Eine Liebe gegen alle Widrigkeiten
Was, wenn eigentlich alles dagegenspricht, und es am Ende aber doch gelingt?
»Vergeht die Liebe, wenn das Begehren verblasst, oder erblüht sie gerade dann – befreit vom schönen Schein, von der körperlichen ...
Was, wenn eigentlich alles dagegenspricht, und es am Ende aber doch gelingt?
»Vergeht die Liebe, wenn das Begehren verblasst, oder erblüht sie gerade dann – befreit vom schönen Schein, von der körperlichen Hülle, die uns irreführt?« S.47
Habt ihr euch mal gefragt, wie es ist, ein Leben lang miteinander verheiratet zu sein, trotz aller Dramen, Enttäuschungen und Krisen? Schaut man gelegentlich zurück, was war eigentlich der Auslöser? Geht nicht jedem Ereignis ein anderes voraus?
Da sitzen sie nun, Alice und Jules, beide fast neunzig, in Paris im Jardin du Luxembourg. Gebrechlich, müde, versunken in ihrer eigenen Welt, in der sie bereits vieles vergessen haben. Eine jahrzehntelange Ehe liegt hinter ihnen, die Éliette Abécassis uns im Rückwärtsgang erzählt. Wir streifen vorbei an Momenten der Geschichte – der 11. September 2001, der Fall der Berliner Mauer, die Wahl von Francois Mitterrand, Mai 1968, der Algerienkrieg – die zu einem Echo des Zustands ihrer Ehe werden. Es sind nicht nur Momente des Glücks und der Zufriedenheit, es sind sechzig Jahre Auf und Ab, Träume und Enttäuschungen, Ideale und Zweifel, Ehebruch und Verrat.
Und doch ist die Liebe da, mit jedem Wort, in jeder Zeile. Wir graben uns rückwärts durch die Zeit, um am Ende einen Schatz zu heben – die Liebe, die unter all den Unwägbarkeiten verborgen liegt. Aber vielleicht war sie ja doch immer da? Nur sieht man sie nicht gleich auf den ersten Blick. Verschüttet vom Alltagstrott, von den Launen pubertierender Kinder, von der Erschöpfung zermürbender Routine und sexueller Unlust.
»Wie haben wir das nur gemacht?, denkt er. Trotz unserer gemeinsamer Herzen, trotz unserer Verirrungen, unserer Ausflüchte, unserer Leidenschaftlichkeit und unserer Schwächen, unserer kleinen Dramen und unserer großen Treulosigkeit. Wie haben wir es geschafft, uns in schwierigen Situationen zu ertragen und nach so vielen Jahren nicht voreinander zu fliehen?« S.46
Abécassis beweist ein weiteres Mal, wie präzise sie Beziehungen ausleuchten kann. Auf nur 173 Seiten spürt sie all die Momente auf, die dagegensprechen, dass die Liebe Bestand haben wird. Sie legt die Finger in die Wunden, zeigt die tiefen Narben. Bittersüß, zart und gewaltig zugleich. Die Kraft der Geschichte liegt in ihrer Banalität, ihrer Gewöhnlichkeit, in dem, was wir alle kennen. Die Liebe als Abenteuer in einer Zeit, wo man sich allzu schnell dazu hinreißen lässt, wegen Kleinigkeiten aufzugeben, hinzuschmeißen. Das Leben stellt uns täglich auf die Probe, wir machen Fehler, aber wir können auch verzeihen.
»Wir haben unser Leben gelebt, und wir werden es gemeinsam beenden, wenn unsere Freunde nicht mehr unsere Freunde sind, wenn unsere Kinder uns verlassen haben, um ihr eigenes Leben zu leben, und wenn wir allein zurückgeblieben sind. Vielleicht lässt uns unser Gedächtnis im Stich. Vielleicht verlieren wir unsere Sehkraft und unser Gehör, ebenso wie unsere Erinnerungen. Wir werden mit der Zeit immer verwirrter und können nicht mehr aufstehen, ohne hinzufallen. Und dann werden wir uns noch einmal kennenlernen wie am ersten Tag, als wir zusammen auf einer Bank im Jardin du Luxembourg saßen, vor fast fünfzig Jahren. Und ich werde glücklich sein, mein Leben mit dir verbracht zu haben, wie ein Mann, der liebt und der geliebt wurde.« S.60
Ich klappe das Buch zu, denke nach, lass Abécassis’ Worte wirken. Was bleibt nach dieser Geschichte? Die Erkenntnis, dass man im Augenblick leben soll, dass das Leben vergeht wie ein Wimpernschlag in der Zeit, dass nur eins zählt – die Liebe.
Ich blättere zurück, lese noch einmal, wie am Anfang alles endet, und denke mir: was, wenn alles dagegenspricht, und es am Ende doch gelingt!