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Veröffentlicht am 05.08.2024

Beeindruckender griechischer Generationenroman

Bittersüße Mandeln
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Stella befindet sich im Krankenhaus in Athen, ihre Mutter hatte einen Schlaganfall. Sie versucht einen Krankentransport zu organisieren, zu sehr misstraut sie dem griechischen Gesundheitssystem und weiß ...

Stella befindet sich im Krankenhaus in Athen, ihre Mutter hatte einen Schlaganfall. Sie versucht einen Krankentransport zu organisieren, zu sehr misstraut sie dem griechischen Gesundheitssystem und weiß um die gute medizinische Versorgung in ihrer Heimat Deutschland. Während des Wartens auf den Transport lernt sie ihren Onkel Oddy besser kennen und er beginnt ihr die griechische Geschichte ihrer Familie zu erzählen. Mittelpunkt der Schilderungen ist Stellas Großmutter Anna, die sich während der Zeit des Bürgerkriegs in den 1940er Jahren auf die Flucht begeben musste, es danach schaffte, alleine ihre fünf Kinder groß zu ziehen und nebenbei eine erfolgreiche Gemüseanbaufirma zu etablieren. Als ihr Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurück kommt, ändert sich ihr Leben schlagartig - Anna wird daran erinnert, dass Manolis, ihr Mann, nun wieder das Sagen hat. Trotzdem er sie und die gesamte Familie in den Abgrund zu stoßen droht, bleibt Anna die starke Säule ihrer Familie...

Hanna von Feilitzsch nimmt uns in "Bittersüße Mandeln" mit in die griechische Zeitgeschichte. Die Hauptprotagonistin Anna bewältigt dabei die allergrössten Schwierigkeiten - sei es die Flucht als Schwangere mit vier kleinen Kindern, die drohende Armut, die sie trotz der Tatsache, dass sie weder lesen noch schreiben kann, erfinderisch und ehrgeizig werden lässt und allen voran die patriarchale Gesellschaft, derer sie sich beugen muss, als ihr Ehemann wider erwarten aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt. Oft blieb mir der Atem weg, wie Manolis ihr Schaffen ignoriert, negiert und schließlich auch zerstört, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie es Anna wohl damit gehen mag. Der Mann hat das Sagen im Haus und kann tun und lassen, was er für richtig hält. Dass er dabei mit starken Depressionen zu kämpfen hat, ausgelöst durch den Krieg und das verräterische Hintergehen eines Verwandten, wird immer mehr klar und auch, dass die Krankheit in dem behandelten Zeitraum (1950er, 1960er) schlicht nicht als solche erkannt wurde. Anna schlägt sich tapfer und fügt sich, immer in der Überzeugung, dass es für ihre Familie das Beste sei. Dieses Sich-Ergeben in den vorherrschenden Strukturen schmerzt beim Lesen sehr, vor allem, weil Anna kaum Anzeichen erkennen lässt, dass sie sich dem widersetzen möchte, zu sehr ist sie in dem Gewohnten verhaftet. Im Laufe der Zeit allerdings erkämpft sie sich durch kleine Schritte eine gewisse Art von Freiheit und schließlich darf sie im Alter einen unerwarteten zweiten Frühling erleben.

Der Erzählstil der Autorin ist recht nüchtern aber gleichzeitig eingängig, sodass ich mich sehr gut in die schwierige Zeit, die geprägt von politischen Kämpfen, Armut und den patriarchalen Strukturen war, hineinversetzen konnte. Es wird dadurch eine ganz besondere, realistische Atmosphäre geschaffen, die die Schlichtheit des Alltags und die Komplexität der politischen Situation anschaulich wiedergibt. Auch die verkrusteten Strukturen des Familienverbands werden in all ihren negativen, aber auch positiven (Stichwort: Zusammenhalt) Facetten beleuchtet. Fällt es mir grundsätzlich schwer, mir viele verschiedene Charaktere zu merken, machte es mir die Autorin in "Bittersüße Mandeln" durch die eindrücklichen Schilderungen der Charaktere ziemlich leicht, mir diese zu merken. Besonders hervorheben möchte ich, dass man nie ahnt, welche Wendungen die Geschichte nehmen wird und so kommt es immer wieder zu überraschenden Ereignissen, die die Handlung in eine unerwartete Richtung laufen lassen. Auch weiß man lange Zeit nicht, welche der Töchter Annas nun Stellas Mutter ist. Die komplexen politischen Vorkommnisse werden so geschickt und einleuchtend in die Geschichte eingebaut, dass man getrost darauf verzichten kann, bei Wikipedia nachzuschlagen. Somit liest man nicht nur einen spannenden und vielschichtigen Generationenroman, sondern lernt auch viel über die griechische Zeit- und Kulturgeschichte, ohne belehrt zu werden.

Mein Fazit: "Bittersüße Mandeln" ist ein komplexer aber eingängiger Generationenroman über eine griechische Familie, der den Weg einer starken Frau und ihrer Familie von den 1940ern bis in die 70er Jahre nachzeichnet. Man lernt nicht nur viel über griechische Zeit- und Kulturgeschichte, sondern trifft auch wunderbare, vielschichtige Charaktere, die im Laufe der Zeit unterschiedliche und überraschende Entwicklungen durchmachen. Die Geschichte der Familie ist noch nicht aus erzählt und so bleibt zu hoffen, dass uns bald eine Fortsetzung dieses tollen Romans beglücken wird!

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Veröffentlicht am 17.07.2024

Wunderbarer Einblick in die Welt des Schreibens

Tintenspuren
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Andrea Hahnfeld hat mit "Tintenspuren" einen Schreibguide der besonderen Art veröffentlicht. Dort gibt sie einen Überblick über das Studium "Biographisches und Kreatives Schreiben" an der Alice Salomon ...

Andrea Hahnfeld hat mit "Tintenspuren" einen Schreibguide der besonderen Art veröffentlicht. Dort gibt sie einen Überblick über das Studium "Biographisches und Kreatives Schreiben" an der Alice Salomon Hochschule in Berlin. In der Einleitung gibt die Autorin Einblicke, weshalb sie sich für das Studium entschieden hat und stellt den Leser:innen ihren Bewerbungstext zur Verfügung. In jedem Kapitel werden die einzelnen Module des Studiengangs beschrieben - deren Inhalte, Infos zu den Lehrenden und sehr nützliche, weiterführende Literaturtipps zum Thema. Die Inhalte der Module reichen von Kreativem Schreiben, Prosa, Lyrik über Gesundheit & Schreiben, Lebensphilosophie, Lebensphasen, Sprachgeschichte & Soziale Medien bis hin zu Schreibgruppen-Pädagogik, Schreibberatung & Schreibkrisen, dem Szenischen Schreiben, Schreiben als Therapie und Creative Writing. Ebenfalls gibt es ein Modul, bei dem ein Praxisprojekt ausgearbeitet werden muss. Zudem wird ein Blick auf Arbeitsmarktanalysen und Forschungsmethoden geworfen. Als Wahlmodul wählte die Autorin Autofiktion und Nature Writing. Highlight in jedem Kapitel sind eine Auswahl an Texten, die Andrea Hahnfeld während des jeweiligen Moduls erschaffen hat. Oft kommentiert sie den Entstehungsprozess der Texte und lässt uns wissen, wie die Überarbeitung der Texte vonstatten gegangen ist.

Ihre Texte sind oft sehr persönlich und intim und gaben mir den Eindruck, dass ich die Autorin, ihre Persönlichkeit, ihre Geschichte, ihre Zweifel und ihre Entwicklung ein wenig kennenlernen und mitverfolgen durfte. Besonders gefallen hat mir, dass sie ihre Selbstzweifel (die ich von mir selbst gut kenne) oft thematisierte und den Leser:innen wissen lässt, wie sie damit umging bzw. umgeht. Dass es hierbei eine Entwicklung in Richtung mehr Selbstbewusstsein gab, kann man auch anhand ihrer kreativen Texte nachvollziehen. Ihr Geschriebenes ist sehr ehrlich und selbstreflexiv, was das Buch einfach sehr authentisch macht. Ich mochte auch, dass die Autorin eine tiefe Verbindung zu Tieren hat, was man ebenfalls anhand ihrer Geschichten erkennen konnte. Was mir am meisten im Gedächtnis blieb, war ihr mehrfacher Aufruf, sich mit einer ordentlichen Feedbackkultur zu beschäftigen und diese auch umzusetzen. Demnach ist es essentiell, seine Texte mit anderen Schreibenden zu teilen und deren Feedback einzuholen - allerdings auf eine stärkende Art und Weise, welche die positiven Seiten des Geschriebenen hervorhebt und sich von einer Defizitorientierung abwendet.

Da ich mich persönlich schon länger mit dem Gedanken beschäftige, eine Ausbildung in Richtung Kreatives Schreiben zu machen, kam "Tintenspuren" für mich genau zum richtigen Zeitpunkt. Für mich war es irrsinnig motivierend nachzuvollziehen, wie eine solche Ausbildung aussehen kann und was sie einem persönlich bringt, welche Entwicklung man dadurch vollzieht. Auch wenn für mich Berlin aufgrund der großen Distanz eher nicht in Frage kommt, hat es meine Lust auf ein Schreibstudium definitiv gestärkt. Sehr schön fand ich auch, dass die Autorin es geschafft hat, mein Interesse für Biographisches Schreiben zu wecken - ein Themenfeld, was bislang für mich eigentlich überhaupt nicht spannend war. Zusammenfassend kann ich sagen, dass "Tintenspuren" für mich ein sehr motivierender und fesselnder Guide ist, der einen wunderbaren Einblick in die Welt des Schreibens gibt.

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Veröffentlicht am 16.07.2024

...und mit James

Die Sache mit Rachel
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Cork in den 2010er Jahren. Rachel ist gerade dabei mit ihrem Literaturstudium am College fertig zu werden. Sie durchlebt die prägendste Zeit ihres Lebens, das getragen wird von Freundschaft, Liebe und ...

Cork in den 2010er Jahren. Rachel ist gerade dabei mit ihrem Literaturstudium am College fertig zu werden. Sie durchlebt die prägendste Zeit ihres Lebens, das getragen wird von Freundschaft, Liebe und dem Erwachsenwerden. Sie lebt zusammen mit ihrem neu gefundenen, schwulen besten Freund James zusammen, beide arbeiten in einer Buchhandlung, haben kaum Geld, verstehen es aber trotzdem sich zu amüsieren. Ihre Freundschaft ist resistent gegenüber den vielen Herausforderungen, die das Leben mit sich bringt und ist so eng, dass sie manch anderen Beziehungen im Weg zu stehen scheint. Gemeinsam planen die beiden nach London auszuwandern, doch schlussendlich kommt alles anders...

Caroline O'Donoghue erzählt die Geschichte ihrer Protagonistin rückblickend. Eingeleitet wird mit der schwangeren Rachel, die in einem Pub auf jemanden trifft, der sie an ihren Literaturprofessor erinnert. Damit beginnt die Rückschau auf Rachels 20er-Jahre. Die "junge" Rachel war für mich anfänglich etwas schwer zu ertragen. Sie wirkte auf mich naiv, unentschlossen und fahrig und ich konnte nicht wirklich nachvollziehen, weshalb die Freundschaft zwischen ihr und James so etwas besonders sein sollte. Das klärte sich für mich erst im Laufe der Geschichte, in der die beiden mir ziemlich ans Herz gewachsen sind. Gekonnt beschreibt die Autorin für mich, wie sich die Charaktere entwickeln, wie sie gefestigter werden in dem was sie erleben und wie sie wachsen. Besonders gut hat mir aber gefallen, wie der Zeitgeist thematisiert wird: (Indie-)Musik, Filme, Bücher und Serien spielen für die Hauptcharaktere eine wesentliche Rolle, dienen sie doch irgendwie als Mittel aus der Tristesse der Provinzstadt zu entfliehen, wenn auch nur im Geiste. Vor allem gibt es ein Zitat, dass mir als Musik- und Konzertfan langfristig hängen bleiben wir, trifft es doch den Kern, wie sich das Leben in seinen unterschiedlichen Fassetten im Laufe der Jahre verändert: "Er war noch Mitte dreißig und kinderlos, und so kamen er und Deenie viel herum. Wir trafen sie bei einem Konzert von Goldfrapp. Sie besuchten es so, wie ich jetzt mit meinem eigenen Mann zu Konzerten gehe - etwas Spaß, zuerst Abendessen, um elf zu Hause, eine gemeinsame Beschäftigung. Es gibt nur eine kurze Zeitspanne im Leben, in der man Konzerte mit wirklich spiritueller Hingabe besuchen kann." (S. 79 jm E-Book)

Neben dem Zeitgeist werden die unterschiedlichen (irischen) gesellschaftspolitischen Aspekte dieser Zeit thematisiert. Sei es die Schwierigkeit einer Abtreibung für irische Frauen, die Rezession, die fast alle Gesellschaftsschichten plagte oder die Struggles, die queere Menschen und ihre Angehörigen durchmach(t)en. Auch die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen und die religiöse Prägung finden, wenn auch nur dezent, ihren Eingang in die Geschichte. Trotz vielfältiger Thematiken handelt es sich bei "Die Sache mit Rachel" doch vorwiegend um einen Roman, der die Herausforderungen unterschiedlicher Beziehungen während der Zeit als junge Erwachsene beschreibt.

Mein Fazit: "Die Sache mit Rachel" ist ein kurzweiliger Roman über das Erwachsenwerden und die vielfältigen Beziehungen dabei, der den popkulturellen und gesellschaftspolitischen Zeitgeist (Irlands) in den 2010er-Jahren widerspiegelt. Besonders für Menschen der Generation Y weckt er viele Erinnerungen und mit seinem eingängigen Schreibstil ist er die perfekte Lektüre für Zwischendurch.

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Veröffentlicht am 01.07.2024

Beziehungsstatus: kompliziert

Man sieht sich
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Frie und Robert werden in den späten 1980er Jahren an der Oberstufe beste Freunde. Doch während sie ihre Freundschaft genießt, ist Robert heimlich in Frie verliebt. Im Laufe der Jahre verlieren sie sich ...

Frie und Robert werden in den späten 1980er Jahren an der Oberstufe beste Freunde. Doch während sie ihre Freundschaft genießt, ist Robert heimlich in Frie verliebt. Im Laufe der Jahre verlieren sie sich immer wieder aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. Immer wieder kommt es bei verschiedenen Wiedersehen zu intimen Momenten, aber der Zeitpunkt ist nie der richtige, um sich ganz aufeinander einzulassen. Doch ohne einander geht es irgendwie auch nicht...

Julia Karnick nimmt uns in "Man sieht sich" in einen ganz besonderen Mikrokosmos mit - den einer innigen und komplizierten Freundschaft. Frie ist abenteuerlustig, unbedarft und geht offen, aber auch ein wenig naiv in die Welt. Robert ist ernst, weiß was er will und was nicht und hat konkrete Ziele vor Augen. Beide scheinen grundverschieden, haben aber gegenseitiges Vertrauen zueinander. Auch wenn sie sich Jahre nicht sehen, keimt zwischen ihnen sofort wieder das vertraute Gefühl der Geborgenheit auf.

Frie ist ab und an schwer von Begriff, kompliziert und sehr selbstfokussiert, ich empfand sie teilweise als sehr nervig, wollte sie packen und schütteln. Oft hat sie Angst vor dem Leben und steht sich selbst dabei im Weg. Robert ist der ruhende, unprätentiöser Pol, der sich aber nicht alles gefallen lässt und gut weiß auf sich selbst zu schauen. Wie ein Magnet ziehen sie sich an und können doch nicht miteinander.

Was ich sehr wunderbar an dem Buch fand, ist, dass es um Liebe geht, ohne dabei kitschig und romantisch zu sein. Die Beobachtungen, die die Autorin über ihre Protagonist:innen anstellt, sind unaufgeregt und etwas distanziert, was die Charaktere sehr authentisch wirken lässt. Speziell Roberts Charakter ist für mich besonders geglückt. Er ist vielseitig aber doch sehr klar. Er leidet unter seiner (psychisch) erkrankten Mutter, ohne ihr dafür einen Vorwurf zu machen, was von einer tiefen Reife zeugt. Besonders schön fand ich das immer wieder stattfindende Aufeinandertreffen von Robert und Herrn Selk, einer Freundschaft, bei der Robert die Regeln dieser akzeptiert wie sie sind und sich nichts von ihr erwartet, sondern einfach seine Zeit zur Verfügung stellt.

Speziell ist in "Man sieht sich" auch das immer wiederkehrende Thema der Popmusik, was nicht nur daran liegt, dass Robert Musiker ist. Stets begleitet einen ein Soundtrack, Musik hat einen festen Platz im Leben der Protagonist:innen. Schließlich gibt es auch einen gemeinsamen Song, der vielleicht das einzig kitschige Element an der Geschichte ist. Besonders schön finde ich, dass am Ende des Buchs eine Tracklist mit allen relevanten Songs der Story aufgeführt sind - für meinen Geschmack eine hervorragende Compilation!

Die Geschichte der beiden wird chronologisch erzählt, wobei immer wieder größere Zeitspannen übersprungen werden. Gekonnt webt die Autorin das zwischenzeitlich Geschehene in die weitererzählte Story ein, sodass ich nie den Eindruck hatte, etwas verpasst zu haben. Trotzdem der Roman fast 500 Seiten umfasst, liest er sich aufgrund des angenehmen und kurzweiligen Erzählstils wie ein dünnes Büchlein. Die Autorin schafft es Bilder zu zeichnen, die einem lang in Erinnerung bleiben.

Mein Fazit: "Man sieht sich" ist ein großartiger Roman über Freundschaft und Liebe, der beinahe ohne Kitsch auskommt. Die Charaktere sind vielfältig und authentisch gezeichnet und der ansprechende Erzählstil lässt einen nur so durch die Seiten rasen. Eine perfekte Sommerlektüre, die lange in Erinnerung bleibt.

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Veröffentlicht am 30.06.2024

Beeindruckendes Portrait über die Rolle der Frauen in der Nachkriegszeit

Die kurze Stunde der Frauen
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Auf beeindruckende Weise arbeitet die Historikerin und Journalistin Miriam Gebhardt in "Die kurze Stunde der Frauen - Zwischen Aufbruch und Ernüchterung in der Nachkriegszeit" die Geschichte der deutschen ...

Auf beeindruckende Weise arbeitet die Historikerin und Journalistin Miriam Gebhardt in "Die kurze Stunde der Frauen - Zwischen Aufbruch und Ernüchterung in der Nachkriegszeit" die Geschichte der deutschen Frauen in eben jener Zeit auf. Sie kommt dabei nicht umhin, einige Mythen zu widerlegen. Etwa jene, dass Frauen im Nationalsozialismus bloß Opfer waren und vom System der Massenvernichtung nichts wussten. Oder dass die "Trümmerfrauen" das Land aus Eigeninitiative wieder aufbauten. Gekonnt zeigt sie auch die Vorgeschichte zu den jeweiligen Entwicklungen auf und macht somit deutlich, dass es nicht plötzlich zu gesellschaftlichen Veränderungen kam, sondern diese sich teilweise über Jahrzehnte ausbildeten.

Sie verwendet dabei verschiedene Arten von Quellen, beispielsweise Tagebücher, Briefe oder Wanderbücher. Durch diese eindringlichen Zeitzeuginnenberichte unterlegt sie ihre Thesen stichhaltig, ohne zu verallgemeinern und an Quellenkritik zu sparen. Außerdem werden die Erläuterungen durch diese persönlichen Eindrücke lebendiger, verständlicher und kurzweiliger.

Besonders ist auch, dass die Autorin ein Augenmerk auf die Unterschiede zwischen den Entwicklungen in der BRD und der SBZ bzw. DDR legt. Sie veranschaulicht, dass die Rolle der Frau in der DDR nicht etwa gleichberechtigt war, wie oftmals angenommen wird, sondern sie zusätzlich zur Notwendigkeit Arbeiten zu gehen, noch die Doppelbelastung der Care Arbeit übernehmen musste. Auch das konservative Bild des zwanghaft wieder etablierten bürgerlichen Familienbilds in der BRD, welches Alleinerziehende, Vergewaltigte und Alleinstehende mannigfach diskriminierte, weiß zu schockieren. Gebhardt erläutert verständlich, wie es dazu kommen konnte, dass Frauen im Westen weniger Lohn für ihre Arbeit bekamen und es oft für Frauen wenig attraktiv war, sich in der Politik zu engagieren. Traurig ist die Erkenntnis, dass sich viele Frauen mit ihrer zugewiesenen Rolle abgefunden und diese hingenommen haben, obwohl die Entwicklung vor dem Nationalsozialismus bereits eine andere war.

Mein Fazit: Miriam Gebhards Sachbuch macht verständlich, weshalb Frauen in Deutschland bis heute noch keine volle Gleichberechtigung erfahren. Es widerlegt einige Mythen über die Geschichte der Frauen in der deutschen Nachkriegszeit und zeigt die unterschiedlichen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland auf. Und es bestätigt für mich persönlich, dass der einzige Weg aus der patriarchalen Unterdrückung nur der Zusammenhalt sein kann.

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