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Veröffentlicht am 29.07.2024

Eine faszinierendes Leseabenteuer zwischen Komödie und Gesellschaftskritik

Vorstandssitzung im Paradies
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In Vorstandssitzung im Paradies nimmt uns Arto Paasilinna mit auf ein skurriles, zuweilen komisches und gleichzeitig nicht weniger lehrreiches Leseabenteuer.

Der Ich-Erzähler ist finnischer Journalist ...

In Vorstandssitzung im Paradies nimmt uns Arto Paasilinna mit auf ein skurriles, zuweilen komisches und gleichzeitig nicht weniger lehrreiches Leseabenteuer.

Der Ich-Erzähler ist finnischer Journalist auf einer Recherchereise von Japan nach Australien. In dem von der UN gecharterten Flugzeug sind die Mitpassagiere Krankenschwestern, Ärzte und Waldarbeiter aus verschiedenen skandinavischen Ländern, die in unterschiedlichen Regionen auf dem asiatischen Kontinent Entwicklungshilfe leisten sollen. Als das Flugzeug schließlich dramatisch über dem stillen Ozean abstürzt, landen die Überlebenden auf einer Insel im gefühlten Nirgendwo.

Aus dem Kampf ums Überleben, zunächst allein, dann in der Gruppe, wird Tag für Tag mehr ein Einrichten in ein neues Leben mit schließlich einigem Komfort dank dem Erfindungsreichtum und der Zusammenarbeit in der Gemeinschaft. Eine große Rolle spielt hier das allmähliche Finden als Gemeinschaft und die Anpassung an die Natur in dem nicht freiwillig gewählten Paradies.

Die Entwicklung und Weiterentwicklung der Gemeinschaft der Gestrandeten wird sehr gut herausgearbeitet, Ansätze und Entwicklungen der Ideengeschichte werden dabei geschickt integriert, so beispielsweise die Einführung des Geldes als Sündenfall (Rousseau) und daraus abgeleitet der Verbleib im Naturzustand ohne Eigentum, die Entwicklung des Tauschsystems, der Versorgung und letztlich auch eines Strafrechts (auch wenn letzteres zunächst doch sehr archaisch war) und eines kleinen Gesundheitssystems. So begleitet der Autor die Entwicklung eines eigenen Gesellschaftssystems, das sich partizipativ und dem Gemeinwohl verpflichtet, in der Gruppe auf der Insel herausbildet. Dabei wird deutlich, dass es eben dieses System ist, das letztlich das Überleben der Gruppe sichert, die zunehmend kritisch die vermeintlichen Errungenschaften des Westens mit allen Folgen für Mensch und Natur reflektiert.

Der Schreibstil des Autors hat mich direkt begeistert, schnörkellos, eingängig, ein absolut trockener Humor und viel Selbstironie - wer das mag, wird wie ich große Freude an dem Buch haben.

Insgesamt war das Buch für mich eine tolle Mischung aus Komödie und Gesellschaftskritik. In ähnlicher Form kenne ich das beispielsweise auch von Erich Kästner, insofern war es auch interessant für mich einen Autor mit ähnlichem Stil und gesellschaftskritischem Anliegen aus einem skandinavischen Land zu lesen. Eine absolute Empfehlung und für mich die Einladung weitere Bücher des Autors zu entdecken!

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Veröffentlicht am 28.07.2024

Über eine Liebe, die ihre Zeit sucht

Man sieht sich
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Man sieht sich erzählt die Geschichte von Friederika, genannt Frie, und Robert, die seit ihrer Jugend eine tiefe Freundschaft verbindet. Und zunächst insgeheim ist da auch immer schon mehr, doch es ist ...

Man sieht sich erzählt die Geschichte von Friederika, genannt Frie, und Robert, die seit ihrer Jugend eine tiefe Freundschaft verbindet. Und zunächst insgeheim ist da auch immer schon mehr, doch es ist das Leben, das immer wieder verhindert, dass aus der Freundschaft die Liebesbeziehung wird, die sie sein könnte. So ist der Roman nicht nur eine Geschichte vom Finden und Verlieren der Liebe, sondern viel mehr als das, eine Geschichte über die Irrungen und Wirrungen des Lebens, die manchmal unseren Weg bestimmen.



Beginnend mit der gemeinsamen Schulzeit als Robert zur 11. Klasse an Fries Schule wechselt, begleitet Julia Karnick Frie und Robert über rund drei Jahrzehnte bis in die Gegenwart. Die Perspektive wechselt hier von Kapitel zu Kapitel zwischen Robert und Frie. Dies finde ich sehr gelungen, da wir so in beide Charaktere einen tiefen Einblick bekommen und die Welt, aber auch die jeweils andere Person mit ihren/seinen Augen sehen.

Für mich ist Man sieht sich kein klassischer Liebesroman, sondern im aller positivsten Sinne insgesamt eher ein Gesellschaftsroman, der durch die Liebesgeschichte eine zusätzliche Ebene und Rahmen gewinnt. Anhand der Lebensgeschichten von Frie und Robert thematisiert die Autorin nicht nur das Entstehen und Scheitern von Beziehungen sondern auch gesellschaftliche und persönliche Problemlagen, wie den Umgang mit schweren Erkrankungen, die Bürden von Alleinerziehenden für Elternteil und Kind, traditionelle und ungesunde, dominante Beziehungsmuster, die Rolle von Frauen in der Gesellschaft und vieles mehr. Das klingt viel, ist es aber nicht, da es ganz natürlich über die sehr authentischen Lebensgeschichten Fries und Roberts und natürlich ihre Liebesgeschichte thematisiert wird. Ein toller Roman, den ich sehr gern uneingeschränkt empfehle!

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Veröffentlicht am 21.07.2024

Ein kluger, nachdenklicher und einfühlsamer Blick auf die Lebensmitte und ihre Fragen in uns

Mitte des Lebens
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Barbara Bleisch blickt in die Mitte des Lebens auf eine in Debatte und Wissenschaft oft vernachlässigte Lebensspanne: die Lebensmitte, gefasst als mittlere Lebensphase zwischen ca. Mitte 30 bis Mitte 60. ...

Barbara Bleisch blickt in die Mitte des Lebens auf eine in Debatte und Wissenschaft oft vernachlässigte Lebensspanne: die Lebensmitte, gefasst als mittlere Lebensphase zwischen ca. Mitte 30 bis Mitte 60. Diese beschreibt sie als Phase des Revue passieren Lassens, Bedauerns, vielleicht auch der Reue, aber gleichzeitig auch der Neuausrichtung, des Stolzes, der Dankbarkeit und Zufriedenheit.

In einem sehr flüssigen und eingängigen Schreibstil wirft die Autorin Fragen auf, ergründet sowohl wissenschaftlich als auch lebenspraktisch und sensibel, die Themen die Menschen in dieser Phase beschäftigen. Dabei bedient sie sich immer wieder Referenzen aus Literatur, Poesie, Theater und natürlich Philosophie, Psychologie und Soziologie, zum einen zur Vermittlung und Herleitung von (theoretischen) Hintergründen, aber oft auch der Veranschaulichung zunächst eher abstrakter Gedanken.

Dies ist über weite Teile wunderbar gelungen und liefert wichtige Denkanstöße. Besonders gut hat mir die Zuspitzung am Ende eines jeden Kapitels gefallen: was können wir ganz lebenspraktisch aus dem Geschriebenen mitnehmen? Hier ergeben sich einige erhellende Gedanken- und Handlungsanstöße.

An einigen Stellen, insbesondere in der ersten Buchhälfte, waren die Ausführungen für mich allerdings zuweilen etwas redundant, wenngleich aufgrund der komplexen und oft auch theoretisch-ideengeschichtlichen Thematik diese Redundanz sicher auch zur Vertiefung der Inhalte dienen kann. Insofern ist dies für mich nichts, was die Qualität des Essays merklich schmälern würde.

Die Mitte des Lebens von Barbara Bleisch ist ein wunderbar kluges und kurzweiliges Buch, das nachhallt und wichtige Denkanstöße zu den Fragen liefert, die Menschen in der Lebensmitte begleiten!

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Veröffentlicht am 13.07.2024

Aufwühlend, ehrlich, sachkundig - ein kluges, berührendes Buch über das Lebensende der Eltern und den Umgang damit

Alte Eltern
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In Alte Eltern widmet sich Volker Kitz behutsam und ehrlich einem Thema, das fast alle von uns irgendwann betrifft und gleichzeitig gesellschaftlich zu oft verdrängt wird: dem nahen Lebensende der Eltern. ...

In Alte Eltern widmet sich Volker Kitz behutsam und ehrlich einem Thema, das fast alle von uns irgendwann betrifft und gleichzeitig gesellschaftlich zu oft verdrängt wird: dem nahen Lebensende der Eltern.

Mit viel Empathie beschreibt Volker Kitz die fortschreitende Demenz seines Vaters und mit ebenso viel Ehrlichkeit die Gefühle, die dies bei ihm auslöst. Scham, Verzweiflung, Trauer, Wut, aber auch die Momente der Freude und Dankbarkeit, für das was war, und auch was trotz allem noch ist.

Die Beschreibung des Augenblicks und der Begleitung seines kranken Vaters verbindet sich immer wieder mit dem Rückblick auf die Lebensgeschichte des Vaters ebenso wie seine eigene Kindheit mit diesem. Dazu tritt der Blick in die Zukunft und mit ihm die Gedanken und das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit. Dabei wird rasch deutlich, dass das Thema Verlust nicht erst mit der Erkrankung des Vaters aufscheint. Der frühe, plötzliche Unfalltod der Mutter fast zwei Jahrzehnte zuvor war bereits ein einschneidendes Erlebnis, dessen Erinnerung und auch eine Form der Aufarbeitung in die Zeilen immer wieder mit einfließt.

Mit kurzen gedanklichen Ausflügen u.a. in die Philosophie, Soziologie, Psychologie, Neurowissenschaft und sogar Museumswissenschaft erarbeitet sich Volker Kitz einen Zugang zu diesem schwierigen, weil im wahrsten Sinne des Wortes existentiellen Thema und versucht dabei gleichzeitig sich selbst darin zu verorten, im Erinnern und Loslassen in Familien.

So lernt die Leserin beispielsweise über die verschiedenen Arten des Gedächtnisses, wie etwa das prozessuale Gedächtnis, wenn der Kopf das Konzept den Löffel an den Mund zu führen nicht mehr findet oder die Unendlichkeitsfiktion von Gewohnheiten bei Janosch Schobin. So lehrreich, intuitiv und gut gewählt diese theoretischen Zugänge sind, machen sie doch nur einen Aspekt aus, den dieses Buch so lesenswert macht. Die Zeilen leben und überzeugen viel mehr durch die Introspektion des Autors und der Offenheit mit der er diese teilt. Überzeugt hat mich hier insbesondere die Fähigkeit des Autors auch Schmerzhaftes und fast Unaussprechliches in Worte zu fassen, eine Form dafür zu finden, und sei es nur ein Nebensatz, der die ganze Absurdität einer Situation erfasst, wie etwa die Bemerkungen von Menschen in seinem Umfeld, nach dem Unfalltod seiner Mutter und der fehlenden Möglichkeit sich zu besprechen, auszusprechen, ein letztes Mal - sie könnten das nicht. - Als ob man gefragt würde. - So simpel, so wahr. Wahr ist jedoch auch, dass wir versuchen können, versuchen müssen, mit dem zu arbeiten, was das Leben uns vorsetzt, dem Schönen wie dem Schmerzhaften. Und genau einen solchen Zugang eröffnen die Zeilen des Autors und schaffen so in aller Traurigkeit, etwas Wundervolles und Tröstliches in der absoluten Offenheit und Ehrlichkeit.

Der Autor hat mich mit der Beschreibung seiner Gefühle und Gedankengänge in der schwierigen Erkrankungssituation und dem Tod seines Vaters zum Nachdenken angeregt und unglaublich berührt, das Mitansehen des Abbaus und der Verwirrung des Vaters, der nahende Verlust und schließlich Tod des Elternteils, aber auch die Gedanken und das Erinnern an die Vergangenheit ebenso wie die eigene Vergänglichkeit. All dies verknüpft der Autor mit einer informierten Recherche und Introspektion! Unbedingt Lesen!

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Veröffentlicht am 07.07.2024

Das Mädchen mit den roten Haaren

Wir waren nur Mädchen
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Wir waren nur Mädchen beleuchtet beruhend auf wahren Personen und Begebenheiten, die Geschichte von Frauen im niederländischen Widerstand gegen die Nazibesatzung. Im Mittelpunkt Johanna, 1920 geboren, ...

Wir waren nur Mädchen beleuchtet beruhend auf wahren Personen und Begebenheiten, die Geschichte von Frauen im niederländischen Widerstand gegen die Nazibesatzung. Im Mittelpunkt Johanna, 1920 geboren, hat sie jung ihre geliebte Schwester Anni verloren, die vermeintlich mutigere und aufgewecktere der beiden Schwestern. 1941 studiert Johanna Jura um später beim Völkerbund arbeiten zu können. Hier lernt sie ihre politisch engagierten Kommilitoninnen Sonia und Philine kennen, und zum ersten Mal spürt sie wieder eine Verbindung, die sie an ihre Schwester erinnert. Dass ihre neuen Freundinnen Jüdinnen sind, führt ihr in aller Deutlichkeit vor Augen, welche Auswirkungen die NS-Politik bis in jeden Lebensbereich für diese hat. Während sie zuvor bereits in der Flüchtlingshilfe aktiv war, verschiebt sich ihr politisches Bewusstsein immer mehr hin zur Bereitschaft auch in den bewaffneten Widerstand zu gehen. So begleiten wir eine Evolution einer jungen, gut erzogenen, zurückhaltenden jungen Frau hin zu einer resoluten, mutigen Kämpferin für den Widerstand, von Johanna, zu Hanni.

Hanni erzählt ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive. Von 1941 bis 1945 werden so zugleich alle Grausamkeiten des Naziregimes in den Niederlanden dargestellt. Der Autorin gelingt es über die Freundinnen und deren Familien, eine persönliche Ebene zu schaffen und die Geschichte erlebbar zu machen. Beeindruckt hat mich auch der Generalstreik gegen die Verfolgung von Juden 1941 in den Niederlanden.

Mit diesem Roman hat die Autorin all die mutigen Frauen im Widerstand sichtbarer gemacht und ihr Wirken authentisch porträtiert. Sehr informativ und erwähnenswert ist auch das Nachwort, in dem die Autorin weitere Einblicke in die historischen Hintergründe und die realen Protagonist*innen gibt.

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