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Veröffentlicht am 05.07.2024

Ein Kinderbuch zum Thema Neurodiversität

Hat irgendjemand Oscar gesehen?
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Aurora und Oscar sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich, und dennoch sind beide beste Freunde. Während Aurora impulsiv und energiegeladen ist, laut und viel redet, spricht Oscar nicht, ist ...

Aurora und Oscar sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich, und dennoch sind beide beste Freunde. Während Aurora impulsiv und energiegeladen ist, laut und viel redet, spricht Oscar nicht, ist sehr zurückgezogen und lebt in seiner eigenen Welt. Beide gehen in eine Klasse, und Aurora kümmert sich rührend und sehr fürsorglich um Oscar. Im neuen Schuljahr jedoch kommen beide in unterschiedliche 6. Klassen, und eines Tages ist Oscar plötzlich verschwunden. Der ganze Ort sucht fieberhaft nach ihm, allen voran Aurora.
Im Buch wird das nicht explizit erwähnt, aber es ist anzunehmen, dass Aurora ADHS hat und Oscar eine Form von Autismus. Die Idee, neurodiverse Protagonist/innen in den Mittelpunkt zu stellen, hat mir sehr gut gefallen. Auroras Charakterisierung finde ich sehr gelungen. Da ein wesentlicher Teil des Buches aus ihrer Perspektive erzählt wird, konnten mein Sohn und ich uns gut in sie hineinversetzen, und sie war uns auf Anhieb sympathisch. Sie hat das Herz auf dem rechten Fleck, ist fürsorglich und offen. Etwas schade fanden wir, dass Oscar im Buch ein wenig kurz kommt, insbesondere auch seine Sicht der Dinge und seine Emotionen. Die Autorin erzählt im Buch aus verschiedenen Blickwinkeln, und es ist ein bisschen verwunderlich, dass ausgerechnet Oscar hier den geringsten Anteil hat. Hierdurch verschenkt das Buch leider etwas an Potential, das autistische Spektrum jungen Leser/innen begreiflich zu machen.
Generell ist die Thematik des Buches für jüngere Kinder, die das Buch alleine lesen und bisher noch keinen Kontakt zu neurodiversen Kindern hatten, nicht ganz einfach zu verstehen, gerade im Bezug auf Oscar. Mein Sohn und ich haben das Buch zusammen gelesen, und ich konnte ihm so vieles erklären. Auch aufgrund der komplexeren Erzählweise mit verschiedenen Rückblenden würde ich das Buch eher für etwas ältere Kinder ab 11 oder 12 Jahren empfehlen oder es entsprechend begleiten.
Etwas unrealistisch fand ich die idealisierte Heile-Welt-Darstellung, in der es quasi keine Konflikte gibt. Aurora eckt mit ihrer Art gelegentlich etwas an, aber im Grunde gibt es keine größeren zwischenmenschlichen Probleme, Oscar ist zwar meist für sich, er wird von den Mitschüler/innen aber auch nicht getriezt. In der Realität wäre das vermutlich leider nicht ganz so schön. Nun kann man das Buch als Beispiel einer Welt ansehen, wie sie sein sollte, in der neurodiverse Kinder ganz selbstverständlich dazugehören. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass Kinder, die selbst betroffen sind, und in ihrem Leben auf weniger verständnisvolle Mitmenschen treffen, ernüchtert sind, wenn ihnen das Buch nur ein Ideal zeigt. Hier hätte es ermutigend wirken können, wenn Konflikte und Lösungsansätze thematisiert worden wären.

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Veröffentlicht am 02.07.2024

Viel Testosteron und ein Cold Case

Freundschaft und Vergeltung
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„Freundschaft und Vergeltung“ ist mein erstes Buch von Helmut Krausser, auf das ich nach Daniel Kehlmanns Lobeshymnen über den Autor sehr gespannt war.

Anthony Brewer, ein pensionierter englischer Rechtsanwalt, ...

„Freundschaft und Vergeltung“ ist mein erstes Buch von Helmut Krausser, auf das ich nach Daniel Kehlmanns Lobeshymnen über den Autor sehr gespannt war.

Anthony Brewer, ein pensionierter englischer Rechtsanwalt, war 1965 ein 17-jähriger Schüler des englischen Internats Raven Hall. In der Weihnachtszeit verschwanden damals auf mysteriöse Weise vier Menschen. Die Polizei tappte im Dunkeln, die Vermissten tauchten nie wieder auf, und Anthony lässt dies über die Jahre nicht zur Ruhe kommen. Bereits 1985 stellt er erste Nachforschungen an, und nach seiner Pensionierung nimmt er 2016 die Suche wieder auf.

Auch wenn der Plot nach einem Krimi klingt, würde ich das Buch nicht als solchen ansehen, und echte Krimifans werden vermutlich eher enttäuscht sein. Auch wenn zunächst vordergründig die Lösung des Falles im Fokus steht, wird im Laufe des Romans immer mehr deutlich, dass es eigentlich um ganz andere Themen geht – das testosterongeladene Klima an Knabeninternaten, die Kraft der Illusionen, die eigene Lebensbilanz und das Altern geht.

Ich tat mich zunächst schwer, emotionalen Zugang zu der Geschichte zu finden - als zu selbstgefällig und unsympathisch empfand ich die Charaktere, und zu abstoßend das von zu viel Testosteron geprägte Vokabular und die Atmosphäre am Knabeninternat. Insbesondere die zentrale Figur Christan Bradshaw nervt durch ihre sexistische, spätpubertäre und selbstgefällig-großspurige Art massiv. Die Einstellung sowohl der Schüler als der männlichen Lehrkräfte zu sexueller Nötigung gegenüber Frauen ist erschreckend. Das mag 1965, lange vor #MeToo, noch Realität gewesen sein, ist aber dennoch beim Lesen schwer erträglich. Generell würde ich dieses Buch klar als einen „Männerroman“ bezeichnen.

Krausser Schreibstil ist flüssig zu lesen, das Buch ist spannend und wendungsreich geschrieben, strukturell geschickt aufgebaut mit einer Mischung aus Rückblenden, Augenzeugenberichten, Polizeiprotokollen und Anthonys Leben in der Gegenwart. Insbesondere das Spiel mit den Erwartungen und Illusionen hat mir sehr gut gefallen.

Ich lege dieses Buch mit gemischten Gefühlen zur Seite. Zu viele Fragen bleiben für mich unbeantwortet, um zufrieden mit dem Buch abschließen zu können, und eine echte Nähe zu den Figuren konnte ich nicht entwickeln. Der Ich-Erzähler Anthony war für mich nicht griffig genug, um die Auswirkungen der damaligen Ereignisse auf sein späteres Leben konkret nachvollziehbar zu machen, hier bleibt mir das Buch zu vage. Insgesamt hatte ich mir angesichts der Vorschusslorbeeren deutlich mehr erwartet und das Buch wird mir nicht nachhaltig im Gedächtnis bleiben.

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Veröffentlicht am 15.06.2024

späte Spurensuche

Seinetwegen
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Knapp 60 Jahre nach dem Tod ihres Vaters bei einem Autounfall macht sich Zora del Buono in ihrem autofiktionalen Buch auf die Suche nach dem damaligen Unfallverursacher. Ihre Mutter ist an Demenz erkrankt, ...

Knapp 60 Jahre nach dem Tod ihres Vaters bei einem Autounfall macht sich Zora del Buono in ihrem autofiktionalen Buch auf die Suche nach dem damaligen Unfallverursacher. Ihre Mutter ist an Demenz erkrankt, in ihrem Umfeld ist niemand mehr da, den sie nach den Ereignissen damals fragen könnte. Als Leserin habe ich mich gefragt, warum sie mit ihrer Recherche so lange gewartet hat. Del Buono versucht zwar, hierfür Begründungen zu liefern, doch es bleibt für mich nur schwer nachvollziehbar. Während der Recherche schwankt sie zudem immer wieder zwischen ihrem Wunsch nach Gewissheiten und der Scheu vor neuen Erkenntnissen. Auch wenn ich dies aus meinem Familienkreis bezüglich einer ähnlichen Situation kenne, habe ich Schwierigkeiten, dies zu verstehen. Das ist vermutlich Typsache.

Einen großen Teil des Buches nehmen Kindheitserinnerungen und ihre Gedanken zu frühkindlicher Bindung und Verlust ein sowie ihre diesbezüglichen Gespräche mit drei langjährigen Freunden während diverser Kaffeehausbesuche. Auch ihre Empfindungen und Assoziationen während ihrer Recherchereise in die Umgebung des Unfallortes gibt sie viel Raum. Beides ist zuweilen durchaus interessant und regt zu Nachdenken an, manchmal wurden mir die Abschweifungen aber doch zu viel (etwa in die Homosexuellenszene Berlins der späten 80er Jahre oder zu den letzten Hexenverbrennungen der Schweiz 1782) und ich hätte ich mir etwas mehr Fokussierung gewünscht. Da seit dem Unfall knapp 60 Jahre vergangen sind, ist es nicht verwunderlich, dass del Buonos Erkenntnisse bezüglich des Unfallverursachers eher dürftig bleiben.

Am eindrücklichsten bleibt mir der dünkelhafte Tenor alter Gerichtsakten und eines Leserbriefes aus den 1960er Jahren in Erinnerung, in denen der Eindruck entsteht, dass der Wert eines Menschenlebens von seiner gesellschaftlichen und beruflichen Stellung abhängt. Hier hat sich in den vergangenen Jahrzehnten glücklicherweise einiges getan.

Ein interessantes Buch für alle, die sich generell für den Themenkomplex frühkindlicher Prägungen und Verlusterfahrungen und deren Wirkungen bis ins Erwachsenenalter interessieren. Wer vor allem eine emotionale Suche nach Erkenntnissen über den Vater oder den Unfallverursacher erwartet, wird eher enttäuscht sein.

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Veröffentlicht am 12.06.2024

bewährtes Strickmuster

Mord stand nicht im Drehbuch
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Mit "Mord stand nicht im Drehbuch" als viertem Band setzt Anthony Horowitz seine Reihe um den ehemaligen Kriminalbeamten Daniel Hawthorne fort, der als Berater der Polizei arbeitet und bei komplexen Fällen ...


Mit "Mord stand nicht im Drehbuch" als viertem Band setzt Anthony Horowitz seine Reihe um den ehemaligen Kriminalbeamten Daniel Hawthorne fort, der als Berater der Polizei arbeitet und bei komplexen Fällen hinzugezogen wird. Ich kenne bereits den dritten Teil, doch da die Fälle in sich abgeschlossen sind, ist es problemlos möglich, die Bücher unabhängig voneinander zu lesen oder zu hören.

Wie immer tritt der Autor Anthony Horowitz als autofiktionaler Ich-Erzähler auf, der in Watson- bzw. Hastings-Manier den eigenwilligen, aber brillanten Detektiv Daniel Hawthorne bei seinen Ermittlungen begleitet und darüber schreibt. Das Konstruktionsprinzip der Fälle und der Schreibstil erinnern stark an Doyles Sherlock-Holmes-Reihe oder Agatha Christies Hercule-Poirot-Romane, was nicht verwunderlich ist, nachdem Horowitz selbst mehrere neuere Sherlock-Holmes-Romane verfasst hat sowie die Drehbücher zur Poirot-Fernsehserie. Diese Ähnlichkeit ist gleichzeitig die Stärke wie auch die Schwäche seiner Romane. Für Liebhaber dieses Genres sind Horowitz‘ Romane wunderbar wendungsreiche Geschichten, bei denen es auf kleinste Details ankommt, gespickt mit feinem Humor und originellen Protagonisten. Allerdings werden diese nach bekanntem Muster gestrickten Krimis für geübte Leser auch schnell durchschaubar. So war mir bei diesem Fall bereits sehr früh klar, wer der wahre Täter sein würde.

Hawthorne wurde mir auch in diesem Band nicht wirklich sympathisch, er bleibt jedoch eine interessante Figur mit Geheimnissen. Auf die Dauer etwas nervig fand ich seine ständige Anrede „Sportsfreund“ für Anthony Horowitz (die sich auch durch die früheren Bände zieht).

Insgesamt wirkte die Geschichte, bei der Horowitz selbst ins Visier der Ermittler gerät, doch recht konstruiert und nicht ganz rund, und das dahinterstehende Prinzip allzu durchsichtig. Für mich war dies ein etwas schwächerer Band der beliebten Horowitz-Reihe, aber dennoch ein unterhaltsamer Krimi für Zwischendurch.

Das Hörbuch wird wie immer von dem wunderbaren Uve Teschner eingesprochen, dessen angenehmer Stimme ich immer wieder gerne lausche.


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Veröffentlicht am 12.06.2024

Zu viel gewollt

Ich stelle mich schlafend
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Da ich das Debüt „Streulicht“ bisher nicht gelesen habe, war „Ich stelle mich schlafend“ mein erster Roman von Deniz Ohde. Die Grundthematik des Buches hat mich sehr angesprochen – wohl jede Frau wird ...

Da ich das Debüt „Streulicht“ bisher nicht gelesen habe, war „Ich stelle mich schlafend“ mein erster Roman von Deniz Ohde. Die Grundthematik des Buches hat mich sehr angesprochen – wohl jede Frau wird in ihrem Leben mit Grenzüberschreitungen konfrontiert. Und anstatt uns selbstbewusst abzugrenzen, reagieren wir oft zögerlich, geben uns selbst die Schuld, schämen uns – denn schließlich wurden wir häufig noch dazu erzogen, brav und „pflegeleicht“ zu sein und uns und unsere Bedürfnisse im Zweifel um der Harmonie willen zurückzunehmen.
Der Einstieg in die Geschichte war zunächst etwas sperrig und es dauerte ein bisschen, bis ich mich zurechtgefunden habe. Auch die Figuren waren für mich emotional schwer greifbar und es gelang mir nur bedingt, mich in sie hineinzuversetzen, insbesondere bei Yasemin und Vito. Vielleicht hätte ich sie besser verstehen können, wenn die Biografien ihrer Figuren etwas stärker ausgearbeitet worden wären. So habe ich mich immer wieder gefragt, warum Yasemin so passiv agiert und sie starr in ihrer Opferrolle verharrt. Teilweise hat mich das beim Lesen regelrecht wütend gemacht und ich hätte sie am liebsten wachgerüttelt. Um auf Beziehungs- und Rollenmuster aufmerksam zu machen, überzeichnet Ohde ihre Figuren für mein Empfinden zu stark, so dass sie wenig glaubhaft wirken und alles ein bisschen „too much“ ist.
Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass Deniz Ohde zu viel auf einmal wollte und die Geschichte überfrachtet hat. Gerade gegen Ende quetscht sie auch noch politische Botschaften ins Buch, die an sich zwar wichtig sind, aber dazu beitragen, dass das Buch stark konstruiert wirkt. Um sicherzugehen, dass ihre Botschaft wirklich beim Leser/der Leserin ankommt, erklärt sie diese sicherheitshalber detailreich – hier hätte sie ihren Leser/innen gerne etwas mehr zutrauen und Raum für Interpretation lassen dürfen.
Leider konnte der Roman meine hohen Erwartungen nicht erfüllen und mich haben andere Bücher zu diesen Themenbereich stärker bewegt, etwa „Geordnete Verhältnisse“ von Lana Lux.

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