sicheren Schweiz bis jetzt kein Krieg.

Doch Ben stammt, genauso wie seine Noch-Frau und Mutter seiner Kinder Marina, aus einer jüdischen Familie, aus einer langen Linie der wenigen Überlebenden von Verfolgungen und Ausrottungsversuchen seines Volkes. Besonders verbunden fühlt er sich dem ebenfalls jüdischen Schriftsteller Stefan Zweig, an dessen Biografie in Drehbuchform er arbeitet, und der damals in den 1930er Jahren schon frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannte und sich rechtzeitig ins sichere Brasilien rettete (wo er sich aber schlussendlich in einer depressiven Phase das Leben nahm).

Mit der Trennung von seiner Frau scheint es Ben insgesamt nicht so schlecht zu gehen, er hat schon eine neue Beziehung gefunden, mit der jungen Künstlerin und getrennt lebenden Mutter Julia Beck (ohne jüdische Abstammung und ohne ähnliche transgenerationale Traumatisierungserfahrungen). Es könnte also einiges ganz okay sein in Bens Leben, wären da nicht die tiefen Ängste davor, dass der Krieg im Osten Europas sich unerwartet und plötzlich auch auf die Schweiz ausdehnen könnte und es dann vielleicht zu spät sei für eine Flucht.

Marina und Ben haben schon öfters darüber gesprochen, was in einem solchen Fall zu tun sei, um sich selbst und vor allem die gemeinsamen Kinder zu schützen. Und dann passiert tatsächlich etwas, von dem beide denken, es könnte der letzte Auslöser gewesen sein und in einer plötzlichen Aktion fliehen die beiden ohne viel weiteres Nachdenken mit den gemeinsamen Kindern nach Brasilien, nun doch wieder als scheinbar gemeinsame Familie, und ohne Bens neue Freundin Julia und deren Sohn. Sich dort zurechtzufinden, stellt die Familie vor alle möglichen unerwarteten Herausforderungen und der noch nicht eingetretene Weltkrieg in der Schweiz bringt die Frage mit sich, ob die Flucht nicht doch überstürzt war.

Ich habe dieses Buch innerhalb kürzester Zeit ausgelesen, weil mich die Geschichte sofort gepackt hat und ich mich sehr mit den Figuren identifizieren konnte. Es spiegelt für mich sehr gut das aktuelle Zeitgeschehen und zeigt auf, wie sich dieses mit individuellen Schicksalen verknüpft und wie persönliche Ängste und intergenerationale Traumatisierungen durch die aktuellen Krisen wie durch ein Brennglas verschärft werden können.

Noch vor zehn Jahren hätte so eine plötzliche Flucht, wie sie in diesem Buch beschrieben wird, möglicherweise sehr unrealistisch gewirkt... nun kenne ich selbst einige Menschen, bei denen die Krisen der letzten Jahre ähnliche Ängste hervorgerufen haben und die sich ebenfalls sehr intensiv mit dem Gedanken daran, Mitteleuropa zu verlassen, getragen haben (und es gibt auch einige, die das ja tatsächlich getan haben).

Gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Veränderungen bahnen sich langsam an, können sich aber - wie die Geschichte zeigt - durchaus auch dann sehr plötzlich zuspitzen, und oft zeigt sich erst im Nachhinein, welche Ängste vielleicht übertrieben waren und wer tatsächlich ein feines Sensorium für bevorstehende Gefahren hatte, das gemeinsam mit dem Mut zum entschlossenen Handeln diese Personen dann gerettet hat. So ist Bens und Marinas Handeln für mich insbesondere vor deren Familiengeschichte als Nachkommen Überlebender für mich sehr gut nachvollziehbar.

Sehr gut gefallen hat mir auch, dass das Buch nicht mit der Ankunft in Brasilien endet, sondern das Leben in Brasilien und die damit verbundenen Herausforderungen ebenfalls detailliert und authentisch geschildert werden. Damit macht es nachfühlbar, dass es zwar möglich ist, auszuwandern, aber sich damit nicht automatisch alle Probleme, die man im Leben hatte, in Luft auflösen, und das Leben anderswo - noch dazu als Neuangekommene - nicht unbedingt einfacher ist.

Auch der Titel "Sobald wir angekommen sind" ist für mich sehr stimmig und passend. Im Buch zeigt sich eben genau diese Problematik: Ben kommt nicht wirklich an im Leben. Nicht so ganz in seiner Karriere als Buch- und Drehbuchautor mit mittelmäßigem Erfolg. Nicht so ganz in der Beziehung zu den zwei Frauen Marina und Julia, zwischen denen er sich weder wirklich entscheiden, noch sich langfristig auf eine davon wirklich tiefgehend einlassen kann. Und örtlich auch nicht.

Ben bleibt ein Getriebener und Ängstlicher, der doch verzweifelt nach einem "Ankommen" und einem sicheren Hafen sucht, geografisch und in einer Beziehung, und diesen doch nicht finden kann, solange er in den alten Traumatisierungen und Ängsten gefangen bleibt und jederzeit am Sprung ist, zu fliehen. Das hat der Autor sehr authentisch herausgearbeitet und stellt es auch immer wieder in den Kontext der Geschichte des jüdischen Volkes und stellt anhand des Protagonisten Ben und der Menschen in seinem Leben Fragen und Anregungen dazu, was das Spezifische dieser Geschichte und der daraus resultierenden Prägungen ausmachen kann und wie sich dieses Thema bis heute auf die Menschen auswirkt.

Ein sehr interessantes und nachdenklich machendes Buch, das ich allen empfehlen kann, die sich gerne mit Themen des aktuellen Zeitgeschehens im 21. Jahrhundert und deren Auswirkungen auf die Psyche der heutigen Menschen vor dem Hintergrund transgenerationaler Traumatisierungen interessieren.

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Veröffentlicht am 03.07.2024

Viele kluge Gedanken zu einer unterschätzten Lebensphase... tröstlich und Hoffnung machend

Mitte des Lebens
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Ich lese "Mitte des Lebens" mit Ende 30, also kurz vor dem Beginn der "Mitte des Lebens", die entwicklungspsychologisch so ungefähr zwischen 40 und 65 Jahren, mit offenen Rändern zu beiden Seiten hin, ...

Ich lese "Mitte des Lebens" mit Ende 30, also kurz vor dem Beginn der "Mitte des Lebens", die entwicklungspsychologisch so ungefähr zwischen 40 und 65 Jahren, mit offenen Rändern zu beiden Seiten hin, verortet wird. Dieses Buch hat mich angelacht, seit ich es zum ersten Mal gesehen habe, denn schon seit längerem bin ich auf der Suche nach Inspiration zu dieser kommenden Lebensphase und nach etwas, das dem starken Jugendkult unserer Gesellschaft etwas entgegenhält. Das habe ich in diesem schönen Buch gefunden.

Gleich auf den ersten Zeilen begegnet mir eine wunderschöne Metapher und macht mich neugierig auf das weitere Lesen: "Den See erblickt man erst, wenn man zur Mitte des Hochplateaus gelangt ist."

Diese Sichtweise zieht sich durch das ganze Buch: einer der wesentlichen Vorteile der Lebensmitte liegt in der erweiterten Perspektive, in all dem, was sichtbar wird, wenn man schon ein beachtliches Stück des Lebensweges gegangen ist. Kombiniert damit, noch jung genug zu sein, meist (bei guter Gesundheit) noch viele Jahrzehnte vor sich zu haben, kann die Lebensmitte laut Barbara Bleisch eine tolle Zeit der Reflexionen, der Wendepunkte und Chancen sein: aus vier oder mehr Jahrzehnten Lebenserfahrung blicke ich zurück, reflektiere mein bisheriges Leben und entscheide, wo ich so weitermachen und wo ich etwas ändern möchte.

Die Autorin ist Philosophin und so ist es eindeutig ein philosophisch geprägtes Buch, mit sehr vielen philosophischen Bezügen. Gleichzeitig zeigt das Buch aber auch einen Blick über die Philosophie hinaus und verbindet diese mit Erkenntnissen aus Entwicklungspsychologie (z.B. Erik Erikson), Geschichte, Literatur (z.B. John Stuart Mill und seine Autobiografie, Simone de Beauvoir und ihr "Lauf der Dinge", Bertrand Russel und seine "Autobiography", Rebecca Solnit und ihre Essaysammlung "Getting lost",...) sowie eigenen Beobachtungen aus dem Leben der Autorin. Das lockert das Buch auf und macht es noch interessanter zu lesen.

Es beginnt mit dem Kapitel "In der Lebensmitte", in dem diese Lebensphase beschrieben und verortet wird. Darauf folgen die Kapitel "Ende in Sicht", "Reue, Bedauern und Ambivalenz", "In den besten Jahren", "Alles erreicht", "War es das schon?" und "Inmitten des Lebens". Diese Kapitelüberschriften geben einen guten Einblick in den vielschichtigen Themenbogen, den das Buch spannt: es geht sowohl um Themen wie Reue und Bedauern, als auch um Angekommen-Sein, Zufriedenheit und Generativität, dabei aber vielleicht trotzdem das Gefühl haben, dass etwas fehlt, um einen Blick zurück und einen Blick nach vorne, das bisher Erreichte und noch Erreichbare... und auch ein kritisches Hinterfragen des stark planungs- und zielorientierten Lebens und die Frage, was ein gutes Leben ausmacht, insgesamt, und besonders in der Phase der Lebensmitte.

Insgesamt ist es aber ein Buch, das zumindest ein sehr starkes Interesse an philosophischem Denken und eine Offenheit dafür voraussetzt und sich klar an sehr gebildete Lesende wendet. Für mich war es eines der interessantesten Sachbücher dieses Jahres und ich werde es nach dem ersten Lesen sicher noch öfters zur Hand nehmen, mir Notizen zu den vorgestellten philosophischen Konzepten machen, selbst darüber in mein Journal schreiben, die Ideen mit anderen diskutieren und auch im Laufe der Jahre und Jahrzehnte beobachten, welche weiteren Erkenntnisse ich daraus ziehen kann, während ich mich in und durch die Phase der mittleren Jahre bewege. Damit ist es ein Buch, das ich für die nächsten Jahrzehnte als Begleiter an meiner Seite haben möchte und ich freue mich schon darauf.

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Veröffentlicht am 23.06.2024

Von Schicksalsschlägen und dem Geborgenheit-Finden in einer Wahlfamilie

Windstärke 17
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"Windstärke 17" kann als die Fortsetzung von Caroline Wahls erfolgreichem Debütroman "22 Bahnen" gesehen werden. Die beiden Bücher hängen zusammen: während das erste aus der Perspektive der älteren Schwester ...

"Windstärke 17" kann als die Fortsetzung von Caroline Wahls erfolgreichem Debütroman "22 Bahnen" gesehen werden. Die beiden Bücher hängen zusammen: während das erste aus der Perspektive der älteren Schwester Tilda erzählt wird, geht es nun um die jüngere Schwester Ida. Und wir haben einen Zeitsprung hinter uns: das erste Buch endet mit der 10- oder 11-jährigen Ida und mit Tildas Entschluss, von daheim auszuziehen und für das Promotionsstudium nach Berlin zu gehen.

Was es für Ida bedeutet hat, ab diesem Zeitpunkt weitgehend allein mit der alkoholabhängigen Mutter aufzuwachsen, und welche Schäden das in ihrer Psyche hinterlassen hat, erfahren wir nun in "Windstärke 17". Das Buch beginnt mit der nun erwachsenen Ida, die die Mutter tot auffindet... nach einer langen psychischen, körperlichen und sozialen Abwärtsspirale hat sich diese nun endgültig mit Tabletten das Leben genommen. Auch von Tilda hat Ida sich entfremdet, die beiden haben nur sporadisch Kontakt und Ida stößt die ältere Schwester meistens wütend weg... zu tief sitzt der Schmerz, so viele Jahre mit der Mutter allein gelassen worden zu sein.

Auch jetzt lehnt Ida alle Hilfsangebote der Schwester - die sich mit Mann, Kindern und einer guten Stelle fest im Leben etabliert hat - vehement ab, schaltet ihr Handy auf Flugmodus und flüchtet in einer spontanen Impulsreaktion irgendwohin, landet dabei auf der Insel Rügen. Hier hat sie das Glück, wirklich guten, liebevollen Menschen zu begegnen, die sie wie eine Tochter aufnehmen und liebevoll unterstützen. Zum ersten Mal in ihrem Leben erlebt Ida so etwas wie ein geordnetes Familienleben, doch mit ihrer traumatisierten Psyche fällt es ihr schwer, sich auf dieses einzulassen... und auch hier gibt es Schicksalsschläge und Herausforderungen.

Für mich war "Windstärke 17" kein leicht zu lesendes Buch. Das macht es nicht schlecht. Im Gegenteil, ich finde die Persönlichkeit Idas, ihre Schwierigkeit, sich wirklich auf Menschen einzulassen, ihre Gefühlsschwankungen und ihr risikoreiches, fast schon suizidales Verhalten sehr authentisch geschildert... hier schreibt eine Autorin, die sich mit diesen Themen offensichtlich auskennt und tiefgehend damit auseinandergesetzt hat.

Schwer gefallen ist mir, dass ich innerlich die ganze Zeit den Vorgängerband "22 Bahnen" und seine Hauptprotagonistin Tilda im Kopf hatte, und dieser hatte, trotz der schweren Thematik mit der alkoholkranken Mutter, viel mehr Humor, Leichtigkeit und Hoffnung zu bieten. Tilda war so eine resiliente Persönlichkeit, dass gute Hoffnung dafür Bestand, dass sie ihr Leben trotz der schwierigen Startbedingungen gut auf die Reihe kriegen würde, und sie innerlich zu begleiten, machte Hoffnung und Mut.

Und so ist es ja auch gekommen, wie man im zweiten Band sieht, Tilda hat ihr Leben auf die Reihe gekriegt... Ida hingegen kämpft enorm und wird aufgrund ihrer Persönlichkeitsdynamik wohl auch in Zukunft in ihrem Leben noch sehr zu kämpfen haben. Das ist, wie gesagt, realistisch dargestellt, aber in seiner Schwere und Tragik noch viel weniger ein Sommer-Wohlfühl-Buch als "22 Bahnen". Ich empfehle es für Interessierte, die bereit sind, sich auf diese Dynamik einzulassen.

5 Sterne, weil es insgesamt ein sehr gut geschriebenes Buch ist und die traurige und dunkle Thematik das Buch ja nicht per se schlechter macht.

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