In „Mein drittes Leben“ berichtet die verwaiste Mutter Linda, selbst erst knapp 40 Jahre alt, von dem krassen Einschnitt, den der Unfalltod ihrer 17jährigen Tochter Sonja für ihr Leben bedeutet hat, und gibt zudem Einblick in ihr eigenes Aufwachsen bis hin zum Erwachsen- und vor Allem Mutterwerden ebenso wie in die gemeinsame Zeit mit ihrer Tochter; die drei titelgebenden Leben beziehen sich also auf erstens ihre kinderlose Zeit, zweitens die Zeit, in der ihre Tochter lebte und nun drittens diesen neuen Abschnitt nach dem Tod der Tochter.
Gleich zu Beginn wird man mit der räumlichen Trennung konfrontiert, die unlängst zwischen Linda und ihrem Mann Richard, Sonjas Vater, vollzogen wurde bzw. eher ausschließlich von Linda durchgeführt wurde, die – es lässt sich nicht anders umschreiben – in und mit all ihrer Trauer aus Leipzig aufs Land geflüchtet ist, wo sie sich zwar komplett von der Außenwelt zurückzuziehen versucht, aber mit der Zeit doch auch zarte Bande neuer Bekanntschaften knüpft. So erlebt man als Lesende*r mit, wie sich Linda von der stillen, trauernden Frau ohne jegliches Zeitgefühl, für die alle Tage gleich belanglos vorübergehen, zu einer Frau entwickelt, die, aufmerksam das Geschehen um sich herum beobachtend, langsam wieder zurück in ein aktives Leben kriecht.
Linda als Hauptfigur ist hierbei von der Autorin sehr multidimensional dargestellt, wobei ich immer noch nicht weiß, ob sie mir nun sympathisch ist. Eingangs fand ich sie eher anstrengend, da sie Richard nicht nur vorzuwerfen schien, dass er mit seiner Trauer völlig anders umging, ohne dass die Beiden sich je über ihren gemeinsamen Verlust unterhalten zu haben schienen; nein, als dessen zweite Frau gab sie zwischen den Zeilen doch auch freimütig zu, dass sie ihm von Anfang an übelgenommen hatte, dass er sich absolut innig um seine Kinder aus der ersten Ehe kümmerte, während er zugleich Zweifel hatte, ob Linda und er überhaupt ein gemeinsames Kind bekommen sollte, da er doch deutlich älter als sie war und er seine Familienplanung eigentlich schon als abgeschlossen betrachtet hatte. Richard, dessen erste Frau ihm gegenüber sogar gewalttätig geworden war und die sich kaum um ihre Kinder scherte, hatte sich mit Linda dafür auf eine Frau eingelassen, die zwar unbedingt eine Familie haben wollte, der es aber auch viel wichtiger zu sein schien, selbst Kinder zu gebären, anstelle Richards Kinder zumindest als ihre Stiefkinder anzuerkennen und eine echte Bindung zu diesen aufzubauen: Insgesamt hatte ich da nach der anfänglichen Lektüre einer die ersten 57 Seiten umfassenden Leseprobe bereits den Eindruck einer von vornherein zum Scheitern verurteilten Verbindung; auch nach dem Auslesen des kompletten Buchs glaube ich nicht an ein mögliches Funktionieren des Paares Linda/Richard, das für mich im Rahmen einer Freundschaft dauerhaft funktionieren könnte, aber für mich auf romantischer Ebene schon von ihrem Kennenlernen an nie mehr als eine Art Zweckgemeinschaft hatte sein können.
In dieser Erzählung, in der sich Linda von allen, auch von ihm, distanziert hat, stellt sich Richard zügig als jemand heraus, der die Liebe und die Intimität einer Partnerschaft vermisst, und sich da bereits neu zu orientieren begonnen hat, wobei die von ihm ins Auge gefasste Dame auch ständig so beschrieben wird, dass allzu offensichtlich ist, dass Richard zu Beziehungen neigt, die ihm zumindest auf Dauer nicht guttun, so dass „Mein drittes Leben“ zwar ganz unterschwellig immer fragte, ob Linda und Richard letztlich wieder zusammenfinden könnten, mich aber immer „besser nicht“ denken ließ.
„Mein drittes Leben“ ist insgesamt ein sehr ruhiges Buch, ähnlich wie es eben auch Linda ist; der Roman gleicht einem an den Rändern ins Expressionistische aufbrechenden Stillleben; und es macht im Verlauf nicht nur Linda weiter nachdenklich, der sich Stück um Stück die sonstigen Tragödien „zerbröselnder“ Menschen um sich herum enthüllen. Nimmt sie es Anderen zu Beginn noch übel, dass deren Kinder leben und diese sich „freuen“, dass keines ihrer Kinder verunglückt ist, bemerkt sie zum Einen immer mehr Leid, das ihr hingegen erspart blieb, was Betroffene umgekehrt ihr ebenso vorhalten könnten und muss zum Anderen auch erkennen, dass grade neue Bekanntschaften weder Ahnung davon haben, dass sie ein Kind verloren hat, noch dass sie weiß, ob diese Menschen nicht doch auch schon Ähnliches bis Gleiches erlebt haben.
Das Leid-Thema ist hier ein sehr großes: steckt dahinter ein Sinn, müssen wir Leid erleben, müssen wir alle einen Umgang damit erlernen, soll persönliches Leid uns etwas lehren? Wie viel bedeutet uns das Leben noch, wenn ihm das uns Bedeutsamste genommen wird; können wir ihm je wieder Bedeutung geben, es ausfüllen, oder ist diese Lücke ein Schwarzes Loch, vor dem uns nichts bewahren kann und dessen Ränder wir nicht sichern können?
Mich hat es sehr berührt, grade dass letztlich auch die Lebenswirklichkeiten anderer Figuren gespiegelt wurden und aufgezeigt, dass doch auch alle ein Päckchen zu tragen haben; ich glaube, das vergisst man in eigene Trauer versunken sehr schnell, ebenso wie das nicht jeder dieselbe Art der Trauer durchlebt, selbst wenn man vom selben Trauerfall betroffen ist, und das wurde hier meiner Meinung nach sehr gut aufgezeigt.
„Mein drittes Leben“ habe ich als sehr eindrückliche Lektüre empfunden, aber allen, die grad selbst noch akut in einem Loch, ob größer oder auch kleiner, stecken, würde ich dann doch noch dazu raten, mit dem Lesen dieses Romans erst dann zu beginnen, wenn das Licht am Ende des Tunnels zumindest schon ganz deutlich zu erkennen ist. Es ist halt einfach keine aufheiternde, oder gar fröhliche, Lektüre, sondern letztlich immer noch die traurige Geschichte einer Mutter, deren Teenie-Tochter tödlich verunglückt ist.