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Veröffentlicht am 14.06.2020

Der männliche und der weibliche Blick - Jugend im Kiez

Im Bauch der Königin
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Sie wolle nicht unter dem Label Migrationsliteratur gesehen werden, sagte Karosh Taha in einem Interview. Denn als zwar im nordirakischen Kurdistan geborene, aber im Ruhrgebiet aufgewachsene Schriftstellerin ...

Sie wolle nicht unter dem Label Migrationsliteratur gesehen werden, sagte Karosh Taha in einem Interview. Denn als zwar im nordirakischen Kurdistan geborene, aber im Ruhrgebiet aufgewachsene Schriftstellerin schreibe sie auf Deutsch, spreche Deutsch weitaus besser als Kurdisch. Das hat sie mit ihrer Romanfigur Amal in "Im Bauch der Königin" gemeinsam.

Mit dem Leben zwischen zwei Kulturen, der Migrationserfahrung der Eltern hat aber auch die zweite Generation zu tun, aus deren Sicht das Aufwachsen in einem Kiez irgendwo im Ruhrgebiet geschildert wird. Da haben einige der Freunde und Nachbarn eben noch nicht den deutschen Pass, sondern nur die Duldung, leben mit der Ungewissheit. Da gibt es eben immer noch Werte, die die Community prägen und unterscheiden, Dinge, die der "Alman" in der Clique ungestraft sagen kann, die bei einem Türken oder Kurden tabu wären. Ähnlich wie die "neuen deutschen Medienmacher" gibt es eben auch die neuen deutschen Literaten, die mit ihren ganz unterschiedlichen Erfahren die heutige diverse Gesellschaft beschreiben.

Taha tut das aus einer interessanten Doppelperspektive, indem sie ihre Geschichte über die gleichen Protagonisten aus der weiblichen und aus der männlichen Perspektive erzählt, aus der Sicht von Amal und Raffiq. Amal ist ein Mädchen, das auffällt, das aneckt, wild und mitunter aggressiv. Tomboy, würde man anderswo sagen, ihre Lehrer und Mutter bezeichnen sie als "Mogli-Mädchen". Amal ist ein Vater-Mädchen, bei ihrem Vater fühlt sie sich verstanden. Um so schlimmer für sie, als der Vater die Familie verlässt, um nach Kurdistan zurückzukehren - obwohl seine Frau schwanger ist. Er, dessen Architekturstudium in Deutschland nicht anerkannt wurde, möchte wieder jemand sein.

Auch Raffiqs Vater ist Architekt, auch er will nach Kurdistan zurück, aber mit seiner Familie. Und hier ist es Raffiq, der Abiturient, der keinesfalls zurück in die fremde Heimat seiner Eltern will, deren Sprache er nur mangelhaft beherrscht. "Weil ich in Kurdistan das bin, was du in Deutschland bist!", schleudert er dem Vater bei einem Streit entgegen.

Kurdistan ist sowohl Sehnsuchtsort als auch Kontrapunkt. Amals Mutter, eine Frau, die nie etwas mit Religion am Hut hatte, beginnt das Kopftuch zu tragen und sich konservativ zu kleiden, als ihr Mann ausgezogen ist. Nicht aus Überzeugung, sondern um Begehrlichkeiten abzuwehren, sie könne als alleinstehende Frau nun leicht zu haben sein. Ironischerweise fangen nun die Frauen der Nachbarschaft an, sie um Rat in religiösen Fragen zu fragen, so dass sie tatsächlich beginnt, sich mit dem Koran auseinander zu setzen. Sie wollte ihrer Tochter ersparen, die Einschränkungen zu erfahren, die für eine junge Frau in der alten Heimat gelten - Einschränkungen, die Amal erlebt, als sie als Abiturientin nach Kurdistan reist, um den Vater und seine neue Familie kennenzulernen.

Sowohl Amal als auch Raffiq kreisen in ihren Erzählungen um Younes und seine alleinerziehende Mutter Shahira, die wegen ihres freizügigen Lebensstils und ihrer kurzen Röcke als "Hure" verschrieen ist. Gleichzeitig ist sie der Typ Löwnmutter, der die Nachbarn zur Rede stellt, wenn deren Kinder - auch Amal - Younes verprügelt haben. Das war allerdings, bevor Younes ein kräftiger junger Mann wird, der beste im Boxclub.

"Im Bauch der Königin" ist Coming of Age-Roman, schildert Fremdheits- und Diasporaerfahrung, auch wenn das Beziehungsgeflecht der jungen Protagonisten auch abgelöst von ihrem kurdischen Hintergrund etwas Universelles hat. Im Vergleich bleibt die "männliche" Sicht allerdings deutlich blasser, es sind Amal und Shahira, die dem Leser besonders prägnant vor Augen stehen und die die klarsten Konturen haben. Amal und Raffiq schildern wiederholt die gleichen Ereignisse, das aber ganz unterschiedlich. Dieser geteilte Blick auf eine Jugend im Kiez macht nur einen der Reize in Tahas Buch aus. "Im Bauch der Königin" besticht durch klare Beobachtungsgabe, durch Witz und Wärme und ist zugleich eine glaubwürdige Charakterstudie junger Menschen.

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Veröffentlicht am 17.05.2020

Mythos Timbuktu und der Kampf um altes Wissen

Die Bücherschmuggler von Timbuktu
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Bei Charlie Englishs Buch "Die Bücherschmuggler von Timbuktu" kommen gleich mehrere Arten von Lesern auf ihre Kosten - die historisch oder geografisch Interessierten, die Anhänger einer gut erzählten "David ...

Bei Charlie Englishs Buch "Die Bücherschmuggler von Timbuktu" kommen gleich mehrere Arten von Lesern auf ihre Kosten - die historisch oder geografisch Interessierten, die Anhänger einer gut erzählten "David gegen Goliath"-Geschichte und natürlich all jene, in deren Ohren schon der Klang des Ortsnamens Timbuktu magisch-verheißungsvoll klingt, ähnlich wie Sansibar, Samarkand oder Buchara. Um die Geschichte der sagenumwobenen Oasenstadt geht es auch, um Mythos und Realität, aber auch um den - lange Zeit ignoranten und selbstherrlichen - europäischen Blick auf Afrika, um die Macht von Worten und Wissen und um die Konflikte, die den Wüstenstaat Mali in der Gegenwart prägen.

Charlie English, lange Leiter des Auslandsressort des "Guardian", Mitglied der Royal Geographic Society und seit seinem 19. Lebensjahr immer wieder unterwegs in Afrika, verwebt Geschichte und Geschichten, journalistisches Handwerk und Storytelling. Sein Buch über die Bücherschmuggler, jene Bibliothekare und Gelehrten aus Timbuktu, die während der Besetzung der Stadt durch Islamisten und Milizen das Kulturgut ihrer Stadt und ihres Landes schützten, die Bibliotheken und Schriften, die den eigentlichen geistigen Reichtum der Stadt ausmachten.

Entdecker und Eroberer hatten in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder vergeblich und oft mit tödlichem Ausgang den Weg nach Timbuktu gesucht. Die Handelsstadt zwischen Niger und Sahara sollte sagenhaften Reichtum enthalten. Dächer aus Gold, ein El Dorado in Afrika, so die Hoffnung derjenigen, die als erste ihren Fuß in die Stadt setzen wollen. Ein Teil des Buches behandelt die Geschichte dieses Mythos, der Expeditionen und auch des Blickes auf Afrika, das die europäischen Mächte als Spielball ihrer eigenen Interessen sahen.

Der deutsche Afrikaforscher Heinrich Barth, der als einer der ersten Europäer tatsächlich Timbuktu erreichte, fand dort eine ganz andere Art von Reichtum: Schriften und Chroniken, die von afrikanischen Königreichen berichteten, die Chronik einer afrikanischen Geschichte, Rechtssprechung, Diplomatie - Dokumentation all dessen, was den Afrikanern von den Europäern damals abgesprochen wurde. Afrika hatte sozusagen tabula rasa zu sein - ein geschichtsloser Kontinent, dem erst die Weißen ihren Stempel aufdrückten. Die Manuskripte von Timbuktu waren der Gegenbeweis.

Vielleicht ist gerade dieser Exkurs in die Vergangenheit wichtig, um zu erklären, warum die Bibliotheken von Timbuktu, die auch in den alteingesessenen Familien von Generation zu Generation weitergegebenen Schriftrollen, den Bibliothekaren der Gegenwart so viel bedeuteten, dass sie den Islamisten trotzten und große Risiken auf sich nahmen. Denn so spannend es ist, über die Forschungsreisen und ihre teils exzentrischen, meist aber wagemutigen Persönlichkeiten zu lesen, ist es doch der stille Widerstand der Gelehrten, der hier fasziniert.

So wie einst die "Entdecker" afrikanische Reiche auslöschten, ihre Kultur und Tradition negierten und die Menschen, die sie vorfanden, als Rohstoff ansahen, versuchten auch die Kämpfer von AQUIM die Geschichte Timbuktus und des Nordens von Mali zu überschreiben - mit der Einführung der Scharia, mit der Zerstörung der Mausoleen, mit der brutalen Unterdrückung all dessen, was sie als haram, als unrein und unislamisch ansahen. Dass die alten Manuskripte als nächstes auf der Liste stehen könnten, ließ die Bibliothekare zu Bücherschmugglern werden: Die Manuskripte wurden zunächst in Privathäusern versteckt, schließlich durch die Wüste oder über den Fluss in die Hauptstadt Bamako geschmuggelt.

Eine solche Widerstandsorganisation erinnert ein bißchen an "Oneg Szabat" um Emanuel Ringelblum, den Archivar des Warschauer Ghettos: Völlig unmartialische Menschen, die nicht mit dem Gewehr kämpfen, sondern um den Erhalt von Wissen, die inmitten der Zerstörung und Gewalt noch dokumentieren.

Die Geschichte des Schmuggels, der zeitweise als Wettlauf gegen die Zeit erscheint, liest sich spannend wie ein Krimi - auch wenn am Ende Fragen aufkommen über die tatsächliche Zahl der Dokumente, über mögliche Übertreibungen oder wie groß die Gefahr für die Dokumente überhaupt je war. "Jeder hat seine eigene Version", sagt einer der Protagonisten, als er mit diesen Fragen konfrontiert wird. Gab es persönliche Bereicherungen, wurden Zahlen übertrieben, um ausländische Spendengelder locker zu machen? Manche Fragen bleiben unbeantwortet. Aber den Spirit, Bücher vor der Vernichtung zu bewahren, wird jeder Bücherfreund zu schätzen wissen. Klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 12.09.2019

Poesie des Marschlands und ein starkes Mädchen

Der Gesang der Flusskrebse
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Delia Owens hat einen großen Wurf gestartet mit ihrem Buch "der Gesang der Flusskrebse". Ihr Buch ist sowohl eine Coming of Age-Story, Außenseiterstudie, Justizdrama und poetische Landschafts- und Naturbeschreibungen. ...

Delia Owens hat einen großen Wurf gestartet mit ihrem Buch "der Gesang der Flusskrebse". Ihr Buch ist sowohl eine Coming of Age-Story, Außenseiterstudie, Justizdrama und poetische Landschafts- und Naturbeschreibungen. Das ist viel. Das könnte ziemlich leicht ziemlich daneben gehen oder sentimental-kitschig geraten. Zum ausgesprochenen Gewinn für die Leser tut es das aber nicht. Statt dessen lässt das Buch nicht nur am Lebensweg einer faszinierenden Frauenfigur teilhaben, die sich in widrigsten Verhältnissen behauptet, bietet spannende Unterhaltung und zugleich faszinierende Einblicke in die Natur des Marschlandes von North Carolina.

Möglicherweise gibt es davon noch mehr, als ich mitbekommen hatte denn ich habe den "Gesang der Flusskrebse" in der Hörbuch-Version kennengelernt, wobei die Sprecherin Luise Helm mit ihrer Interpretation des Textes es eindrucksvoll geschafft hat, ein Kopfkino loszutreten und dem Buch buchstäblich eine faszinierende Stimme zu geben.

Sechs Jahre alt ist Kya Clark, als der Leser/Hörer sie kennenlernt - und die Umstände ihres Lebens könnten kaum schwieriger sein. Sie ist das jüngste Kinde einer Familie in einer Hütte im Marschland von Norrth-Carolina, die marginalisiert als "Leute aus dem Sumpf" gelten, gesellschaftliche Außenseiter des nahegelegenen Städtchens. Die Mutter, eine künstlerisch begabte Südstaatenschönheit, stammt wohl aus einer "guten" Familie. Doch sie endete in einer Hütte in der Wildnis, an der Seite eines prügelnden Säufers, flieht schließlich vor der häuslichen Gewalt. Die älteren Geschwister Kyas suchen ebenfalls so schnell wie möglich ihr Heil weit weg von dem prügelnden Vater. Kya bleibt alleine mit dem Mann zurück, der sie meist ihrem Schicksal überlässt.

Ein wenig erinnert das barfüßige Mädchen in der Latzhose an Scout aus Harper Lees "Wer die Nachtigall stört" - aufgeweckt, mit einem offenen Blick, voller Fragn. Doch wo Scout den Rückhalt ihres Vaters und ihres Bruders weiß, ist Kya buchstäblich verlassen und allein. Die Schule besucht sie nur einen Tag lang - verlacht und verhöhnt will sie mit den Menschen der Stadt möglichst wenig zu tun haben. Als irgendwann auch der Vater verschwunden ist, erweist sich Kya als wahre Überlebenskünstlerin. Mit de Verkauf von Muscheln und geräucherten Fischen finanziert sie das wenige, was sie zum Leben braucht, führt erfolgreich ein Leben unter den Radar der Behörden, die sich für das verwildernde, vernachlässigte Kind interessieren könnten.

Doch der Preis ist Einsamkeit, Kyas Freunde sind Möwen und Reiher, fasziniert von der Natur um sie herum wird sie zu einer exzellenten Beobachterin. Ihre einzigen Freunde sind das schwarze Ehepaar Jumpin und Mabel, am ehesten Elternersatz, aber in der Südstaatengesellschaft der 50-er Jahre angesichts der Rassentrennung nicht in der Lage, sich so um das Mädchen zu kümmern, wie sie es gerne würden. Und dann ist da noch Tate, der Sohn eines Krabbenfischers, der mit Kya die Liebe zur Natur teilt und die erste Liebe des menschenscheuen Mädchens wird.

Während Kya aufwächst, erinnert sie mich an die von Jodie Foster dargestellte Filmfigur "Nell" - ein Mädchen in völliger Isolation. Doch Kya ist sich ihrer Einsamkeit bewusst, leidet darunter., ebenso wie unter ihrer Ablehnung als "Marschmädchen" Als Tate zum Studium die Stadt verlässt und sich nicht wieder bei ihr meldet, muss die junge Frau die nächste Enttäuschung verkraften. Kurz glaubt sie an eine Zukunft mit Chase, dem örtlichen Footballstar. Doch der sieht das "Marschmädchen" als sein exotisches Vergrnügen - geheiratet wird standesgemäß. Als Chase Leiche gefunden wird, haben die Ermittler Kya im Blick. Im Fall einer Verurteilung droht ihr die Todesstrafe. Ist das "Marschmädchen" eine Killerin?

Delia Owens schafft es, den Spannungsbogen immer wieder neu anzulegen, den Leser/Hörer zu Mutmaßungen zu bewegen. Doch so unterhaltsam- spannend das auch ist - die wahre Stärke dieses Romans sind die Beschreibungen der Landschaft, die Stimmung zwischen Morgendämmerung und Nacht, das Leben und der Überlebenskampf der Natur, die zur wahren Lehrerin der jugen Kya wird, ihr Auge schärft und sie zu einer "natürlichen" Naturforscherin macht. Stellenweise wird Kya dabei zur Superfrau stilisiert, was dann doch ein bißchen zu viel des Guten ist. Doch das ändert nichts an dem positiven Gesamtweindruck dieses Buchs, dem man viele Leser (oder eben Hörer in der wirklich hörenswerten Audioversion mit einer perfekt zu dem Text passenden Stimme der Sprecherin) wünscht. Eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Verfilmung dieses ausgesprochen leinwandtauglichen Romans anstehen dürfte.

Veröffentlicht am 09.07.2024

Frau. Berge. Freiheit.

Das Flüstern im Eis
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Von wegen Vollblutpolizist: Commissario Grauner ist zwar Mordermittler in Bozen, sein Herz hängt aber am Nebenerwerb als Viechbauer, an seinen 16 Kühen, dem Hof, und dem ruhigen ländlichen Leben. Lieber ...

Von wegen Vollblutpolizist: Commissario Grauner ist zwar Mordermittler in Bozen, sein Herz hängt aber am Nebenerwerb als Viechbauer, an seinen 16 Kühen, dem Hof, und dem ruhigen ländlichen Leben. Lieber früher als später will er in den vorgezogenen Ruhestand gehen, den Hof an die Tochter übergeben und sich mit seiner geliebten Alba auf die Alm verziehen. Doch Grauner kommt gar nicht dazu, dem Staatsanwalt seine diesbezüglichen Wünsche mitzuteilen in Lenz Koppelstätters "Das Flüstern im Eis". Es gilt, einen Mord zu ermitteln, seinen letzten Fall, so hofft Grauner.

Immerhin muss er dazu nicht in die verhasste Stadt, sondern in ein Südtiroler Dörfchen am Fuße des Ortlers. Der Leiter der dortigen Bergwacht ist dort tot aufgefunden worden, und die Mistgabel in der Brust macht es schwer, hier einen natürlichen Todesfall zu vermuten. Um sein Team zusammenzurufen, braucht Grauner nicht lange: Seine Mitarbeiter Tappeiner und Saltapepe sind bereits vor Ort, auf einer Hütte, um den Wettbewerb zweier Eiskletterinnen auf der Ortler-Nordwand zu verfolgen. Schließlich will Südtirolerin Tappeiner ihrem neapolitanischen Freund und Kollegen die Bergwelt schmackhaft machen.

Drama allerdings auch am Gletscher, denn die iranische Kletterin, die sich mit einer italienischen Konkurrentin den Wettkampf geliefert hat, ist zwar als erste am Gipfel, erreicht aber nicht die Talstation. Nur einer ihrer Eispickel wird nahe einer Gletscherspalte gefunden. Und nicht nur das - mit einem weiteren Toten schwillt die dörfliche Mordrate gewaltig an. Immerhin: Grauners landwirtschaftliches Know-How kommt unerwartete gelegen, den Kreis der Verdächtigen einzuengen. Saltapepe muss sich unterdessen Höhenangst, Felsen und ewigem Eis stellen, um Zeugen zu vernehmen. Immerhin kann der Hüttenwirt einen verdammt guten Espresso zubereiten.

Worum es bei dem Plot geht, ließ sich zumindest teilweise früh erahnen. Das machte allerdings gar nichts und tat weder Spannung noch Lesevergnügen Abbruch, denn sowohl der unorthodoxe Grauner als auch der seinem süditalienischen Element enthobene Saltapepe sind sympathische und sehr menschelnde Ermittler. Koppelstätter schreibt flüssig und lebendig und es macht Spaß, seinen Protagonisten buchstäblich durch Berg und Tal zu folgen.

Nicht zuletzt sind es die Naturbeschreibungen und die Faszination Bergsteigen, die in diesem Buch eine Rolle spielen, zusammen mit kernigen Bergführern, Schicksalsgemeinschaften auf sturmumtösten Hütten und Freundschaften, die Raum und Zeit überwinden. Mit dem Blick auf die Situation junger Frauen im Iran und die blutige Unterdrückung der Proteste - zuletzt mit dem Motto "Frau. Frieden. Freiheit" hat "Das Flüstern im Eis" auch einen unerwartet aktuellen Bezug.

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Veröffentlicht am 08.07.2024

Ministerin mit Geheimnissen

Dunkler Abgrund
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Clara Lofthus, erst seit wenigen Monaten Witwe und nun alleinerziehende Mutter von Zwillingen, wird zur neuen norwegischen Justizministerin ernannt. Einerseits bringt sie das ihrem Ziel näher, Gesetze ...

Clara Lofthus, erst seit wenigen Monaten Witwe und nun alleinerziehende Mutter von Zwillingen, wird zur neuen norwegischen Justizministerin ernannt. Einerseits bringt sie das ihrem Ziel näher, Gesetze voranzubringen, die Kinder besser vor Misshandlungen schützen. Andererseits muss sie feststellen, dass sie rund um die Uhr verfügbar sein muss und nur noch wenig Autonomie in ihrem durchgetakteten Arbeitsalltag hat.

Das aber ist nur das geringste ihrer Probleme: Denn mit der Bergung eines vor 30 Jahren bei einem Unfall in ihrem westnorwegischen Heimatfjord versunkenen Autos wird das Interesse eines Lokaljournalisten an ihr geweckt. Dann verschwinden ihre Zwillingssöhne und sie findet eine Nachricht von Entführern vor. Die Polizei dürfe sie nicht einschalten, sonst würden die Kinder getötet. Wie kann sie als Politikerin im Rampenlicht der Öffentlichkeit versuchen, das Verschwinden ihrer Kinder aufzuklären?

"Dunkler Abgrund" von Ruth Lillegraven ist eine Fortsetzung von "Tiefer Fjord", vor ein paar Jahren erschienen. Wer das erste Buch gelesen hat, kennt bereits einige der Geheimnisse von Clara Lofthus, die sie nun einzuholen scheinen. Doch auch ohne Kenntnis dieses Buches wird schnell klar, dass Clara einiges zu verbergen hat und ihre persönliche Geschichte Abgründe hat.

Es ist schwer, über "Dunkler Abgrund" zu schreiben, ohne zu spoilern. Nur so viel: Es gibt zahlreiche überraschende Wendungen in diesem düsteren norwegischen Pageturner. Clara ist eine ambivalente Protagonistin, das Bild, das sie nach außen vermittelt, wird ihrer komplizierten Persönlichkeit nicht gerecht. Doch nicht nur die frischgebackene Ministerin hat einiges zu verheimlichen. Immer wieder schildert die Autorin auch die kargen und dramatischen Gebirgslandschaften des Vestlands, das die Kulisse für eine dramatische Zuspitzung bildet.

"Dunkler Abgrund" ist ein geschickt gestrickter Thriller in der Tradition von Scandinavia Noir, in dem Gewalt eher unter der Oberfläche brodelt und die Figuren sich ihren inneren Dämonen stellen müssen. Schmerzliche Wahrheiten inbegriffen.

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