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Veröffentlicht am 03.08.2024

Vielschichtiger Roman über Suchende

Taumeln
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Das ist mein erster Roman von Sina Scherzant. Ihr Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hatte ich 2023 trotz des vielversprechenden Titels wegen akuter Leseüberlastung ausgelassen. ...

Das ist mein erster Roman von Sina Scherzant. Ihr Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hatte ich 2023 trotz des vielversprechenden Titels wegen akuter Leseüberlastung ausgelassen. Dafür habe ich jetzt bei ihrem zweiten Roman, verführt durch die interessante Kurzbeschreibung und die vielversprechende Leseprobe, zugegriffen.

Luisas Schwester Hannah ist seit mehr als zwei Jahren verschwunden. Niemand weiß, wo die junge Frau ist und Luisa vermutet, dass ihrer Schwester etwas zugestoßen ist. Doch als die polizeilichen Ermittlungen keinerlei Spuren ergeben, verlaufen die groß angelegten privaten Suchaktionen irgendwann im Sand. Nur ein kleiner, harter Kern von acht Menschen rund um Luisa trifft sich regelmäßig am Wochenende, um weitere Teilabschnitte des Waldes zu durchsuchen.
Nicht der rätselhafte Fall der verschwundenen Schwester, sondern diese Gruppe von Menschen und Luisa selbst steht im Zentrum von Scherzants neuem Roman.

Obwohl die meisten von ihnen Hannah nicht mal kannten, hat jede*r von ihnen seine eigene innere Motivation, an den Suchaktionen teilzunehmen.
Beispielsweise der mittelalte Junggeselle Frank. Er ist vereinsamt, fühlt sich im Leben gescheitert und ist auf der Suche nach sozialen Kontakten und nach einem Daseinszweck.

“Ihr Verlust hat ihm eine Art Hobby beschert und einen Grund, am Samstag aufzustehen, zu duschen, sich einen Kaffee zu machen, obwohl das Lämpchen schon blinkt, obwohl die Maschine entkalkt werden müsste, aber dafür hat er an den meisten Samstagen keine Zeit, denn er wird gebraucht, im Wald, da warten sie auf ihn.”

Die Suchenden wachsen zu einer kleinen Schicksalsgemeinschaft zusammen, die man fast Freundschaft nennen könnte. In Luisas eigenem Leben wurde durch das Verschwinden ihrer Schwester die Stoptaste gedrückt und die Familie schwer und nachhaltig erschüttert. Sie führen ein Leben wie in einem Wartezimmer.

Scherzant greift in ihrem Roman viele Themen auf. Manche wie Depressionen und die Konkurrenz unter Schwestern, werden nur angedeutet. Andere, wie das Thema Einsamkeit, werden stärker ausgearbeitet. Das gelingt ihr meiner Meinung nach gut, auch wenn eine klarere Fokussierung auf weniger Inhalte vielleicht noch stärker gewesen wäre.
Auch literarisch variiert Scherzant mit verschiedenen Stilmitteln, Tempi und Erzählformen, was sehr gut ihr schriftstellerisches Können zeigt, aber in meinen Augen vielleicht auch etwas zu beliebig verwendet wird.
Viele der von ihr verwendeten Bilder und die sprachliche Ausgestaltung finde ich richtig gut, wie beispielsweise der starke und interpretationsoffene Schluss.


Besonders gefällt mir, dass Scherzant zeigt, wie im Alltag viel von der Aufmerksamkeit, die wir unseren Mitmenschen und vor allem den Menschen die wir lieben, widmen sollten, verloren geht. Geht ein Mensch verloren, bekommen diese verschenkten Augenblicke neues Gewicht.

„Taumeln“ ist nicht die Geschichte, wie das Rätsel der verschwundenen Hannah gelöst wird. Es ist vielmehr die vielschichtig erzählte Geschichte von Menschen, die nicht nur im Wald, sondern im Leben auf der Suche sind.

Für mich vielleicht kein Highlight, aber ein interessanter und lesenswerter Roman einer vielversprechenden Autorin und Schriftstellerin.

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Veröffentlicht am 19.07.2024

Lesenswert, aber mit ein paar Schwachstellen

Nach uns der Sturm
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Das südostasische Malaysia ist seit 1963 bis heute eine unabhängige, konstitutionelle Wahlmonarchie. Das war nicht immer so, denn die Halbinsel war viele Jahre britische Kronkolonie und stand unter wirtschaftlicher ...

Das südostasische Malaysia ist seit 1963 bis heute eine unabhängige, konstitutionelle Wahlmonarchie. Das war nicht immer so, denn die Halbinsel war viele Jahre britische Kronkolonie und stand unter wirtschaftlicher und politischer Kontrolle des Empires. Während des zweiten Weltkriegs wurde Malaya in den Jahre 1941-45 von Japan besetzt.

Genau diese Zeit thematisiert Chan in ihrem international bereits viel gelobten Roman, inspiriert durch die Geschichte ihrer eigenen Familie.
Chan erzählt mir auf zwei Zeitebenen von der malaiischen Familie Alcantara.
In einem Erzählstrang, Malaya ist britisch besetzt, verfällt die junge Mutter Cecily dem charismatischen Japaner und General Fujiwara und verschiebt ideologisch verblendet ihre moralischen Grenzen.
Die zweite Erzählebene spielt ein paar Jahre später direkt während der Zeit der japanischen Besatzung und zeigt sowohl die Folgen von Cecilys Entscheidungen als auch eine Gesellschaft, die durch eine gewaltsames Supprimat gespalten ist.
Rassismus und Klassismus beeinflussen alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens und richtet sich gegen die Malaien.
Cecily hat mittlerweile drei Kinder: Abel, Jujube und Jasmin, die jeweils ihre eigene Geschichten haben.
Besonders nahe geht mir Abels Geschichte, der in ein japanisches Arbeitslager verschleppt wird und dort schlimme Gewalt erlebt und ausübt.

Die Blickwinkel - und Zeitenwechsel bringen viel Dynamik in den Roman und lasen mich über die Seiten fliegen.
Gerade im letzten Drittel, kurz vor der Kapitulation Japans nimmt die Handlung rasant an Fahrt auf und verwandelt den Roman in einen wahren Pageturner.

Wie bei vielen Familiengeschichten gehen die vielen Perspektiven zu Lasten der psychologischen Tiefe. So bleibt die verstecktere Handlungsmotivation der Figuren manchmal etwas oberflächlich und flach, verstärkt durch die etwas distanzierte auktoriale Erzählweise. Auch literarisch würde ich Chans Stil mehr als eingängig als als ausgefallen beschreiben.

Der Schluss allerdings besticht durch eine Tragik und Dramatik, die wahrscheinlich niemanden kaltlässt. Es war ein gute Entscheidung von Chan, den Roman nur mit wenigen versöhnlichen Elementen enden zu lassen, um so den vielen traurigen und vermeidbaren Leid jener Zeit Rechnung zu tragen.

Entfernt erinnerte mich gerade Abels Geschichte an den Film „Im Reich der Sonne“ und auch wenn ich den Roman vielleicht jetzt nicht zu meinen diesjährigen Highlights zählen würde, habe ich ihn gerne gelesen und ich habe mehr über diese mir unbekannte Region und ihre Geschichte gelernt.

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Veröffentlicht am 24.10.2023

Bittersüße und zarte Liebesgeschichte

Wilde Minze
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»Wilde Minze ist zärtlich und innig, eine umwerfende, sinnliche Erkundung der kostbarsten Momente des Lebens. Ein Lesegenuss!« Charlotte McConaghy

Ein toller Blurb, oder?
Das kann ich nach der Lektüre ...

»Wilde Minze ist zärtlich und innig, eine umwerfende, sinnliche Erkundung der kostbarsten Momente des Lebens. Ein Lesegenuss!« Charlotte McConaghy

Ein toller Blurb, oder?
Das kann ich nach der Lektüre einfach so stehen lassen, denn auch ich mochte das Buch trotz einiger kleinerer Kritikpunkte sehr gerne!

Ja, es ist diesmal eine unkonventionelle Liebesgeschichte, die sich ganz ungewohnt in meine Leseliste geschlichen hat.

Los Angeles: Für Sara und Emilia ist es Elektrizität auf den ersten Blick, als sie sich im Szenelokal Yerba Buena das erste Mal über den Weg laufen.
Beide Frauen haben einen sehr unterschiedlichen Background. Sara ist sehr prekär im provinziellen White Trash Milieu aufgewachsen und aus ihrem toxischen Umfeld als Teenagerin nach LA geflohen. In ihrer Vergangenheit liegt der schwere Verlust ihrer Mutter und ein Verbrechen, das sie noch lange verfolgen wird.
Emelie dagegen stammt aus einer liebevollen, gut situierten kreolischen Familie. Sie hat eine ältere Schwester, doch das Verhältnis ist äußerst schwierig, da sie seit Emelies Kindheit drogensüchtig ist und der Kampf gegen die Sucht die Beziehung stark belastet.

Nina Lacour (@nina_lacour) ist eigentlich eine in den USA sehr bekannte Autorin für Jugendbücher und hat mit „Wilde Minze“ ihren ersten Roman für Erwachsene veröffentlicht. Die Jungendbuchvergangenheit merke ich ihrer Geschichte an, aber in einem positiven Sinn. In ihrem Text schwingt eine wunderbare, fast naiv zu nennende Leichtigkeit mit, die aber durch ernsthaftere Töne wunderbar ausbalanciert wird.

Mir gefallen die zauberhaft sinnlichen Beschreibungen der Restaurants, der Cocktails, der Pflanzen und der Häuser.
Und natürlich der Menschen. Die beiden Protagonistinnen sind liebevoll skizziert, aber nicht idealisiert. Vor allem Sara ist vom Leben gezeichnet, aber nicht gebrochen.

Die Liebesgeschichte zwischen den beiden Frauen ist genauso wie die Cocktails, die in dem Roman so detailreich beschreiben werden: süß, aber mit einem Hauch von Bitterkeit.

Kleinere Abzüge muss ich leider beim Reality Check einiger Plot Lines machen. (Meines Wissens nach reichen ein paar bunte Tapeten und ein paar farbige Fließen - selbst in den USA, nicht aus, um vollständig verfallene Häuser wieder zu renovieren.)
Auch einige der anderen Rahmenbedingungen wirken zu sehr auf die gewünschte Handlung zugeschnitten und zu konstruiert.

Der Schluss versöhnt mich allerdings mit diesen kleineren Mängeln und macht den Roman ingesamt zu einer bittersüßen, sinnlich schönen und zarten Lektüre.

Ein Plädoyer dafür, die Liebe zu wagen!

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Veröffentlicht am 15.09.2023

Identitätssuche und ein Vater-Tochter Konflikt. Ein autobiografischer Debütroman

Terafik
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„Terafik“ ist der erste Roman von Nilfur Karkhiran Khozani und er ist autobiografisch.

Für mich ist er ein niederschwelliger Einblick in eine iranische Familie und in ein zerrissenes Land. Gleichzeitig ...

„Terafik“ ist der erste Roman von Nilfur Karkhiran Khozani und er ist autobiografisch.

Für mich ist er ein niederschwelliger Einblick in eine iranische Familie und in ein zerrissenes Land. Gleichzeitig ist er das berührende Porträt einer schwierigen Vater-Tochter Beziehung.

Nilufar ist in Deutschland geboren. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Iraner, der jedoch die Familie früh verlassen hat, um wieder in Iran zu leben. Seitdem hat Nilufar wenig Kontakt zu ihm oder zu dem persischen Teil ihrer Identität.
Für andere ist Nilufar das „Ausländerkind“ und sie ist struktureller Diskriminierung ausgesetzt. Subtiler Rassismus ist Teil von Nilufars Alltags.
Obwohl sie sich eindeutig in Deutschland verortet, struggelt sie mit ihrer Zugehörigkeit und ihrer Identität.
Es wird Zeit für einen Besuch bei ihrem Vater in Iran und Zeit, diesen Teil ihrer Familie und ihrer Herkunft kennenzulernen.
Ich entdecke mit Nilufar ein Land der Gegensätze, voller Geschichte und Kultur, voller Gastfreundschaft und Familiensinn, aber auch voller Einschränkungen und großer Fremdbestimmung, vor allem für Frauen.
Ich mag, wie Khozani in der Vater-Tochter Konstellation deutlich macht, wie beide trotz aller Unterschiede versuchen ein Verständnis füreinander zu entwickeln und eine Verbindung herzustellen.
In rückblickende Einschüben kann ich aus Khosrows Sicht lesen, warum er Deutschland und somit seine Tochter, damals verlassen hat.

Der rote Faden, der sich durch das Buch zieht, ist die stetige Ausgrenzung und das Gefühl der Nicht-Anerkennung, der Heimatlosigkeit, die sowohl Nilufar und ihren Vater in Deutschland zu spüren bekommen.

Die Erfahrungen der Erzählerin authentisch geschrieben und für mich besonders auf emotionaler Ebene nachvollziehbar.
Die Schilderungen und Einblicke in die Lebensrealität von Nilufars iranischer Familie bleiben sehr auf individuellem Niveau und geben mehr persönliche Eindrücke wieder, als dass sie politisch oder gesellschaftlich kritisieren.

Einige Passagen empfinde ich zudem als ungeschickt ausgearbeitet und in der Vielzahl der beschriebenen Familienmitgliedern und Geschichten geht leider die Wertigkeit der einzelnen für mich etwas verloren.

Ich bin dankbar für die Eindrücke aus diesem mir fremden Land und würde zwar „Terafik“ nicht als Highlight bezeichnen, aber als autobiografischen Roman, den ich gerne gelesen habe.

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Veröffentlicht am 05.07.2023

Ein schöner Generationenroman und eine Hommage an afroamerikanische Mütter, Töchter und Schwestern

Memphis
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Ich lese sehr gerne Literatur aus den USA. Die Stadt Memphis war mir aber bis jetzt hauptsächlich wegen Elvis ein Begriff.
Das hat sich jetzt geändert. Tara M. Stringfellows Debütroman ist nämlich nicht ...

Ich lese sehr gerne Literatur aus den USA. Die Stadt Memphis war mir aber bis jetzt hauptsächlich wegen Elvis ein Begriff.
Das hat sich jetzt geändert. Tara M. Stringfellows Debütroman ist nämlich nicht nur eine emotionale Familiengeschichte, sondern fängt auch die Stimmung in Memphis, der Heimat des Blues, wunderbar ein.
Die Autorin Stringfellow selbst lebt mittlerweile, nach internationalen Stationen, mit ihrem Hund Huckleberry wieder in dieser Stadt.

Im Zentrum von „Memphis“ stehen die Frauen. Es sind starke, afroamerikanische Frauen, die Stringfellow in drei Generationen einer Familie, von 1955-2003, porträtiert. Hazel, Miriam, August und Joan.
Über die Jahrzehnte ändern sich zwar die Zeiten, doch eines bleibt immer gleich: Rassismus und männliche Gewalt prägen und reduzieren das Leben der Frauen. Stringfellow arbeitet anhand ihren Figuren heraus, wieviel wertvolles Potential und Lebenswege dadurch zerstört werden.
Ein Teufelskreis aus Angst, Wut und wieder Gewalt.

„Aber mein Zorn war zum Teil aus Furcht entstanden.“

Dementgegen setzt Stringfellow den Zusammenhalt und Liebe der Mütter, Schwestern und Töchter der Familie North. Eine sanfte Kraft und eine starke Botschaft.
Mir persönlich bleibt der Roman etwas zu unpolitisch, die Familiengeschichte zu konventionell und idealisiert und auch das spirituell/religiös eingefärbte ist nicht mein Fall. Dafür kann „Memphis“ auf Unterhaltungsebene sehr gut punkten.
Die einzelneren Kapitel springen in den verschiedenen Zeiten und machen die Lektüre damit sehr abwechslungsreich und erzeugen eine leichte Spannung.
Die Figuren sind liebevoll und detailliert ausgearbeitet und mir ans Herz gewachsen, vor allem August. Und Joan, die aus der Ich-Perspektive erzählt, bricht mir schon im ersten Kapitel das Herz.
Doch Joan ist es auch, die am Ende als erste die Möglichkeit bekommt, einen Traum zu verwirklichen und es ist ihr Verzeihen, dass ein Durchbrechen des Teufelkreises als möglich erscheinen lässt.

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