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Veröffentlicht am 15.04.2024

Großartig und beklemmend

Prima facie
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„Allen Frauen hinter ‹jede Dritte›“ - schon bei der Widmung läuft es mir kalt den Rücken runter. Ich bin so froh, dass der unabhängige @kjonaverlag „Prima Facie“ ins Deutsche hat übersetzen lassen. Es ...

„Allen Frauen hinter ‹jede Dritte›“ - schon bei der Widmung läuft es mir kalt den Rücken runter. Ich bin so froh, dass der unabhängige @kjonaverlag „Prima Facie“ ins Deutsche hat übersetzen lassen. Es hat mich mit den Einblicken in juristisches Arbeiten und durch die spannende Protagonistin voll in seinen Bann gezogen.

Tessa Ensler ist erfolgreiche Strafverteidigerin und hebt sich von ihren Kolleg:innen ab, da sie aus einer Arbeiter:innenfamilie kommt und nicht auf Kontakte sowie ein festes Sicherheitsnetz bauen kann. Sie hat einen unerschütterlichen Glauben an die Neutralität des Gesetzes und verteidigt deshalb auch (mutmaßliche) Täter in 6ualstrafprozessen. Im ersten Teil des Romans bekommt mensch ein Gespür für strukturelle Ungleichheiten (da die P0lizei z. B. vermehrt arme und/oder rassifizierte Menschen festnimmt) und hat gleichzeitig das Gefühl, dass ihr Vertrauen in das Gesetz nicht so ganz der Realität entspricht. Ziemlich genau in der Mitte passiert etwas so Schlimmes, dass Tessa selbst zur Zeugin wird und das System nun von der anderen Seite kennenlernt.

Mein Herz ist auf den letzten Seiten in viele Teile gebrochen, ich bin voller Wut und Traurigkeit. Gleichzeitig sehe ich es aber als hoffnungsvolles Zeichen, dass es diesen Roman gibt und damit noch einmal mehr Öffentlichkeit für die himmelschreiende Ungerechtigkeit eines Systems, in dem aktuell die Betroffenen nachweisen müssen, dass sie nicht lügen und auch wirklich „Nein“ gesagt haben. Es war für mich gleichzeitig faszinierend und erschütternd, die Perspektive einer Strafverteidigerin zu lesen. Und auch, wenn sich die Rechtssysteme von Großbritannien und Deutschland unterscheiden, bleibt das zugrundeliegende Problem das gleiche.

Jede dritte Frau wird im Laufe ihres Lebens Betroffene von 6ualisierter und/oder physischer Gewalt. Nur etwa 1 von 100 V•rgew•ltigungen führt zu einer Verurteilung. Die meisten Betroffenen bringen sie nicht einmal zur Anzeige. Und dieses Buch gibt ein sehr gutes Gefühl dafür, warum das so ist. 💔

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Veröffentlicht am 15.04.2024

Eine Geschichte über Männer, Selbstoptimierung und Freundinnen mit absoluter Sogwirkung

That Girl
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Die Autorin kannte ich bislang nicht, aber das Cover in Kombination mit dem Titel hat mich sofort neugierig gemacht, weil mir das Konzept "That Girl" in feministischen Kreisen schon begegnet ist.
Die Geschichte ...

Die Autorin kannte ich bislang nicht, aber das Cover in Kombination mit dem Titel hat mich sofort neugierig gemacht, weil mir das Konzept "That Girl" in feministischen Kreisen schon begegnet ist.
Die Geschichte hat eine extreme Sogwirkung entfaltet, ich habe das Buch innerhalb eines Tages gelesen. Die verschiedenen Textformen (Chats, Manuskriptausschnitte, normale Erzählung) machten das Lesen leicht und abwechslungsreich. Das Titelthema wird in meinen Augen ausreichend dargestellt und kritisiert. Es nimmt jedoch bei Weitem nicht die komplette Geschichte ein. Vielmehr geht es um toxische Beziehungen und Dating, vor allem aber auch um Freundinnenschaft. Die Protagonistin ist vielschichtig, ihre Freundinnen hätten für mich noch ausführlicher dargestellt werden können.
Vor allem die zentrale Beziehungsgeschichte ist so geschickt geschrieben, dass ich selbst nicht wusste, ob das ungute Bauchgefühl nun berechtigt ist oder nicht. Die Loyalität der Freundinnen hat sich währenddessen immer wie eine liebevolle Umarmung angefühlt.
Alle, die Wut auf Selbstdarstellung, übersteigerte Optimierungsansprüche und Männer haben, werden hier eine tolle Lesezeit haben.

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Veröffentlicht am 15.04.2024

Nuancierter Gesellschafts-/Liebesroman und absolutes Highlight!

Alles gut
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Was für ein großartiger Roman, ich bin nur so durchgeflogen - schon jetzt unter meinen Top 3 dieses Jahr!
Das Cover ist rückblickend einfach so gut gewählt, weil es auf seine schlichte Art irgendwie schön ...

Was für ein großartiger Roman, ich bin nur so durchgeflogen - schon jetzt unter meinen Top 3 dieses Jahr!
Das Cover ist rückblickend einfach so gut gewählt, weil es auf seine schlichte Art irgendwie schön und traurig zugleich ist - genau wie der Inhalt.

Protagonistin der Geschichte ist Jess. In ihrem ersten Job bei Goldman Sachs ist sie die einzige Frau und die einzige Schwarze - eine Kombination, die es ihr alles andere als leicht macht. Der Roman dreht sich aber gar nicht in erster Linie um ihre Diskriminierungserfahrung, auch wenn mensch beim Lesen trotzdem ein gutes (beklemmendes) Gefühl dafür bekommt. Vielmehr ist „Alles gut“ eine Enemies-to-Lovers-Geschichte mit einem ausgeprägten gesellschaftskritischen Blick. Denn in ihrem Job trifft Jess nach der Uni wieder auf Josh, der auf den ersten Blick ihr Gegenteil zu sein scheint: weiß, mittelständig, männlich, konservativ. Das klingt verdammt unattraktiv, I know, aber ich muss sagen, dass die Autorin ein unfassbares Talent für ihre Charaktere hat. Ich sympathisiere überhaupt nicht schnell mit männlichen, konservativen Figuren, bei Josh ist das aber passiert. Manche Leser:innen fanden wiederum Jess unsympathisch, weil zu emotional. Dem kann ich nicht zustimmen, ich halte ihre Emotionalität zumindest überwiegend für eine verständliche Reaktion auf ihre Erfahrungen. Der Roman wirft für mich sehr differenziert die Frage auf, wie sehr eine Person gesellschaftliche Missstände sachlich und analytisch betrachten kann, wenn sie selbst unter ihnen leidet - und ob diese Betrachtung nun wertvoller ist als eine Reaktion aus Betroffenheit heraus.

Beide Protagonist:innen sind unfassbar vielschichtig geschrieben. Ich konnte mich sehr gut in sie einfühlen, beide sind mehr als die Summe ihrer (politischen) Einstellungen und haben trotz aller Unterschiede eine Menge Gemeinsamkeiten, gleichzeitig rollten sich mir an manchen Stellen die Fußnägel hoch. Sei es wegen rassistischer Einstellungen von Josh oder wegen konfliktvermeidenden Verhaltens von Jess. Ein extrem nuanciertes Buch, das es schwer macht, sich klar auf eine Seite zu schlagen und dafür plädiert, sich nicht in Echokammern zurückzuziehen ohne dabei diskriminierende Einstellungen unkritisch zu billigen. Das Ende strotzt nur so vor Spannung aufgrund ungelöster Konflikte, was durchaus etwas unzufriedenstellend ist für harmoniebedürftige Wesen, aber irgendwie auch eine Realität von Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten abbildet. In meinen Augen ein verdammt gutes Debüt und eine absolute Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 18.07.2024

Auf die schmerzvollste Art schön

Die schönste Version
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TW: häusliche und sexualisierte Gewalt

Ruth-Maria Thomas hat hier ein unglaublich schmerzvolles und intensives Debüt geschaffen, mit dem ich mich in Teilen viel zu stark identifizieren konnte.

Jella ...

TW: häusliche und sexualisierte Gewalt

Ruth-Maria Thomas hat hier ein unglaublich schmerzvolles und intensives Debüt geschaffen, mit dem ich mich in Teilen viel zu stark identifizieren konnte.

Jella und Yannick führen eine Beziehung, die gesellschaftlich gern als „leidenschaftlich“ bezeichnet wird. Die Autorin zeichnet in „Die schönste Version“ auf zwei Zeitebenen eindrücklich die Dynamiken einer toxischen Beziehung. Wie konnte es dazu kommen, dass Jella trotz einer zu Beginn so wunderschön erscheinenden Partnerschaft eines Tages auf dem Polizeirevier sitzt und Anzeige erstattet - mit den Würgemalen noch am Hals?

Dabei behandelt der Roman nicht nur, warum Frauen in gewaltvollen Partnerschaften bleiben, sondern auch das Aufwachsen als Frau in einer durch und durch misogynen Gesellschaft. Das Setting einer Kleinstadt in der Lausitz während der 00er-Jahre setzt der Handlung für mich persönlich das Krönchen auf. Die Perspektivlosigkeit junger Menschen in dieser strukturschwachen Gegend aber auch die Verbundenheit mit ihr ist immer wieder spürbar.

Thomas zeichnet komplexe, ambivalente und nahbare Charaktere. Jella bemüht sich entsprechend der patriarchalen Erwartungen von Anfang an darum, Männern zu gefallen. Ihre ersten sexuellen Erfahrungen sind entsprechend so schrecklich wie sie nur sein können. Bei allen Fragen, die sie sich danach stellt, war mir schlecht vor Wut und Trauer. „Ist wirklich etwas passiert? War es denn überhaupt so schlimm? Hätte ich klarer kommunizieren müssen?“ In welcher Welt leben wir, dass Gewaltopfer sich diese Fragen stellen - und warum hat sich das einfach kein Stück verändert? 💔

Doch Jella ist auch impulsiv, verletzt andere Menschen, während sie versucht, die Kontrolle über ihr Leben wiederzuerlangen. Das macht sie für mich als Figur unglaublich spannend und greifbar. Gleichzeitig schafft es die Autorin, niemals ernsthaft zu vermitteln, Jella sei auch nur in Teilen mitschuldig an dem, was ihr passiert. Das halte ich für ein großes Talent, denn die Protagonistin wird mit diesen Fragen ständig konfrontiert. Wieder und wieder zeigen sich außerdem ihre Traumata und das schiere Ausmaß derer hat mich zerstört. 😭

Wir begleiten Jella während der 11 Tage nach der Tat. Ihren Freundinnen öffnet sie sich erst extrem spät und während auch dieser Punkt mir so unfassbar weh getan hat, war das Thema Freundinnenschaft immer wieder auf heilsame Art präsent.

Und so lässt mich der Roman auch zurück: mit schmerzendem, aber auch irgendwie geheiltem Herzen und der Frage, warum ich so viel Lebenszeit mit den unerreichbaren Idealen des Patriarchats verschwendet habe statt mit meinen Freundinnen eine gute Zeit zu haben. Ich bin beeindruckt vom Schreibstil der Autorin, auch wenn er phasenweise aufgrund seiner fragmentarischen Art herausfordernd war. Doch das passt meiner Meinung nach perfekt zum Inhalt, welcher ebenso Zeit und Raum zum Reflektieren braucht. Ein Text, der einfach weggeatmet werden kann, hätte dem widersprochen.

Achtet auf die Triggerwarnungen, aber lest dieses Buch, wenn ihr könnt. Ich denke, es kann ganz viele Menschen erreichen. Ob mit oder ohne Gewalterfahrung, ob Millenial oder nicht. Die grundlegenden Dynamiken haben sich leider nicht merklich verändert. 2023 waren 70,5 % aller Opfer häuslicher Gewalt weiblich. Jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu ermorden, jeden 3. Tag gelingt es ihm. Wir müssen Betroffenen glauben und dürfen ihnen keine Schuld zusprechen, denn kein Mensch hat das Recht, einem anderen das Leben zu nehmen oder es zu bedrohen. Genau das vermittelt der Roman auf die schmerzvoll-schönste Art. ❤️‍🩹

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Veröffentlicht am 12.07.2024

Ein wohltuendes Plädoyer für Gemeinschaft, Zusammenhalt und Naturverbundenheit

Forgotten Garden
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„Forgotten Garden“ war mein erstes Buch von Sharon Gosling, ein anderes stand aber bereits auf meiner Leseliste. Und ich hatte eine wunderschöne Lesezeit mit diesem Roman, der mir viel Hoffnung in die ...

„Forgotten Garden“ war mein erstes Buch von Sharon Gosling, ein anderes stand aber bereits auf meiner Leseliste. Und ich hatte eine wunderschöne Lesezeit mit diesem Roman, der mir viel Hoffnung in die Menschheit geschenkt hat.

Luisa hat sich nach dem traumatischen Tod ihres Mannes von ihrer Leidenschaft als Landschaftsarchitektin zurückgezogen, bekommt aber die Chance, im abgelegenen Collaton einen Gemeinschaftsgarten aufzubauen. Dort trifft sie nicht nur auf den Boxlehrer Cas, sondern auch auf die Schülerin Harper, die sich mit Unterstützung von Cas gegen die Widrigkeiten ihres Lebens zu stellen versucht.

Alle Figuren fand ich wundervoll geschrieben und haben mein Herz erwärmt. Ich finde es so wichtig, gerade in strukturschwachen Gegenden Gemeinschaftsprojekte aufzubauen und genau darum geht es auch in diesem Roman. Die anfängliche Skepsis der Anwohner*innen weicht irgendwann der Freude an Gemeinschaft und das hat mich sehr berührt. Der Roman hatte für mich ein gutes Maß an Drama und wird vor allem getrieben von Menschen, die aneinander glauben und füreinander einstehen. Der kleine Küstenort ist authentisch und sehr greifbar beschrieben. Und die Schilderungen über den Gemeinschaftsgarten haben mir richtig Lust auf’s Gärtnern gemacht. 😊

Ich würde das Buch vor allem Menschen empfehlen, die eine leichte Geschichte suchen, welche trotz allem erstaunlich viel Tiefgang hat und wichtige Themen wie Jugendkriminalität, Trauma und Naturverbundenheit aufgreift. Sicherlich sind einige Elemente der Handlung etwas sehr optimistisch und unrealistisch, aber wenn mensch so etwas sucht, ist der Roman perfekt. Der Romance-Aspekt hätte für mich stärker ausgeprägt sein können, das ist aber meine einzige Kritik.

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