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Veröffentlicht am 24.09.2024

Ein sehr wichtiges Buch in unserer Zeit

Das Wesen des Lebens
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„Erst muss man vorbei an dem Afrikanischen Elefanten und durch eine Tür […] dann haben die Besucher dieses Wesen vor sich, seine vollkommen andersartigen Glieder. […] Seine Größe fesselt die Aufmerksamkeit ...

„Erst muss man vorbei an dem Afrikanischen Elefanten und durch eine Tür […] dann haben die Besucher dieses Wesen vor sich, seine vollkommen andersartigen Glieder. […] Seine Größe fesselt die Aufmerksamkeit der Menschen. Kinder rennen herbei und rufen »Dinosaurier!«, denn diese erwarten sie am sehnsüchtigsten, doch die Eltern zögern. Sie haben den Museumsplan studiert und wissen, dass sich die prähistorischen Tiere im zweiten Stock befinden, nicht hier, weshalb sie sich nach vorne beugen und ihrem Nachwuchs das Namensschild vorlesen: Stellers Sehkuh.“

Schätzungen zufolge sterben täglich 130 bis 150 Arten aus. Jeden Tag verschwinden Lebewesen unwiederbringlich von der Erdoberfläche. Von vielen haben wir niemals etwas gehört, andere wiederum sind allseits bekannt. Und es gibt solche, die es quasi zur Weltbekanntheit gebracht, wie das Mammut oder der Dodo. Einen sehr berührenden Roman über eine ausgestorbene Art, den Riesenalk, habe ich bereits letztes Jahr gelesen und nun durfte ich wieder ein sehr berührendes Buch über ein weiteres sehr faszinierendes, ausgestorbenes Tier lesen und zwar über die Stellersche Sehkuh.

Vier Menschenschicksale, die in irgendeiner Form eng mit der Stellerschen Sehkuh verbunden sind, dürfen wir in Iida Turpeinens Roman „Das Wesen des Lebens“ mitbegleiten. Es fängt im Jahr 1741 an, als der Theologe und Naturforscher Georg Wilhelm Steller mit der russischen Besatzung auf dem Schiff Swjatoi Pjotr zu einer Forschungsreise aufbricht. Das Schiff strandet irgendwann an einer Insel, wo die zusammengeschrumpfte Mannschaft Wesen im Wasser erblickt, die wohl früher von Seereisenden als Meerjungfrauen in die Erzählung eingingen. Steller studiert das Verhalten der Tiere, lässt aber auch eins der von der Mannschaft erlegten Tiere zerlegen, er misst es und legt sein Skelett frei. Dieses kann er allerdings auf der Rückfahrt nicht mitnehmen, wieder in Russland angekommen stirbt er bereits fünf Jahren nach Antreten der Forschungsreise an einer Fieberkrankheit und hinterlässt nur seine Aufzeichnungen.
Etwas mehr als hundert Jahre später übernimmt der finnische Gouverneur Furuhjelm die Kolonie in Alaska. Nachdem alle Rohstoffe und Tiere, die ihres Pelzes wegen gejagt werden, von diesem Teil des amerikanischen Kontinents verschwunden sind, sucht Johan Hampus Furuhjelm krampfhaft nach einem plausiblen Grund für das Fortbestehen der Kolonie und seines Gouverneurspostens und lässt die Ureinwohner Alaskas nach dem Skelett der Stellerschen Sehkuh suchen. Die Inuit werden auf einer kleinen Insel fündig, Alaska wird dennoch kurz darauf von den Amerikanern gekauft. Hampus Furuhjelm vergisst aber nicht, dass er seinem Freund von Nordmann, der Professor für Zoologie an der Kaiserlichen Alexanders-Universität ist, das Skelett der Seekuh versprochen hat und so wird es von ihm zusammengebaut und von seiner Assistentin und begnadeten Zeichnerin Hilda Olson aufs Papier gebannt. An der Kaiserlichen Alexanders-Universität gehört von nun an die Stellersche Seekuh Professor Bonsdorffs Skelettsammlung an. Erst in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts dürfen die Knochen der Seekuh in das Tierkundemuseum umziehen, die von dem finnischen Konservator und Naturschützer John Grönvall liebevoll konserviert und neu zusammengesetzt werden. Das Skelett kann bis zum heutigen Tag im Naturhistorischem Museum in Helsinki besichtigt werden.

Iida Turpeinen hat mit „Das Wesen des Lebens“ ein wichtigen Roman geschaffen, der meiner Meinung nach von jedem gelesen werden sollte. Sie schafft es in jede ihrer Figuren, die historische Persönlichkeiten sind, Leben einzuhauchen, sodass man das Gefühl hat, alles leibhaft mitzuerleben. Mit dem Fortschreiten der Zeit im Buch zeigt sich auch immer mehr, dass sich die Einstellung der Menschen gegenüber der Lebewesen, die sie umgeben, sehr stark verändert. Während sie im 18. und 19. Jahrhundert als Gut angesehen werden, das ausgebeutet werden darf und dem menschlichen Zweck zu dienen hat, setzen sich Gelehrte und Forscher im 20. Jahrhundert für den Erhalt und Schutz bestimmter Tierarten ein. Sogar diese langsame Entwicklung gelingt es der Autorin wunderbar in ihrem Roman zu bannen. Mit ihrem feinfühligen Schreibstil gelingt es ihr, die grausamsten menschlichen Taten so darzustellen, dass man nicht vor Grauen in Ohmacht fällt und trotzdem den Schmerz und die Trauer empfindet, die die beschriebenen Szenen unweigerlich in einem auslösen.

„Einen Moment lang ist sie da, die alles verschlingende, zarte Trauer, wenn wir dieses Tier betrachten, groß und sanft, für immer fort.“

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Veröffentlicht am 23.08.2024

„Ich schreibe über alles, was mich zum Weinen gebracht hat.“

Tasmanien
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„Trotzdem gab ich nicht auf. Es gibt Projekte, die eine Art Unausweichlichkeit haben, dich jenseits aller Vernunft fesseln, aus Gründen, die du nicht verstehst. Oft sind das Fata Morganas, das weißt du, ...

„Trotzdem gab ich nicht auf. Es gibt Projekte, die eine Art Unausweichlichkeit haben, dich jenseits aller Vernunft fesseln, aus Gründen, die du nicht verstehst. Oft sind das Fata Morganas, das weißt du, aber du kannst nicht anders, als dich ihr so weit anzunähern, bis sie vor dir verschwindet. Die Bombe war so etwas. Ich schrieb immer langsamer und mit einer Art luzider Verzweiflung, den Moment erwartend, in dem ich mich mit nichts in Händen wiederfinden würde.“

Paolo ist ehemaliger Physikstudent. Nun ist er Journalist und arbeitet seit einigen Jahren an einem Buch zur Atombombe. Nachdem seine neun Jahre ältere Ehefrau Lorenza nach drei Jahren fruchtlosen Versuchens ein gemeinsames Kind zu bekommen, die Bemühungen einstellen möchte, stürzt diese Entscheidung Paolo in eine persönliche Krise. Diese Krise bringt einen Stein ins Rollen und lässt den Ich-Erzähler sich bewusst mit den großen und kleinen Katastrophen im Leben eines Menschen auseinandersetzen. Der Klimawandel, Terroranschläge und die atomare Bedrohung beschäftigen Paolo genauso wie seine eigene Kinderlosigkeit, die Trennung seines ehemals besten Studienfreundes von dessen Frau, die persönlichen Irrungen eines befreundeten Priesters, die Freundschaft mit dem bekannten Professor Novelli, der sich mit Wolkenformationen und ihrem Einfluss auf den Klimawandel beschäftigt. Paolo reist rastlos in der Weltgeschichte umher, ist mal motiviert, dann wieder auf seine niedersten Instinkte reduziert. Als eine schwerwiegende Augenoperation bei ihm durchgeführt wird und er einige Zeit später nach Japan reist, wo er den Gedenkfeiern zu den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki beiwohnt und dort Terumi Tanaka trifft, der als dreizehnjähriger Junge den Atombombenangriff in Nagasaki überlebte, werden Paolo buchstäblich die Augen geöffnet für das, was wirklich im Leben zählt und die persönliche Krise scheint überwunden. Gleichzeitig bleibt die große Frage im Raum stehen: Würden wir, wenn wir wüssten, was die Zukunft bringt, anders handeln als wir es jetzt tun oder würde trotzdem jeder sein eigenes Leben so weiterleben wie bisher? Nur eines ist sicher: Aus der Perspektive von Überlebenden ist alles möglich zu erzählen.

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Veröffentlicht am 21.08.2024

Ein bewegender, fesselnder Roman

Kleine Monster
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„Wir drei sind eins. Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind.“

Pia und Jacob sitzen im Schulzimmer ihres siebenjährigen Sohnes Luca, denn es hat „einen Vorfall gegeben“. ...

„Wir drei sind eins. Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind.“

Pia und Jacob sitzen im Schulzimmer ihres siebenjährigen Sohnes Luca, denn es hat „einen Vorfall gegeben“. Sie versuchen mit Luca zu sprechen und herauszufinden, was passiert ist. Doch während Jacob sehr locker mit dem Geschehenen umgeht, versucht Pia geradezu obzessiv herauszufinden, was tatsächlich vorgefallen ist und verstrickt sich dabei immer mehr in ihre eigene Vergangenheit, die sie nie ganz aufgearbeitet hat. Denn als sie ein Kind war, ertrank ihre jüngere Schwester Linda in einem See und die mittlere adoptierte Schwester Romi war dabei. Und wie der Geschehensablauf damals genau gewesen war, hat Pia auch nie erfahren – weder von ihrer Schwester Romi, noch von den Eltern. Nur dass sich alles für die Vier für immer geändert hat – das haben beide Schwestern schmerzhaft erleben müssen.

Während Luca Pia seit seiner Geburt an Linda erinnert – „Als mir das winzige Neugeborene auf die Brust gelegt wurde, da dachte ich: Linda.“ – , glaubt Pia seit dem Ereignis in der Schule immer mehr Eigenschaften von Romi in ihm wiederzuerkennen. „Unsere Gesichter sind sich ganz nah. Und da ist wieder dieser Blick, der mich aussperrt. Und mir fällt ein, woher ich ihn kenne. […] Es ist Romis Blick. Ein Blick ohne Ausdruck. […] Ein Blick, als wäre sie über allem erhaben.“ Momentaufnahmen aus der Gegenwart und der Vergangenheit lösen sich ab, bis es gegen Ende des Romans zu einer Eskalation kommt, in der Pia ihrem eigenen blanken Ich begegnet und in einer Katharsis ihr Inneres reinigt. „Wir drei sind eins. Jakob, Luca und ich, wir sitzen vor dem Schrank am Boden und halten uns aneinander fest.“

Jessica Lind hat ein wunderbares, weises Buch über Schmerz, Verlust, Trauer und Selbstbegegnung geschrieben. Nicht ein überflüssiges Wort findet sich in diesem psychologischen Roman über die Macht des Schweigens und die Heilung durch das ausgesprochene Wort. Es ist ein Buch, das ich nicht mehr aus den Händen legen konnte, ein Buch, das nach beendeter Lektüre noch lange nachgehallt hat.

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Veröffentlicht am 24.07.2024

Über das Leben danach

Mein drittes Leben
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„Wenn dein Leben nur im Glück einen Sinn hatte, dann hatte es nie einen Sinn.“

Seit ihre siebzehnjährige Tochter Sonja beim Überqueren einer Straße von einem Lkw erfasst wurde und Linda selbst kurze Zeit ...

„Wenn dein Leben nur im Glück einen Sinn hatte, dann hatte es nie einen Sinn.“

Seit ihre siebzehnjährige Tochter Sonja beim Überqueren einer Straße von einem Lkw erfasst wurde und Linda selbst kurze Zeit später an Krebs erkrankte, zieht sie sich vor der Welt zurück. Ihrem vordem beschaulichen, privilegierten und in jeder Hinsicht erfüllten Leben kehrt sie den Rücken zu, um in einem trostlosen Dorf auf einem Hof mit Hühnern und der Hündin Kaja ein karges Leben voller Entbehrungen zu führen. Nur die Arbeit im Garten lenkt Linda von ihrer Trauer ab und schenkt ihr eine Art Zufriedenheit. „Je einfacher die Arbeit, umso besser. Je erdnaher, umso besser. Je körperlicher, umso besser.“ Nur Natascha, die Musiklehrerin und ihre autistische Tochter Nine sowie ihre Nachbarn Klaus und Bruni lässt Linda zuweilen in ihr Leben hinein. Als die Hündin Kaja stirbt und Linda auch der Hof genommen wird, muss sie sich nach und nach wieder an ein Leben unter Menschen gewöhnen. Schrittweise öffnet sie sich ihrem Ehemann, den sie vorher aus ihrem Leben gestrichen hatte, und weiteren Familienmitgliedern. Als eine erneute Katastrophe hereinbricht, merkt Linda wie stark sie doch ist und dass sie weiterleben und weiterkämpfen möchte.

„Mein drittes Leben“ ist ein Roman, den ich nicht mehr aus den Händen legen konnte. Einmal angefangen, hat er mich sofort gefesselt. Daniela Kriens wunderbaren Schreibstil voller Klarheit habe ich bereits durch den gefeierten Roman „Die Liebe im Ernstfall“ kennen und lieben gelernt. Lindas Alltag mitzuerleben, ihren (ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen) Gedanken zu lauschen, ihren Schmerz zu fühlen und ihren Retrospektiven beizuwohnen, war ein überaus intensives und bewegendes Leseerlebnis. Daniela Krien besitzt die besondere Gabe, Dinge so in Worte zu fassen, dass das Wesentliche erfasst wird: „Vor Sonja bin ich ein eigenständig fühlender, doch unvollendeter Mensch gewesen, ein Individuum ohne Zusammenhang. Ab ihrer Geburt war mein Lebensglück ihrem unterworfen. [...] Wenn ein Kind geht, nimmt es dich mit. Es lässt nicht mehr von dir zurück als eine welke Hülle.“ Virtuos verbindet die Autorin Beschreibungen, die das Innere der Figur widerspiegeln, mit Reflektionen und Retrospektionen. Je mehr Erinnerungen Linda heimsuchen, desto detaillierter wird das Bild der Mutter-Tochter-Beziehung und es treten auch Worte und Entscheidungen zu Tage, die sich Linda selbst schwer verzeihen kann. „All das Unerledigte, Unterlassene, Ungesagte in unserem Leben verschwindet nicht. Es sammelt sich in uns, gärt und brodelt, und manchmal bricht es heraus.“ Linda muss sich ihren Erinnerungen stellen und entscheiden, wohin ihr Weg in Zukunft führen soll. Und so endet der knapp 300 Seiten lange Roman „Mein drittes Leben“ mit einem Ausblick auf eine seelische Heilung und ein Leben ,danach’.

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Veröffentlicht am 08.03.2024

Vom Weggehen und Zurückkommen

Kosakenberg
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„Das Leben in Kosakenberg war wie Marmelade in einem Glas konserviert, ein anderes Jahrhundert.“

Kathleen ist 26 Jahre alt, als sie Kosakenberg endgültig hinter sich lässt. In London wird sie als Grafikerin ...

„Das Leben in Kosakenberg war wie Marmelade in einem Glas konserviert, ein anderes Jahrhundert.“

Kathleen ist 26 Jahre alt, als sie Kosakenberg endgültig hinter sich lässt. In London wird sie als Grafikerin arbeiten und sich dort ein neues Leben aufbauen. Sie ist glücklich, dass sie ihre alte Heimat, ein ehemaliges Dorf der DDR hinter sich lässt. Denn weg möchte eigentlich jeder von den Jungen. „Wir verließen nicht nur unsere Familien, unsere Häuser, unsere Dörfer, sondern auch unsere Vergangenheit. Wir wollte andere werden und in dem Wollen steckte schon die Trauer um den Verlust. Wie gingen weg, um zu suchen, was wir gleichzeitig verloren. Eine Heimat. […] Es hieß, wir gingen wegen der Arbeit, zum Studieren, es hieß, wir gingen aus Abenteuerlust, es hieß, wir gingen, weil der Westen die Zukunft war, aber wir gingen auch, weil wir nicht mehr konnten. Nicht mehr atmen konnten. Vom Dorf in die Stadt, von der Stadt in die Großstadt und dann weiter weg, immer weiter. Weg von den Schmerzen der eigenen Haut. In der Hoffnung, der Gestalt zu entfliehen, die uns aufgezwungen wurde.“ Zehn Heimfahrten soll es für Kathleen geben, seit sie sich ein neues Leben in London aufbaut. Die Anlässe sind verschieden: Um ihren festen Freund der Mutter vorzustellen, um auf der Hochzeit einer Freundin da zu sein oder auch, um auf eine Beerdigung zu gehen. Jede Heimreise wird zu einer schmerzhaften Erfahrung. Denn einerseits sind hier Kathleens Wurzeln, ist hier ihr Elternhaus und ihre Vergangenheit. Andererseits weiß sie mit dem Leben, das die Bewohner Kosakenbergs führen, nichts anzufangen. Es ist ihr vollkommen fremd geworden. „Heimreisen, das hatte ich inzwischen gelernt, waren Manöver durch energetische Felder. Es war, als kreiste man um einen Magnet, der einen entweder anzog oder abstieß.“ Als die Mutter das Elternhaus an Nadine, eine ehemalige Freundin von Kathleen, verkauft, wird Kathleen schmerzhaft bewusst, dass sie eine enge Bindung zu ihrem Heimatdorf verspürt, die sich nicht leugnen lässt. „Ich hatte geglaubt, wenn ich mich lossagen würde, wenn ich das Haus verlassen würde, wenn ich ein Leben fern von dem Haus und jenen, die es bevölkerten, leben würde, wenn ich meine Wurzeln mit aller Macht herausreißen würde, dann könnte ich mich neu erfinden und jemand anderes werden. Nun vermisste ich das Mädchen von früher. Vielleicht ließen sich Wurzeln nie ganz entfernen. Vielleicht schaffte man das bei sich selbst gar nicht.“

Sabine Rennefanz Roman „Kosakenberg“ hat mich tief bewegt. Ich habe noch nie ein Buch gelesen, das so gut in Worte fasst, was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen, sich eine andere Wahlheimat zu suchen und sich zwischen diesen beiden Polen zu bewegen. Es ist ein sehr analytisches und gleichzeitig ein sehr persönliches Buch. Kathleens Geschichte ist individuell und lässt sich trotzdem auf jeden anderen Weggehenden anwenden. Die Wunde, die beim Verlassen der Heimat entsteht, verheilt niemals gänzlich. Die Ich-Erzählerin versucht eine Mauer um ihre Gefühlswelt aufzubauen, damit sie nichts verletzen kann, was in ihrem alten Heimatdorf passiert, gesagt oder getan wird. Doch es gelingt ihr nicht. Kathleen bleibt verletzlich und emotional an dem Geschehen im Dorf beteiligt. Ein immer wiederkehrendes Motiv in dem Roman ist das Motiv des größer werdenden Flecks: Als Kathleens Mutter ihr eine Packung Eier nach London schickt und eins der Eier zerbricht, wird der Fleck auf dem Teppich trotz Kathleens verzweifelter Versuche, den Fleck zu entfernen, immer größer. Auch nachdem Nadine Kathleens ehemaliges Elternhaus kauft und in ein Ferienhaus umwandelt, kehrt irgendwann der nasse Fleck an der Hauswand, der von einem undichten Wasserrohr herrührt, zurück. Der Fleck steht symbolisch für Kathleens Herkunft: Je angestrengter sie versucht, diese zu verbergen, zu negieren, desto stärker tritt sie wieder hervor. Doch das letzte Kapitel des Romans lautet „Wiederkommen“ – ein Versprechen, eine Vorahnung für die letztliche Versöhnung mit der eigenen Herkunft und Vergangenheit?

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