Gibt es gerechte Kriege?
Clara Maria Bagus schreibt so leicht, fast oberflächlich und gleichzeitig erschütternd über den Krieg, dass es mir den Atem verschlagen hat. Zunächst glaubt Lew der Propaganda, belächelt seine Mutter und ...
Clara Maria Bagus schreibt so leicht, fast oberflächlich und gleichzeitig erschütternd über den Krieg, dass es mir den Atem verschlagen hat. Zunächst glaubt Lew der Propaganda, belächelt seine Mutter und erst nach zahlreichen Einsätzen und endlich aufkeimenden Fragen merkt er im Gespräch mit seinem Kopiloten, wofür er sich eigentlich hergibt. Lew wird das auch nicht mehr lange mitmachen, er wird aktiv gefangene Kinder retten und sich in Gefahr im eigenen Land bringen. Denn ein unzurechnungsfähiger und machtgieriger Präsident hat auch genau solche Wasserträger, die blind seinen Befehlen gehorchen. Der Traum vom einstigen Reich, die eingebildete Schmach, das eigene Streben nach immer mehr Macht, und die Motive und Hintergründe für einen ungerechten Angriffskrieg sind da.
Der Gegenspieler von Lew ist Ana, lange Zeit ein richtiges Mauerblümchen. In der Kindheit und Jugend von Mutter und Schwester drangsaliert und unterdrückt, wird ihre achtjährige Beziehung zu Mika auch immer mehr zu einem Gefängnis. Langsam, sehr langsam, findet sie aus dieser seelischen Gefangenschaft heraus, begegnet anderen Menschen, öffnet sich in Gesprächen mit Margret, der Leiterin eines Waisenhauses im Urlaubsort von Ana. Nun blüht Ana auf, arbeitet im Waisenhaus mit und bringt sich da voll ein.
Das Buch zerfällt in zwei Teile, die abwechselnd zu Wort kommen. Lews Teil liest sich mit Spannung, ist brisant, weil wir den Krieg in der Nachbarschaft erkennen und den Aggressor verachten. Die Sprache ist unverblümt, direkt, reißt uns mit. Lews Gedankengänge und Schlussfolgerungen sind direkt nachvollziehbar und einleuchtend. Auch seine schwere Zeit im Gefängnis, die dermaßen an die Ära des KGB und an das berüchtigte Lubjanka erinnert, dass es mir Schauer über den Rücken gejagt hat,.Aber es stehen nicht alle hinter dem psychopathischen Präsidenten. Plötzlich hören Lews Misshandlungen und Schläge auf. Der brutalste und gefährlichste aller Wärter nimmt ihn unter seine Fittiche, weil ein Freund ihn darum bittet. Es ist diese stillschweigende und verborgene, aber selbstverständliche Solidarität, die an den unglaublichsten Stellen in Erscheinung tritt, die uns Hoffnung macht, dass dieses wunderbare Land und seine offenherzigen und ehrlichen Menschen doch noch zu einem zivilisierten und mitfühlenden Leben fähig sind.
Bei den Kapiteln über und mit Ana musste ich schwer arbeiten, um nicht einzuschlafen, um weiterzulesen, ohne direkt zu Lew weiterzublättern. Erst später, als sie aktiv im Waisenhaus mitarbeitet und sie sich um gerettete Kinder kümmert, wurde es wieder interessant. Für meinen Geschmack hat Bagus viel zu viele alte, ausgelutschte Gemeinplätze da verwendet, solche philosophischen Platituden zu Papier gebracht, dass sie kaum tragbar für das Buch sind. Diese Gedanken, die sich um die gleiche Mitte drehen, egal ob Ana oder Margaret, sie äußern, kratzen hart am Oberflächlichen vorbei. Da muss ich leider einen Punkt abziehen. (und an mich vergeben, weil ich trotz Gähnen und nervösen Fingerzucken zum nächsten Kapitel zu blättern, drangeblieben bin). “Wir alle müssen uns auf den Weg machen. Ganz gleich, wie lang er ist und wohin er uns schiebt” (S. 100) oder “Wir leben nur einmal. Wir haben nur dieses eine Leben…” (S. 176) oder: “Sie ist endlich zurück in ihrem eigenen Leben, zu ihren eigenen Bedingungen.” (S 194) “Niedrige Erwartungen zu haben, ist die glücklichere Variante. Dann wird man nicht so oft enttäuscht…. Das Schicksal formt uns, unsere Persönlichkeit, unseren Charakter. Niemand weiß, wie man lebt. Leben ist ein Ausprobieren. Versuch und Irrtum” (S. 197). Unter uns Pastorentöchter gesagt, was ist der genaue Unterschied zwischen Persönlichkeit und Charakter?
Das Buch hat ein versöhnliches Ende. Der Wahnsinnspräsident verliert an allen Fronten und muss seine Niederlage eingestehen. “Sein (des Präsidenten) Gesicht ist verhärtet, grau und müde - wie rissiger Granit -, als er abgeführt wird. Abgeführt von der Bühne einer Welt, die er schlechter gemacht hat, als sie vor seiner Präsidentschaft war” (S. 403)
Aber Ana und Lew finden zueinander. Als Lew nach langen Haft bei Kriegsende endlich aus dem Gefängnis entlassen wird, sind alle 37 von ihm geretteten Kinder - davon einige mittlerweile erwachsen geworden - zur Stelle, um ihn zu begrüßen, ihre Dankbarkeit zu zeigen. Zusammen mit Ana sind sie alle gekommen. Ana und Lew lassen einander nicht mehr los. Zu kostbar ist das Leben um getrennt zu sein.
Das Buch hat ein paar Szenen, die richtig zu Herzen gehen, ohne kitschig zu sein: als 36 Kinder in Fallschirmen über der norddeutschen Halbinsel in Fallschirmen zu Boden gehen und die Menschen aus der Umgebung sofort zu Hilfe eilen, oder die Szene, als Ana bei Lews Prozess auftaucht und sie sich erkennen. Die nächste bewegende Szene ist Lews Entlassung aus der Haft und schließlich die letzte Szene im Buch. Sie ist die logische Schlussfolgerung von Anas und Lews Geschichte.