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Veröffentlicht am 29.07.2024

Die ganze familiäre Tragik einer Essstörung

Mein einziges Zuhause
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Hanna geht für einige Tage von Helsinki nach Paris. Dort hofft sie bei sich anzukommen. Sie möchte über ihre Erinnerungen schreiben, sich den nötigen Raum geben, um ihrer Wahrheit auf den Grund zu gehen ...

Hanna geht für einige Tage von Helsinki nach Paris. Dort hofft sie bei sich anzukommen. Sie möchte über ihre Erinnerungen schreiben, sich den nötigen Raum geben, um ihrer Wahrheit auf den Grund zu gehen und hadert mit der Sicht der anderen.

Wenn jemand sich hier einen wärmeren Blick auf seine Person erhofft hätte, wäre es hilfreich gewesen, sich schon früher darüber Gedanken zu machen. S. 14

Hanna hatte erst kürzlich durch ihren Vater erfahren, dass ihre Mutter sie nicht mag und auch ihre Schwester, zu deren Lebzeiten nicht gemocht hatte. Hanna erinnere die Mutter an deren Schwiegermutter, die viel gelacht habe. Sie erinnere sie an Sexualität, an Leidenschaft, die der Mutter suspekt ist.

Hannas Mutter ist das Urbild von Zurückhaltung und Sittsamkeit. Sie hatte schon sehr früh damit begonnen, Scham und Schande in Hannas Wesen zu pflanzen.

Hannas Vater ist anders, bodenständig. Er folgt seinem Herzen und ist präsent, interessiert. Grenzen kann er keine setzen, das überlässt er der Mutter. Konflikte hält er nicht aus, redet nicht gerne über Gefühle.

Hanna hat mit ihrer Schwester um die Aufmerksamkeit der Eltern konkurriert und am Ende hat die Schwester gewonnen. Das erste Anzeichen ihrer Krankheit war Freudlosigkeit, dann stand sie ständig vor dem Spiegel. Sie füllte ihre Kalorientabelle, buk ihr eigenes Knäckebrot und trieb viel Sport.

Unsere Küche war zum stillen Schauplatz des Kalten Krieges geworden, der nur dann aufflackerte, wenn meine Schwester einen Wutanfall bekam. S. 62

Die Magersucht verlieh ihrer Schwester Macht. Sie konnte alle Familienmitglieder in die Krankheit hineinziehen und niederstrecken.

Fazit: Hanna Brotherus macht sich auf den Weg, das Wurzelgeflecht, das das Leben in sie gepflanzt hat aus sich rauszuschreiben, um sich zurückzugewinnen. Sie seziert schonungslos ihre Familie und die Magersucht der Schwester. Fragt, wie ihnen das passieren konnte. Deckt die ganze Tragik der Anorexia nervosa auf, die Sucht, die Kontrolle und den Selbsthass. Wie sich das Grauen später durch ihre eigene Familie zieht, blickt zutiefst betroffen auf die Verwüstung, die sie mitzuverantworten hat. Damit nimmt sie ihrer Herkunftsfamilie und vor allem der Mutter, das Schreckliche. Am Ende findet sie nicht nur sich, sondern auch ihre Mutter, kann erkennen, wie sie zu dem lieblosen Menschen geworden ist. Versteht, dass die Mutter ihr nichts geben kann, was sie selbst nie erfahren hat. Und am Ende ist es eine Geschichte des Verzeihens und der Selbstliebe. Ich habe selten eine so ehrliche und intime Selbstoffenbarung gelesen. Dieses Buch tut gut.

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Eine Geschichte des Verzeihens

Lass gehen, wen du liebst
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Er schickt ihr aus der Wohnung ihrer Mutter eine Nachricht. Sie liege da und wirke friedlich. Die Wohnung sei verwahrlost. Er könne ihr nicht helfen. Er ist ihr Arzt, der auch ihre Mutter behandelte.

Lisa ...

Er schickt ihr aus der Wohnung ihrer Mutter eine Nachricht. Sie liege da und wirke friedlich. Die Wohnung sei verwahrlost. Er könne ihr nicht helfen. Er ist ihr Arzt, der auch ihre Mutter behandelte.

Lisa Balavoine geht in die Retrospektive:

In der Nacht sind wir uns am nächsten. In der Nacht liebe ich dich am meisten. S. 22

Außer, wenn ein Mann kommt, dann schickst du mich aus deinem Bett in mein Zimmer und ich schmolle, bin wütend, ertrage es nicht, dass du ihm meinen Platz überlässt. Es sind schlaflose Nächte.

Morgens muss alles schnell gehen. Während Maman sich schminkt, sucht Lisa in der Küche nach essbarem, meistens findet sie eine Kleinigkeit. Maman raucht noch eine Zigarette, trinkt einen großen Café au Lait und schon geht Lisa in die Schule. Manchmal merkt sie erst dort, dass sie noch die Schlafanzughose trägt.

Am Abend tanzt Maman, dreht rauchend und trinkend Pirouetten durch die Wohnung und manchmal sitzt sie da und starrt ins Leere. Lisa legt ihren Kopf auf Mamans Beine und höre sie weinen. Wenn sie merkt, dass Maman der Boden unter den Füßen wegrutscht, sie das Gleichgewicht verliert, möchte sie alles dafür tun, dass Maman glücklich ist.

Einmal war Maman abends mit Lisa bei einem Kollegen aus der Klinik. Lisa kennt ihn nicht. Sie schläft auf dem Sofa ein und als sie am Morgen erwacht ist Maman fort.

Fazit: Lisa Balavoine erzählt die Geschichte ihrer Mutter. Sie berichtet von steten Umbrüchen, Abstürzen und Unberechenbarkeit. Von der Liebe, die sie für ihre Mutter empfand, davon, wie sehr sie sie vergöttert hat. Sie bewertet nicht, das überlässt sie mir, schildert einfach nur, wie sie ihr damaliges Leben erlebt hat. Die Alkoholkrankheit führte die Mutter in die Depression. Wie viele Kinder, die in solchen Situationen leben, kompensiert Lisa ihre Co-Abhängigkeit mit angepasstem Verhalten und in ihrem Fall sogar mit guten Schulnoten. Daher fällt niemandem auf, wie es ihr wirklich geht. Die Geschichte schmerzt, die Art der Autorin zu schreiben, die Genauigkeit der Wortwahl macht dieses Buch zu einem, das man nicht mehr aus der Hand legen will. Sie erzählt aus der Ich-Sicht, als würde sie mit ihrer Mutter sprechen, das lässt eine intensive Nähe entstehen. Ich habe den Blick in diese schwierige Mutter-Tochter Beziehung besonders gemocht.

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Veröffentlicht am 23.07.2024

Ganz große Schreibkunst

Aufs Land
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Die Erwachsenen haben Holz und Grünschnitt auf einen Haufen geworfen. Es ist Halloween in Frith, auf dem Stück Land, auf dem sie nahezu autark leben. Die siebenjährigen Amy und Lan halten die Spannung, ...

Die Erwachsenen haben Holz und Grünschnitt auf einen Haufen geworfen. Es ist Halloween in Frith, auf dem Stück Land, auf dem sie nahezu autark leben. Die siebenjährigen Amy und Lan halten die Spannung, bis der Stapel endlich brennt, kaum aus. Sie sind die ältesten Kinder der drei Familien und dann ist da noch Finbar, der jedes Instrument spielen kann und die stille Em, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hat, ja, und die ganzen Tiere.

Amy und Lan rennen nach draußen, hintereinander her. Der nasse Boden vermischt mit Tierdung unter ihren Stiefeln, macht diese Schlatsch-Geräusche. Amy klettert auf den Schober und greift die Axt, die schwerer ist, als sie dachte, wirft sie runter und trifft Lans Schuh. Sein Gesicht wird weiß, dann schreit er. Das Beil ist sauber in den Schuh gefahren, gleich hinter der Schnittkante strahlen seine kleinen weißen Zehen, unversehrt. Amy hat sie nicht getroffen, sie springt vom Schober, greift herzhaft den Stiel und zieht die Klinge aus Lans Schuh.

Als Harriet mit Lan schwanger war, sah sie eine Anzeige in der Lokalpresse: Traditioneller Nutztierhof, Bauernhaus mit fünf Zimmern. Sie brauchte ihren Adam nicht lange zu überreden. Seine Zeit als Schauspieler hatte er hinter sich. Auch ihre beste Freundin Gail und ihr Mann Jim waren sofort begeistert. Jim hatte seinen Architektenjob an den Nagel gehängt und eine Tischlerlehre hinterhergeschoben. Und dann kamen noch Rani und Martin mit hinzu. Sie bauten das Haus und die Ställe aus, bis jede Familie ein Zuhause hatte. Erst dann fingen die Geldsorgen an und die Nickeligkeiten zwischen Amys und Lans Eltern.

Fazit: Wow! Habe ich das gerne gelesen. Sadie Jones hat eine Geschichte über Kindheit und Freundschaft geschrieben, wie ich sie noch nie gelesen habe. Sie widmet jedes Kapitel im Wechsel der Sicht ihrer Protagonist*innen Amy und Lan. Sie zeigt auf ganz und gar sinnliche Art, wie die beiden ihren Alltag erleben, welchen Unsinn sie machen und wie gerecht die Erwachsenen darauf reagieren. Alle Kinder unterschiedlichen Alters leben in diesem Verbund. Die Autorin hat eine so schöne, Welt geschaffen, dass ich voller warmer Gefühle bin. Die Erwachsenen dagegen haben ihre ganz eigenen Befindlichkeiten und Heimlichkeiten, die das ganze schöne Konstrukt zu Fall zu bringen drohen. Das Ende der Geschichte hat mich umgehauen und nachhaltig beschäftigt. Dieses Lenken meiner Gefühle, das ist ganz große Schreibkunst.

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Veröffentlicht am 15.07.2024

Ein Herzensbuch

Mitternachtsschwimmer
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Evan muss für eine Woche weg, raus aus der gemeinsamen Wohnung. Nicht weil er es so will, er entscheidet selten etwas. Lorna, die Mutter seiner Kinder erträgt ihn nicht mehr. Er sieht es ihr an, in den ...

Evan muss für eine Woche weg, raus aus der gemeinsamen Wohnung. Nicht weil er es so will, er entscheidet selten etwas. Lorna, die Mutter seiner Kinder erträgt ihn nicht mehr. Er sieht es ihr an, in den seltenen Momenten, in denen er seine Stimme an sie richtet, so wie jetzt: „Du willst, dass ich gehe? Für wie lange? Wohin?“

Lorna kneift die Augen zusammen, sieht ihn nicht an, ihre Backenzähne mahlen. Sie atmet hörbar aus. Es ist ihr egal, sie braucht einfach eine Auszeit, trägt Evan nicht mehr mit, der sich schwerste Vorwürfe macht, weil seine kleine Tochter an seiner schlafenden Schulter erstickt ist.

Er fährt an die Küste, für eine Woche denkt er. Mietet sich in Grace Cottage ein, eine derbe, ältere, großgewachsene Frau mit eigenwilligem Kleidungsstil, die meistens in Begleitung eines räudigen Köters ist.

Die ersten Tage schläft Evan nur, liegt auf der Couch in dem düsteren kleinen Steinhaus, das nach Erde riecht und hört der Flut zu. Zuerst antwortet Lorna nicht auf seine unzähligen Mails und als sie sich doch äußert, ist Evan so überfordert, dass er das alte Kajak von Grace nimmt und entmutigt und ahnungslos in die Dunkelheit fährt, einzig von Grace beobachtet.

Fazit: Diese Geschichte von Roisin Maguire ist genau nach meinem Geschmack. Der Erzählstil ist leicht, schnörkellos und direkt. Die Protagonistin so schön eigenwillig, wie ich selbst immer schon sein wollte. Sie ist raubeinig und schert sich nicht um Konventionen. Die Szenen sind wundervoll gezeichnet. Fast jeder Satz schafft Bilder und lässt mich eintauchen ins Meer, in Grace, Evan und in die schroffe Küstenlandschaft. Menschen und Umgebung gestaltet durch Jahrhunderte durchrüttelnde Gezeiten. Die Autorin hat mich das Meer schmecken und den Tang riechen lassen, mich vor Kälte mit den Zähnen klappern und das prickelnde Nass auf meiner Haut spüren lassen. Ich habe Liebe erlebt und tiefe Zuneigung empfunden. Eine durch und durch gelungene Aufführung, mit zartem Gespür für die Herausforderungen des Lebens, voller hoffnungsfroher Resilienz. Absolute Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 12.07.2024

Gelungenes Zeitzeugnis

Von Norden rollt ein Donner
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Der junge Jannes folgt der Familientradition und hütet in der kargen Weite der Lüneburger Heide Heidschnucken und Ziegen. Ganz in der Nähe des elterlichen Hofs rollt von Norden ein Donner her. Denn Rheinmetall ...

Der junge Jannes folgt der Familientradition und hütet in der kargen Weite der Lüneburger Heide Heidschnucken und Ziegen. Ganz in der Nähe des elterlichen Hofs rollt von Norden ein Donner her. Denn Rheinmetall testet auf dem Fabrikgelände ganz in der Nähe Panzermunition und dann wird die Luft vom Grollen und Knallen durchzogen.

Draußen an den Pferchen entdeckt Jannes Spuren, ganz ähnlich seiner zwei Collies, nur tiefer und älter und ist verunsichert. An diesem Tag zieht sich der Himmel zu, verdichtet sich. Einige Schafe brechen aus. Die Hunde formieren sich, hängen sich leicht hinter sie und treiben sie Richtung Traube.

Vor drei Wochen erst wurde bei den Steinbecks der Riss eines Kalbes entdeckt. Jannes sieht die schlecht fotografierten Tatbilder vor sich und fröstelt.

Der Vater war beim Arzt, nun soll er zum Neurologen, weil ihm manchmal die Worte fehlen. Genauso war es bei Jannes Großmutter, erinnert sich der Großvater. Jannes leiblicher Vater existiert nur noch in den Fotoalben, tief vergraben im Schrank. Manni ist in Bosnien gefallen. Das nimmt Jannes ihm übel, weil er diesen Weg gewählt hat, statt bei der Familie zu sein. Seine Schwester Janine hat Mannis Namen Naumann nie abgelegt, auch nicht als sie geheiratet hat. Mit Jannes Stiefvater Friedrich hat sie immer gestritten. Sie ist nach Frankfurt zum Studieren und hat es sich mit der familiären Unterstützung gut gehen lassen.

Seine beiden Schulkollegen Fynn und Phillip sieht er nur selten. Meistens antwortet er nicht auf ihre Einladungen bei WhatsApp. Jannes bevorzugt die Stille draußen, mit der Herde, das gibt ihm Sicherheit, zumindest bis vor Kurzem, bis diese Erscheinung auftauchte, die Alte mit den zerfetzten Kleidern, sprachlos und still streckt sie ihren Arm aus und zeigt auf ihn, vorwurfsvoll. Ihm graut vor den Begegnungen mit ihr. Friedrich mit seiner Vergesslichkeit setzt ihm ebenfalls zu, da bleibt einfach vieles an ihm hängen, er übernimmt, gleicht aus, versucht Schaden zu begrenzen. Und der Großvater, der alte sture Bock hat immer die Flinte im Anschlag.

Fazit: Die Erzählung wirkt autofiktional und hat es thematisch in sich. Es ist ein Stück Zeitgeschichte in Prosa, die Vergangenes aufzuarbeiten versucht. Der Autor lässt den Waffenfabrikanten, der schon fürs Dritte Reich gearbeitet hat, neben Bergen-Belsen einfließen. Die alten patriotischen Feindlichkeiten gegen alles Fremde von damals, werden heuer gegen ein Wolfsrudel geführt, von dem niemand wirklich sicher ist, dass es existiert. Der Sprachrhythmus ist fließend, die Wortwahl sinnlich. Markus Thielemann hat es geschafft, mich mit seinem Protagonisten in die Heide zu führen, mir Gerüche, Bilder und Geräusche in den Kopf gezaubert. Mit Jannes hat er einen feinsinnigen Charakter gezeichnet, der so unsicher ist, dass er sozialen Kontakten die Einsamkeit vorzieht. Der zunehmende Druck, der auf ihm lastet, lässt ihn maulfaul und griesgrämig erscheinen. Jannes Leben spielt sich in seinen zahlreichen Gedanken und Sorgen ab. Zuerst hat mich der mystische Einschlag befremdet, später fand ich es als Stilmittel zum Aufzeigen einer Epigenetik (Die Schuld unserer Großeltern ist in unsere DNA eingeschrieben) fast kunstvoll. Mir hat diese gelungene Aufarbeitung gut gefallen.

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