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Veröffentlicht am 22.07.2024

Einfühlsames Debüt zum Thema Ausbeutung

Unter Dojczen
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Jolanta Maria Szczerbic ist ein beliebtes Importprodukt aus Polen. Sie kommt mit anderen aus ihrer Heimat im Bus nach Deutschland, um bei Familien zu arbeiten. Sie macht Pflegearbeit für alte Menschen, ...

Jolanta Maria Szczerbic ist ein beliebtes Importprodukt aus Polen. Sie kommt mit anderen aus ihrer Heimat im Bus nach Deutschland, um bei Familien zu arbeiten. Sie macht Pflegearbeit für alte Menschen, putzen, einkaufen, Hausarbeit, schafft aber auch Leute vom Bett in den Rollstuhl und dann in den Garten.

Als es bei der Familie Weiß in den bayrischen Voralpen besonders schlimm gewesen war, der alte immer Jooohhla und sie, immer neue Forderungen, hatte der Blick auf die Berge sie beruhigt. S. 8

Die Zeit hat sie zermürbt. Jola hat ein so großes Herz, dass sie schlecht nein sagen kann und dann wird immer mehr verlangt.

Jola wusste, was manche leisteten, um in Deutschland Geld zu verdienen. Zusammengepfercht in stinkenden Räumen, schmutzige Matratzen, Unterkünfte, wie Schweineställe. Zigaretten und Menschen waren in Polen billiger als in Deutschland. Jola machte sich keine Illusionen.

Dieses Mal hat die Agentur sie nach Hamburg vermittelt und als der Fahrer sie im Villenviertel aussteigen lässt, traut sie kaum ihren Augen. Die Frau, die sie empfängt, ist jünger als sie, wahrscheinlich die Tochter. Während sie mit Jola spricht, entschlüpft ihr mehrfach ein kieksender Lacher. Sie stellt sich als Bea vor und warnt Jola vor der eigensinnigen sturen Schwiegermutter, aber Jola traut sich das zu, sie hat schon einige alte Leute kennengelernt.

Fazit: In Mia Rabens Debüt geht es um Menschen aus Polen, die in ihrem Land keine Arbeit finden, aber von irgendetwas leben müssen. Sie lassen sich von polnischen Agenturen an deutsche Agenturen vermitteln und verdienen für harte und teils unzumutbare Arbeit einen Bruchteil dessen, was andere an ihnen verdienen. Es ist gut und wichtig, dass die Autorin die gegebenen Umstände thematisiert hat und es lädt zum Fremdschämen ein. Wer kennt sie nicht, die Nachbarn in der Doppelhaushälfte, die allein nicht mehr zurechtkommen. Statt die Eltern in ein Heim für betreutes Wohnen zu geben, engagiert man günstiges „Personal“ aus Polen, Rumänien oder der Ukraine, dann bleibt am Ende noch was vom Eigenheim für die Kinder. Die Geschichte ist außerdem unterhaltsam. Die Protagonistin ist eine kompakte kleine Frau, mit großem Herzen und Empathiefähigkeit. Die neue Familie bezahlt sie gut und schätzt ihr Dasein. Hier erfährt sie eine Wertschätzung, die sie auch in Polen nie kennengelernt hat und entfaltet sich und es tut gut ihr dabei zuzusehen.

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Veröffentlicht am 11.07.2024

Spurensuche

Seinetwegen
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Mit ihrer Mutter hat sie nicht über ihren Vater gesprochen, zu groß war die Angst vor dem schmerzlichen Blick. Sie selbst war zu klein, als ein Mann, in den VW-Käfer ihres Patenonkels knallte, der ihren ...

Mit ihrer Mutter hat sie nicht über ihren Vater gesprochen, zu groß war die Angst vor dem schmerzlichen Blick. Sie selbst war zu klein, als ein Mann, in den VW-Käfer ihres Patenonkels knallte, der ihren Vater auf dem Beifahrersitz kutschierte. Vater war nicht gleich tot, er lag in der Klinik im Koma, bis sie die Maschinen abstellten, auf Geheiß ihrer Mutter.

Manchmal macht Zora sich darüber Gedanken, warum sie diese Verlustängste hat, vor allem in Beziehungen, die ihr gut tun. Die Erkenntnisse aus solchen Fragen teilt sie mit der Psychiaterin Isadora und ihrem guten Freund Henri, bei einem Kaffee in der Stammkneipe. Später als sich Panfi dazugesellt sagt er, dass es im Knast mehr Tote als Lebendige gibt. Sie sitzen auf Schultern, ziehen an Haaren, sprechen mit ihren Mördern. Im Knast kann man sich schlecht ablenken oder dem Suff verfallen.
Die anderen ermuntern sie der Spur des „Töters“ ( sie weiß nicht, wie sie ihn sonst nennen soll) zu folgen. Während sie ersten Hinweisen nachgeht rutscht sie tiefer ins Erinnern. Wie sie in den Ferien bei ihren italienischen Großeltern war, die in einer Villa lebten. Die Großmutter Zora, nach ihr ist sie benannt, trug das Zepter und scheuchte die Hausmädchen herum. Bei ihr Zuhause in der Schweiz waren ihr auf dem Schulweg, Arbeiter begegnet, mit pechschwarzen Haaren und vielen dunklen Haaren auf den Armen und Schultern. Sie lebten in einem Bauwagen und die Jungs in der Schule riefen sie Tschings, das Schimpfwort für die zugereisten Italiener, die den Schweizern die Jobs und die Frauen wegnahmen.

So einer war auch ihr Vater, aber der studierte Medizin an der Fakultät, dort lernte er ihre Mutter, die Röntgenassistentin kennen.

Der Vater sei aus dem Auto geflogen, erfährt sie später aus Berichten, sei zwischen Koffern und Decken zum Liegen gekommen. Da wird er für Zora zum ersten Mal körperlich, nimmt Gestalt an, was muss er gedacht haben?

Fazit: Zora del Buono begibt sich auf Spurensuche. Sie versucht über Erinnerungen und Nachforschung ihren Vater wieder auferstehen zu lassen, bis sie die Hintergründe seines Todes und den Charakter seines „Töters“ durchleuchtet hat. Dann erst kann sie ihren Vater erneut sterben lassen und seinen Verlust verarbeiten. Ich mag die Gedankengänge der Protagonistin, die alle nachvollziehbar sind. Die Erzählungen über die Schweizer und deren Umgang mit den „Gastarbeitern“. Es wird nachvollziehbar wie Fremdenfeindlichkeit entsteht, geschürt wird und auf Heute adaptierbar ist. Die Autorin konnte mich mit ihrer ruhigen, gefassten Erzähltechnik nicht so abholen, ich bin mir aber sicher, dass es Geschmackssache ist. Deshalb mag ich meinen persönlichen ganz und gar subjektiven Leseeindruck nicht so sehr in meine Bewertung einfließen lassen.

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Veröffentlicht am 02.07.2024

Befremdliche Stille und Akzeptanz aus Japan

Das Loch
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Das junge Paar Asa-chan und Mune-chan ziehen aus ihrer Mietwohnung aus. Asa-chans Mann wurde von einer in die andere Präfektur versetzt, ist eine Gehaltsklasse aufgestiegen und die Überstunden werden bezahlt. ...

Das junge Paar Asa-chan und Mune-chan ziehen aus ihrer Mietwohnung aus. Asa-chans Mann wurde von einer in die andere Präfektur versetzt, ist eine Gehaltsklasse aufgestiegen und die Überstunden werden bezahlt. Ganz im Gegensatz zu Asa-chan selbst. Sie hat keine Festanstellung, muss auf jede Sondervergütung hoffen und sich dankbar zeigen und fühlt sich neben den Festangestellten als Mensch zweiter Klasse.

Die Fügung schwemmt sie einen Ort weiter, in das Haus seiner Eltern, das bis vor Kurzem vermietet war. Inmitten des Umzugs prallen die kalten Polarwinde mit der feuchtwarmen, subtropischen Luft zusammen und läuten den Monsun ein. Während Asa-chan in den Hundehausschühchen ihrer Schwiegermutter durch ihre neue Wohnung schleicht, weist die Ältere die Umzugsarbeiter ein.

Asa-chan richtet am frühen Morgen das Frühstück für ihren Mann und richtet seine Bento-Box. Sobald er das Haus verlässt kauft sie im nahen Supermarkt ein, noch bevor die Sonne zu hochsteht. In die Stadt fährt sie selten, schlechte Busverbindung. Seit ihrem Umzug verbringt sie die meiste Zeit allein Zuhause und langweilt sich. Wenn Mune-chan am späten Abend kommt, bereitet sie ihm etwas Miso Suppe und schaut ihm beim Essen zu, während er Monologe in sein Handy drückt.

Fazit: Diese Novelle hat es in sich und zeigt mit allen Konsequenzen, wie schwer Veränderung fällt. Und sie zeigt, die Minderwertigkeitsgefühle einer jungen Frau, die ihren Stellenwert in ihrem Leben noch gar nicht gefunden hat und in einem traditionsreichen Japan, mit strenger Geschlechterrollenverteilung vielleicht auch nie finden wird. Frauen arbeiten und leisten Care-Arbeit, vielleicht in einer größeren Selbstverständnisdimension als bei uns in Deutschland. Die Protagonistin wirkt, wie ein Blatt im Herbstwind, das von den Stürmen herumweht wird, sich kurz ausruht und atmet, um gleich von der nächsten Böe erfasst zu werden. Da ist weder Eigeninitiative, noch Resignation, sondern einzig befremdliche Stille und Akzeptanz. Eine durchaus empfehlenswerte kurze Geschichte.

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Veröffentlicht am 03.06.2024

Obwohl gut erzählt habe ich mich außenvorgelassen gefühlt

Zitronen
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Lilly Drach hatte zu dem vollgestellten Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, keine besondere Beziehung. Am ehesten lag ihr noch der Garten aber nicht ein ums andere Jahr. Mal gelang ihr die Apfelernte ...

Lilly Drach hatte zu dem vollgestellten Haus, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte, keine besondere Beziehung. Am ehesten lag ihr noch der Garten aber nicht ein ums andere Jahr. Mal gelang ihr die Apfelernte und sie kochte den ganzen Sommer Kompott, das August und sie tagelang aßen. Im nächsten Jahr ließ sie alles wie es war und krümmte keinen Finger.

August war ein ruhiger Junge, das verdankte er seinem Vater.

Mit zehn kannte August die Macht der Kränkung. Er wusste, dass er gerade stehen sollte, keinen Lärm machen, sein Zimmer aufräumen, dass aus ihm nie etwas werden würde, dass er dumm war, dass er nicht so blöd schauen sollte, dass es besser gewesen wäre, man hätte ihn abgetrieben, dass er sich nicht so anstellen dürfe, dass jetzt alles wieder gut war. S. 27

Nachdem der Vater zugeschlagen hat, tröstet die Mutter. Die Mutter interveniert, möchte von August wissen, wen er lieber mag, wen er retten würde, wenn das Haus brenne, Vater oder Mutter?

Wenn der Vater nachts nach Hause kam unterhielt er die Hunde, mit einem Tänzchen oder einer Jonglage.

Die beiden Hunde waren des Vaters bestes Publikum, hörig und unbeeindruckt gleichermaßen. S. 33

Dann war der Vater eines morgens weg und die Mutter schminkte sich wieder. Sie grämte sich, weil sie keinen Mann hatte. Von da an, kam zwischen die Mutter und den August eine eigenartige Distanz und fast sehnte sich August wieder nach seinem Vater, damit er von der Mutter getröstet werden konnte.

Fazit: Die Autorin zeigt uns zerstörerischste Familienumstände in der jeder, eigene Unzulänglichkeiten zu kompensieren versucht. Der Vater lässt seinen Frust an seinem Sohn aus, die Mutter missbraucht und manipuliert den Sohn, um von ihm wahrgenommen zu werden und um sich nach den väterlichen Attacken besser zu fühlen, weil sie nichts unternommen hat. Das gesamte Klima ist rau, herzlos und Mittel zum Zweck. Die Sprachmelodie ist etwas altbacken, deshalb kann ich die Zeit nicht einschätzen, in der die Geschichte spielt. Und obwohl Valerie Fritsch einen großartigen Schreibstil hat, konnte sie mich nicht abholen. Die ganze Erzählung hat mich außen vorgelassen. Ich habe mich nicht eingeladen gefühlt, als sei es nicht für mich erzählt. Wohl habe ich den Kopf geschüttelt, an vielen Stellen, weil die Eltern ihrem Kind das ganze Leben versauen. Auch finde ich das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom arg gut gezeigt. Und doch hat das Buch mein Herz nicht erreicht.

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